Komplex anders
Fällt ein Kind durch störendes Verhalten auf, lautet die Diagnose schnell ADHS, und die Therapie setzt auf Medikamente. Ein Arzt begreift die Störenfriede hingegen als besonders wahrnehmungsstarke und handlungsbereite Kinder - und plädiert für eine ganzheitliche Perspektive und Lösungen jenseits der Pharmazeutik.
Zappelphilipp, Hans Guckindieluft - dass manche Kinder hyperaktiv, andere aufmerksamkeitsschwach sind, ist altbekannt. Die Frage ist: Handelt es sich bei dem - neutral formuliert - von der Norm abweichenden Verhalten einiger Kinder und Jugendlicher um ein lediglich unerwünschtes, wie es der Frankfurter Nervenarzt Heinrich Hoffmann in seinem Kinderbuch Struwwelpeter mit diesen beiden Charakteren vorführte? Oder um pathologische Störungen, wie sie heute ADHS und ADS abgekürzt werden: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder Aufmerksamkeitsdefizitstörung?
Die Tatsache, dass diese Diagnosen immer öfter gestellt und die Auffälligkeiten fast genauso oft medikamentös aus der Welt geschafft werden, legt den Pathologieverdacht nahe. Dieser steht allerdings auf wackligen Füßen, wenn man zugleich ins Auge fasst, dass die Diagnose wohl zu 70 Prozent von Laien gestellt wird - wie eine amerikanische Studie an 9.000 ADHS-Kindern ergab. Hinzu kommt: Grundsätzlich kann solch abweichendes Verhalten auf ein subjektives Problem der Kinder oder Jugendlichen, aber auch auf ein objektives des menschlichen Umfeldes hinweisen, das dieses Verhalten als störend erlebt. Dennoch bleibt Fakt, dass dieses Verhalten immer häufiger durch die Gabe von Ritalin wieder eingerenkt wird.
Um Lösungswissen bemühen
Doch diese Art Therapie wirkt zum einen nur an der Oberfläche und verliert zum anderen das störende beziehungsweise gestörte Kind aus dem Blick, das in seinem Verhalten vielleicht einfach nur anders ist, wie Helmut Bonney, Arzt für Kinderheilkunde sowie für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, in seinem neuen Buch schreibt. Der Titel: ADHS - na und? Für Bonney zählt ein anderer Blick auf das Problem: Für ihn sind die entsprechend diagnostizierten Kinder schlicht besonders wahrnehmungsstark und handlungsbereit. Vom heilsamen Umgang mit handlungsbereiten und wahrnehmungsstarken Kindern lautet demnach der Untertitel. Daraus ergibt sich ein alternativer Ansatz der Behandlung, der leider oft untergeht. So schreibt Bonney, dass es unüblich geworden sei, "genauer hinzusehen und mit weiter gestelltem Blick zu prüfen, wie sich diese Verhaltensauffälligkeiten entwickelt haben und welche Lösungswege sich eröffnen, wenn man die Stärken der Kinder erkennt und die hilfreichen Wirkungsmöglichkeiten ihres sozialen Umfelds berücksichtigt, das heißt: wenn man sich um Lösungswissen bemüht".
Zunächst gilt: "Kein Kind wird mit AD(H)S geboren." Die Entwicklung seines Gehirns folgt dem genetisch verankerten Entwicklungsprogramm und der Summe seiner Erfahrungen. Beides beeinflusst die Ausprägung der kindlichen Verhaltensmuster. Damit geraten die Reize und Anreize in den Blick, die auf ein Kind einwirken, die Stimulation. Die Forschung scheint zu belegen, dass die Intensität der erfahrenen Stimulation ein AD(H)S-Verhalten begünstigt. Demnach betrachtet Bonney es als hilfreich, die Bindungssicherheit zwischen Eltern und Kind zu stärken und gleichzeitig die Stimulationsintensität zu vermindern.
