Nicht als Wissende ernstgenommen
Ein sperriger Titel, aber eine weitreichende These. Das Buch handelt von der Idee, dass es eine besondere Art von Ungerechtigkeit gibt, die uns spezifisch als Erkennende und Wissende betrifft. Die Philosophin Miranda Fricker nennt dies epistemische Ungerechtigkeit. Die Benachteiligung im Zugang zu Wissen und Erkenntnisressourcen ist demnach keine abhängige Variable bestehender Benachteiligung, sondern eine eigene, systematische Kategorie von Ungerechtigkeit. Ihr wegweisendes Buch liegt nun endlich in deutscher Übersetzung vor.
Ein älterer Herr erklärt auf einer Party einer Frau ausführlich ein Buch, das er offensichtlich nicht selbst gelesen hat. Als er erkennt, dass sein Gegenüber die Autorin eben dieses Buchs ist, erblasst er kurz - um dann aber unbeirrt in seinem Vortrag fortzufahren. Diese von der Schriftstellerin Rebecca Solnit berichtete Geschichte ist ein krasser Fall eines verbreiteten Phänomens: männliche Dominanz in Wissensfragen. Er spricht, sie hört zu, hat zuzuhören. Es ist Alltag, dass Frauen nicht wahrgenommen werden, nicht zu Wort kommen und nicht ernstgenommen werden - oder erst dann, wenn ein Mann einem von ihnen gemachten Vorschlag zustimmt. Ein ähnliches Muster findet sich, wenn Personen mit Migrationsgeschichte oder Opfer sexueller Gewalt herabwürdigend behandelt, nicht gehört oder nicht für glaubwürdig genommen werden.
Oft, zu oft, wurden Vorfälle dieser Art als Einzelfälle oder krasse Ausnahmen abgetan oder allenfalls als Folge bestehender Diskriminierung wahrgenommen. Es fehlte ein systematischer Interpretationsrahmen, um diese diskriminierenden Denkmuster einzuordnen. Diesen liefert die Philosophin Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Ihr Buch "befasst sich mit der Idee, dass es eine besondere Art von Ungerechtigkeit gibt, die uns spezifisch als Erkennende und Wissende betrifft." Das bereits 2007 bei Oxford University Press erschienene Buch liegt nun in einer deutschen Ausgabe vor.
Zwei Formen epistemischer Ungerechtigkeit
Fricker unterscheidet dabei zwei Formen: Zeugnisungerechtigkeit und hermeneutische Ungerechtigkeit. Mit ihrem Konzept der Zeugnisungerechtigkeit beschreibt die Philosophin "die grundlegende Verletzung, nicht als vertrauenswürdige Quelle von Informationen wahrgenommen zu werden, obwohl man eigentlich eine ist und auch als solche erkennbar wäre", erklären Christine Bratu und Aline Dammel in ihrer Einführung zum Buch. Verkürzt lasse sich Zeugnisungerechtigkeit als "Glaubwürdigkeitsdefizit aufgrund von Identitätsvorurteilen definieren", schreibt Fricker. Systematisch ist diese Ungerechtigkeit, "wenn die falsche Zuschreibung von Unglaubwürdigkeit auf weit verbreiteten Vorurteilen gegenüber der sozialen Gruppe basiert, der die betroffene Person angehört", so nochmals die Autorinnen der Einführung.
Als zentrales Beispiel für hermeneutische Ungerechtigkeit nennt Fricker den Fall einer Frau, die sexuell belästigt wird, "doch die Gesellschaft, in der sie lebt, verfügt noch nicht über diesen grundlegenden Begriff. So kann sie ihre Erfahrung für sich selbst nicht richtig begreifen, geschweige denn anderen angemessen vermitteln". Hermeneutische Ungerechtigkeit betrifft somit die epistemischen Ressourcen, die intellektuellen Werkzeuge also, mit deren Hilfe wir uns die Welt erschließen. Beiden Formen gemeinsam ist der Zusammenhang von Wissen und Menschenwürde: "Jegliches epistemische Unrecht verletzt jemanden in seiner Eigenschaft als Wissenssubjekt und damit in einer Eigenschaft, die für den Wert eines Menschen wesentlich ist."
Eine grundlegende Erweiterung unseres Blickfeldes
Vorurteile zu erkennen und epistemische Ungerechtigkeit zu vermeiden, erfordere eine kontextsensible Urteilsfähigkeit, eine Tugend, so Miranda Fricker. Entsprechend den beiden epistemischen Ungerechtigkeiten führt sie zwei Tugenden ein: Zeugnisgerechtigkeit und hermeneutische Gerechtigkeit. "Beide Tugenden … schützen vor diversen Identitätsvorurteilen und sind deshalb vor allem Tugenden des reflexiven sozialen Bewusstseins". Sie erfordern eine Form von "reflexiver Sensibilität". Wie das aussehen könnte, zeigt ein knapper Vorschlag, den die Philosophin Louise Antony ins Spiel gebracht hat und auf den sich die Autorin bezieht: Wenn eine Person aus einer mit Vorurteilen belegten Gruppe etwas Seltsames sagt, sollten Zuhörende grundsätzlich davon ausgehen - gewissermaßen als eine Art Arbeitshypothese -, dass es an ihnen liegt, wenn sie nichts verstehen. Und nicht an der Person, von der die Aussage stammt. Ein Vorschlag, der sich auch in anderen Kontexten, vielleicht sogar als generelle Regel, als durchaus wertvoll erweisen könnte.
Im Kontext der Diskriminierungen aber, um die es Fricker geht, braucht es mehr als ein tugendhaftes Verhalten von Einzelpersonen: Gefragt ist eine Veränderung der ungleichen Machtverhältnisse. "Es braucht gemeinschaftliches, politisches Handeln, um gesellschaftlichen Wandel zu bewirken", schreibt Miranda Fricker, der mit ihrem Buch eine ganz grundlegende Erweiterung unseres Blickfeldes gelungen ist: Unsere Eigenschaft als Wissenssubjekt ist ganz wesentlich für Wert und Würde des Menschen. Die Verletzung seiner Integrität als Wissenssubjekt ist nicht bloß Nebenfolge bestehender anderer Formen von Diskriminierung, sondern eine eigene, systematische Kategorie von Ungerechtigkeit. Ein wegweisendes Buch - und eine folgenreiche Erweiterung der Perspektive.
Zitate
"Jegliches epistemische Unrecht verletzt jemanden in seiner Eigenschaft als Wissenssubjekt und damit in einer Eigenschaft, die für den Wert eines Menschen wesentlich ist." Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit
changeX 17.11.2023. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens. Mit einer Einführung von Christine Bratu und Aline Dammel, aus dem Englischen von Antje Korsmeier. Verlag C.H.Beck, München 2023, 278 Seiten, 34 Euro (D), ISBN 978-3-406-79892-4
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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