Ich, hier, jetzt, unverwechselbar
Narzissmus ist zu einer gesellschaftlichen Forderung geworden. Zu einer sozialen Form. Zwang wird ersetzt durch subjektiven Antrieb. Jedes Subjekt wird sich selbst zum Maßstab, Selbstsorge zur heutigen Form, in der Gesellschaft zu leben. Die These dieses Buches. Eine These mit Sprengkraft. Denn damit erhielte ein antigesellschaftliches Prinzip gesellschaftsbildende, gesellschaftsbestimmende Kraft. Eine Sackgasse.
Individualisierung, Subjektivierung, Singularisierung sind Begriffe, die die wachsende Bedeutung des Einzelnen in modernen Gesellschaften zu beschreiben versuchen. Früher bedeutete das Individuum nichts, heute alles. Eine Entwicklung, die offenbar noch nicht an ihr Ende gekommen ist. Aber was treibt und wohin führt sie? Und was bedeutet die veränderte Rolle des Individuums für die Gesellschaft? Isolde Charim wählt als Ausgangspunkt eine subjektive Perspektive, "ein altes Erstaunen". Sie fragt: "Warum sind wir mit dem Bestehenden einverstanden?" Warum fügen wir uns - freiwillig? Ihre Antwort: "Narzissmus ist die Art, wie wir uns heute freiwillig unterwerfen." Narzissmus ist nicht Egoismus, bedeutet nicht Eigenliebe, nicht aggressive Durchsetzung der eigenen Interessen. Narzissmus meint die Orientierung an und das Streben nach einem idealen Ich: "Narzissmus bedeutet freiwillige Unterwerfung unters Ich-Ideal. (...) Freiwillige Unterwerfung unter das Bild von ‚sich‘, mit dem man nicht übereinstimmt. Welches man aber zu verwirklichen sucht."
Die Autorin fasst Narzissmus jedoch nicht als psychisches, als individuelles, sondern "als gesellschaftsbildendes, gesellschaftsbestimmendes Moment". Genau darin liegt die Sprengkraft ihres Buches: in der These, dass Narzissmus zu einer gesellschaftlichen Forderung, zu einer sozialen Form geworden ist. Zwang wird ersetzt durch subjektiven Antrieb.
Ein gesellschaftlicher Narzissmus
Jeder Mensch wird sich selbst zum Maßstab - genauer: das, was sie oder er sein könnte, das ideale Ich. Nicht austauschbar, nicht vergleichbar, einzigartig zu sein, ist das Streben. Dieser neue Modus ersetze das Konkurrenzprinzip, so Charim: "Einzigartigkeit, Eigenwert bedeutet die Überschreibung der Konkurrenzverhältnisse durch Narzissmus." Anders gesagt, habe der Wettbewerb selbst sich verändert: "Es ist ein gesellschaftlicher Narzissmus, der uns gegeneinander in Stellung bringt." Narzissmus sei zur vorherrschenden Ideologie geworden, ein antigesellschaftliches Prinzip, eine unmittelbare Selbstgewissheit, die alles auf sich bezieht, bei der man sich immer gemeint fühlt: Ich. Hier. Jetzt. Unverwechselbar.
Etwas weiter ausgeholt.
Isolde Charim führt auf beeindruckende Art und Weise viele der theoretischen Fäden der Subjektivierung zusammen und hat das Puzzleteil Narzissmus ergänzt - was folgt, ist fast schon ein Big Bang. Die Eingangsfrage "Warum willigen wir freiwillig in Verhältnisse ein, die uns allzu oft auch einschnüren, beengen und unfrei fühlen lassen - warum unterwerfen wir uns freiwillig?" verliert nie an Aktualität und wurde aus Philosophie und Soziologie in der Vergangenheit oft anhand von Theorieansätzen erklärt, die auf Neoliberalismus fokussieren. Die Arbeiten von Michel Foucault, die darauf aufbauende Gouvernementalitätsforschung, Andreas Reckwitz und die These der Singularisierung sind nur einige dieser Beispiele. Charim wählt einen anderen Zugang und grenzt sich dabei logisch bestechend - und sehr sympathisch durchgeführt - von den bisherigen Analyseschablonen ab, beziehungsweise entscheidet sich, um es mit ihren Worten zu sagen, immer nur ein Stück des Wegs dieser Theorieentwürfe mitzugehen. Sie erklärt eingehend, warum in diesen Ansätzen Trugschlüsse inhärent verarbeitet sind - sind also Reckwitz und Co. tatsächlich einer Ideologie, die sich als Realitätsordnung tarnt, auf den Leim gegangen?