Vom Störenfried zum Störfeld
Wahrnehmungsintensive Kinder hätten nicht die Möglichkeit, ihre "‚Poren‘ zu schließen. Alles geht sie an. Sie verlangen, alles mitzubekommen, und überfordern sich dabei." Sie geraten in Unruhe, wenn sie die Summe der Eindrücke überflutet. Zwar ist die Gabe von Medikamenten in diesen Fällen recht wirkungsvoll, doch sobald sie abgesetzt werden, erscheint das Problem wieder auf der Bildfläche. Bonney geht es bei seinem Ansatz darum, dass diese Kinder "Selbstwirksamkeit" erfahren, indem sie Bewältigungsstrategien erlernen, anstürmende Gefühle zu bändigen.
Die Lösungsperspektive, die der Autor einnimmt, ist eine ganzheitliche: So sollte der Wahrnehmungsintensität der AD(H)S-Kinder zum einen eine geordnete Strukturierung ihrer Umgebung gegenüberstehen - ein übersichtliches Kinderzimmer sowie aufgeräumter Platz zur Erledigung ihrer Schularbeiten; zum anderen spielen die Eltern eine entscheidende Rolle in der Familiendynamik und beeinflussen das Kind. Bonney nimmt die Familie, in der das Kind aufwächst, ins Blickfeld und dreht den Spieß um: "Die therapeutische Erfahrung mit wahrnehmungsintensiven und handlungsbereiten Kindern veranlasst dazu, von ‚AD(H)S-Konstellationen‘ zu sprechen, statt - wie das der medizinische Blick auf das Gehirn und seinen Stoffwechsel fordert - den Ort der Störung in das irritierte Kind zu verlegen, auch wenn die üblichen Arzneien (Stimulanzien) an der Verhaltensoberfläche wirksam sind." Der Störenfried wird also in seinem Störfeld lokalisiert. Mit einer gesunden Bindung zu Mutter und Vater ist schon viel getan. Fehlt diese nämlich, laufe das einer Entwicklung von Impulskontrolle und überlegter Handlungsplanung zuwider: "Eine AD(H)S-Problematik tritt zutage."
Keine einzige Ursache
Therapeutisch eröffnet sich vor diesem Hintergrund eine Vielfalt: Einzelarbeit mit dem Kind, das Einbeziehen der Familie und auch Zusammenarbeit mit der Schule. Eltern, Pädagogen, Therapeuten sollte das Buch aufhorchen lassen, das betroffene Kind aus der Sündenbockecke zu entlassen.
Es ist alles mal wieder komplexer als gedacht. Körperliche Voraussetzungen und Einflüsse der psychosozialen Umgebung greifen ineinander: "Die Bezeichnung ‚ADHS-Konstellation‘ drückt aus, dass es sich bei dem Problem nicht um eine Eigenschaft des Kindes, sondern um ein spezifisches Miteinander zwischen dem Kind und seiner Umgebung handelt." Damit hätte die einfache Erklärung, die Suche nach einer Ursache ausgedient.
Bonneys Buch ist ein befreiendes Plädoyer, das mittlerweile allseits akzeptierte Störungsbild aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten - einem Blickwinkel, der dem gestörten Kind eher gerecht wird und allen Betroffenen in Form von Erklärungen, Fallbeispielen und Anregungen Handlungswissen an die Hand gibt, fernab von Medikamenten gemeinsam den Weg zur Heilung zu beschreiten.
changeX 29.06.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch auf der Verlagsseite:http://www.carl-auer.de/programm/978-3-89670-834-2
Zum Buch
Helmut Bonney: ADHS - na und?. Vom heilsamen Umgang mit handlungsbereiten und wahrnehmungsstarken Kindern. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2012, 139 Seiten, 16.95 Euro, ISBN 978-3-89670-834-2
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Autor
Sascha HellmannSascha Hellmann ist freier Journalist in Heidelberg. Er arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.