Regeln gegenseitigen Verstehens
"Die Entdeckung eines Fehlers kann uns nur nützlich sein" - der Schluss eines kurzen, nur zwölf Sätze langen Textes, der eine neue Kultur des Lernens begründet, die auf gegenseitigem Wohlwollen, der Bereitschaft zum Zuhören und Ausredenlassen und wechselseitigem Verstehenwollen basiert. Und deren Grundlage die Einsicht ist, dass man sich irren kann. Jede und jeder.
Der Mensch kann irren. Die Wissenschaft kann irren. Es bleibt nur, mittels Versuch und Irrtum voranzukommen. Die Möglichkeit des Irrtums ist das Grundmotiv im Denken des österreichisch-britischen Philosophen Karl Raimund Popper (1902-1994). Zum einen in seiner Wissenschaftstheorie, wo er den Wahrheitsanspruch der Wissenschaft vom Sockel stieß und die Widerlegbarkeit zur Grundlage der Wissenschaft erklärte - und damit die Logik der Forschung umkehrte: Eine Theorie ist demnach nur dann wissenschaftlich, wenn sie überprüfbar ist. Zum anderen in seiner Konzeption der offenen Gesellschaft, die sich - statt zentral geplant - in einem fortwährenden Prozess von Verbesserungsversuchen und der Korrektur von Irrtümern schrittweise fortentwickelt. Das Falsifikationsprinzip und die offene Gesellschaft sind die zentralen Bausteine im Denken des Philosophen.
Aber Popper hat sich in seinen Schriften und Briefen auch ganz praktisch mit der Frage beschäftigt, wie die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Ansichten in einer offenen Gesellschaft und im wissenschaftlichen Diskurs gestaltet sein sollte. Der Arbeitskreis "Kritischer Rationalismus" um den deutschen Philosophen Hans-Joachim Niemann hat aus den Schriften und Briefen Poppers und seines Mitstreiters Hans Albert eine Reihe von Grundsätzen zusammengestellt, die Popper dann kurz vor seinem Tod im Jahr 1994 begutachtet und abgesegnet hat. Diese "zwölf Regeln gegenseitigen Verstehens", so Niemann, versah Popper mit der bemerkenswerten Überschrift "Rechte und Pflichten derer, die von ihren Mitmenschen lernen wollen". Veröffentlicht wurden sie im März 1994 als Nachtrag zur ersten Ausgabe der Zeitschrift Aufklärung und Kritik. An Aktualität haben sie nichts verloren - im Gegenteil. Zwölf Regeln, die zu lesen lohnt.
Hier die zwölf Regeln gegenseitigen Verstehens von Hans-Joachim Niemann, frei nach Karl R. Popper, hier im originalen Wortlaut:
Rechte und Pflichten derer, die von ihren Mitmenschen lernen wollen
1. Jeder Mensch hat das Recht auf die wohlwollendste Auslegung seiner Worte.
2. Wer andere zu verstehen sucht, dem soll niemand unterstellen, er billige schon deshalb deren Verhalten.
3. Zum Recht, ausreden zu dürfen, gehört die Pflicht, sich kurz zu fassen.
4. Jeder soll im voraus sagen, unter welchen Umständen er bereit wäre, sich überzeugen zu lassen.
5. Wie immer man die Worte wählt, ist nicht sehr wichtig: es kommt darauf an, verstanden zu werden.
6. Man soll niemanden beim Wort nehmen, wohl aber das ernstnehmen, was er gemeint hat.
7. Es soll nie um Worte gestritten werden - allenfalls um die Probleme, die dahinter stehen.
8. Kritik muß immer konkret sein.
9. Niemand ist ernstzunehmen, der sich gegen Kritik unangreifbar gemacht, also "immunisiert" hat.
10. Man soll einen Unterschied machen zwischen Polemik, die das Gesagte umdeutet, und Kritik, die den anderen zu verstehen sucht.
11. Kritik soll man nicht ablehnen, auch nicht nur ertragen, sondern man soll sie suchen.
12. Jede Kritik ist ernstzunehmen, selbst die in böser Absicht vorgebrachte; denn die Entdeckung eines Fehlers kann uns nur nützlich sein.
Redaktion und Einleitung: Winfried Kretschmer | Quellenangabe: "Rechte und Pflichten derer, die von ihren Mitmenschen lernen wollen", zusammengestellt von Hans-Joachim Niemann, frei nach Karl R. Popper; erschienen als Nachwort in Aufklärung und Kritik Nr. 1 (1994) S. 189; dem PDF ist die Originalseite aus Aufklärung und Kritik als Abbildung beigegeben.
Zitate
"Jede Kritik ist ernstzunehmen, selbst die in böser Absicht vorgebrachte; denn die Entdeckung eines Fehlers kann uns nur nützlich sein." Karl R. Popper: Rechte und Pflichten derer, die von ihren Mitmenschen lernen wollen
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Quellenangabe: "Rechte und Pflichten derer, die von ihren Mitmenschen lernen wollen", zusammengestellt von Hans-Joachim Niemann, frei nach Karl R. Popper; erschienen als Nachwort in Aufklärung und Kritik Nr. 1 (1994) S. 189Aufklärung und Kritik Nr. 1
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© Foto: Karl Popper c1980s, Library of the London School of Economics and Political Science