Folgt man Charims Argumentation, dann muss das wohl bejaht werden - allerdings nur eingeschränkt. Wie andere identifiziert auch sie die Sorge um sich selbst als ethisches Projekt unserer Zeit; mit all den Konsequenzen, die sich neoliberal interpretieren lassen könnten. Allerdings identifiziert sie einen anderen Antrieb dazu, nämlich den sekundären Narzissmus, der seinen Kern in Freuds Theorien hat. Damit führt sie ein genuin psychisches Element ein, nämlich den Bereich des Imaginären - der inneren Selbstverhältnisse - gegenüber dem Bereich des Realen - den äußerlichen Verhältnissen. Wie so oft sind es solche Gegensätze und teils gegenläufigen Dynamiken, die unsere Gesellschaft zugleich stabilisieren und destabilisieren. Allerdings identifiziert Charim den Narzissmus, wie oben schon angedeutet, als gesellschaftliches und eben nicht psychisches Element, welches unsere Welt, wie sie heute ist, prägt: Narzissmus "als gesellschaftsbildendes, gesellschaftsbestimmendes Moment".
Vom Über-Ich zum Ich-Ideal
Der Narzissmus im Imaginären lässt uns nach dem Ich-Ideal streben - diesem vergessenen Gefühl des primären Narzissmus, dem mit der Welt verbundenen ozeanischen Sein als Kleinkind. Dem gegenüber steht das Über-Ich, welches mit seinen gesellschaftlich geprägten Normen von außen subjektivierend wirkt. Demnach ist der Narzissmus das imaginäre Gegenprinzip zur Realität des Äußeren. So weit das Ursprungskonzept.
Charim argumentiert nun, dass es eine Verlagerung vom Über-Ich hin zum Ich-Ideal gegeben hat: vom Über-Ich mit seinen Normen, verbunden mit Schuld bei deren Nichtbefolgen in den realen Verhältnissen - also zwingend - hin zum Ich-Ideal mit flexiblen, selbst aufgestellten Regeln und Minderwertigkeitsgefühlen bei Nichtanpassung - also exaltierend. Charim: "Das strenge Über-Ich ist ein Regime, wo sich ein Triumphgefühl nur dann einstellt, wenn man die strikten Vorgaben übertritt, wenn also die strafende Instanz kurz außer Kraft gesetzt wird. Das Ich-Ideal hingegen ist eine Instanz, wo das Triumphgefühl in der - vermeintlichen oder partiellen - Erfüllung der Vorgaben liegt. Und Erfolg ist die Erfahrung, die uns dieses Erfüllen zu bestätigen scheint."
Dadurch sollen sich die Paradoxa, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt an sich immer schon charakterisiert haben, allerdings verschärfen. Denn das Über-Ich ist erreichbarer und besser zu valorisieren als diese abstrakte Idee vom eigenen Ideal, welches im sekundären Stadium sowohl individuell wie auch sozial geprägt ist - somit hat die Gesellschaft als äußerliches Verhältnis Eintritt in das gesellschaftliche Gegenprinzip erhalten.
Praktiken der Selbstformung
Das bedeutet, "dass Narzissmus zu einer gesellschaftlichen Forderung geworden ist", zu einer sozialen Form. Charim beschreibt diese Forderung als einen Ruf, der das Individuum erreicht - nicht nur als Anrufung, sondern mittels zahlreicher Praktiken: Praktiken der Selbstformung, die Michel Foucault als "Technologien des Selbst" beschrieben hat, Praktiken, mit deren Hilfe der Einzelne an sich arbeitet mit dem Ziel, sich zu verändern - von Fitnessprogrammen über Diätmodelle bis hin zu den ganzen Trainings, Workshops, Coachings, Therapien, die längst ein eigenes Geschäftsfeld bilden, eine Industrie der Selbstzuwendung. Diese Praktiken sind für Charim zentral, und sie versteht sie als narzisstische Praktiken. Sie alle beruhten auf dem Glauben an die schöpferischen Potenziale des Einzelnen, dem Glauben an die eigene Besonderheit. "Dem Glauben ans Ich - nicht an das Ich, das ich bin, sondern das Ich, das ich sein werde. Das ich werden kann." Diese Praktiken eint der instrumentelle Ansatz, der Glaube also, "Selbststeigerung sei technisch herzustellen". Begriffe wie Selbstmanagement und Selbstoptimierung (die Charim nicht verwendet) unterstreichen diesen instrumentellen Ansatz und zeigen dessen Nähe zu einer tayloristisch geprägten "wissenschaftlichen Betriebsführung", hier nur in Anwendung auf das Individuum.
Entscheidend aber ist, dass das Ziel der Nutzenmaximierung alleine nicht ausreicht, um freiwillige Gefolgschaft zu sichern. Die rein ökonomische Logik, nach der jeder Unternehmer seiner selbst ist, reicht nicht hin. "Es braucht das unbedingte ‚Ich will‘ des Selbstantriebs". Es bedarf der Anrufung des Narzissten. Der Ansprache auf der imaginären Ebene.
Unsere Subjektivierung wird damit zu einer unendlichen, asymptotischen Annäherung an unser Ich-Ideal, ohne es je erreichen zu können. Diese Dynamik wirkt als hocheffizienter gesellschaftlicher Antriebsstoff, als Benzin für die gesellschaftliche Maschine, wie das Streben nach Wachstum und Fortschritt zeigen. Zugleich erzeugt sie aber auch das, was Charim "die Qualen des Narzissmus" nennt. Denn in dem Bemühen, dem Ich-Ideal näherzukommen, liegt immer das Versprechen, das vielleicht eines Tages auch zu schaffen. Das ist jedoch genuin unmöglich.
In eine Sackgasse gerannt
So sind wir zur Besonderung genötigt und begehren sie selbst, müssen Gruppen und Eigenwerte besser abgrenzen, ihnen Werte zumessen und uns so von anderen abheben. Nicht nur die Diversifizierung und Partikularisierung der Gesellschaft bringt Charim damit in Verbindung, sondern vor allem auch den Kampf um Anerkennung dieser Besonderheit, sei es in Form von Political Correctness, in Form von Sprache, Kleidung oder Geschlecht. Dünnes Eis, mag man hier denken, denn immerhin geht es bei der Diversifizierung von Identitätsangeboten auch um vermeintliche Errungenschaften der letzten Jahrzehnte. Aber auch so kann das gelesen werden, ob das einem bei der Selbstreflexion nun schmeckt oder nicht.
Was aber bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn die gefühlte Identität zur letzten Wahrheit wird? Wenn die Anerkennung, der die Selbstsetzung immer noch bedarf, zum bloßen Echo gerät? So kann Isolde Charim am Ende weder eine Befreiung vom Narzissmus noch sein Scheitern an den eigenen Widersprüchen als Aussicht anbieten.
Isolde Charim liefert ein Buch, das es schafft, komplexe theoretische Zusammenhänge der letzten gut hundert Jahre zusammenzuführen und Konzepte wie das der Subjektivierung so verständlich zu erklären, wie es selten zu finden ist. Eine höchst spannende Analyse, die manch anerkannte Idee der Gesellschaft ins Wanken bringt, dem Subjekt wieder einen eigenen, psychischen Kern gibt und es somit wieder als mehr als nur ein Produkt der Gesellschaft begreift. Zugleich aber ein erschreckender Ausblick: Denn stimmt die Analyse, so sind wir mit dem Narzissmus als antigesellschaftlichem Gegenprinzip am Ende wirklich in eine Sackgasse gerannt.
Zitate
"So bleibt uns nur die Feststellung: Die Ideologie des Narzissmus ist eine Sackgasse." Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus
"Narzissmus ist ... die versteckte Dimension des Neoliberalismus." Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus
"Narzissmus ist die Art, wie wir uns heute freiwillig unterwerfen." Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus
"Narzissmus bedeutet freiwillige Unterwerfung unters Ich-Ideal. (...) Freiwillige Unterwerfung unter das Bild von ‚sich‘, mit dem man nicht übereinstimmt. Welches man aber zu verwirklichen sucht." Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus
"Man kann dieser freiwilligen Unterwerfung kaum entrinnen." Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus
"Selbsttechniken dienen immer dazu, die eigenen Kräfte zu steigern, sich zu verbessern, zu optimieren." Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus
"Die Selbstsorge ist unsere heutige Form, in der Gesellschaft zu leben." Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus
Es ist ein gesellschaftlicher Narzissmus, der uns gegeneinander in Stellung bringt." Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus
changeX 16.12.2022. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus. Über freiwillige Unterwerfung. Zsolnay Verlag, Wien 2022, 224 Seiten, 4 Euro (D), ISBN 978-3-552-07309-8
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Autorin
Dhenya SchwarzDhenya Schwarz studierte Politikwissenschaften und Soziologie mit Fokus auf das Wandlungspotenzial digitaler Technologien für Gesellschaft und Individuum. Seit 2018 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Technik- und Organisationssoziologie der RWTH Aachen University. Sie engagiert sich als Boardmitglied des Netzwerks für Zukunftsforschung, in der Redaktion der Zeitschrift für Zukunftsforschung sowie als Rezensentin für das pro-zukunft-Buchmagazin der Robert-Jungk-Bibliothek in Salzburg.