Entgrenzt
Die gewachsenen Grenzen der Arbeit verschieben sich. Nicht so schnell wie erwartet, aber stetig und mit nachhaltiger Wirkung. Mit dieser Entgrenzung beschäftigt sich die Expertenkommission "Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland" der Bertelsmann Stiftung auf ihrer zweiten Sitzung.
Dr. Werner Eichhorst ist Stellvertretender Direktor Arbeitsmarktpolitik am IZA - Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Er studierte Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie und Verwaltungswissenschaften und promovierte 1998 an der Universität Konstanz. Bis 2004 war er Projektleiter bei der Bertelsmann Stiftung, dann am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg tätig. 2005 kam er ans IZA, wo er seit 2007 Stellvertretender Direktor Arbeitsmarktpolitik ist. Er ist Mitglied der Expertenkommission "Arbeits- und Lebensperspektiven in Deutschland" der Bertelsmann Stiftung.
Herr Eichhorst, soziologische Begriffe sind oft nicht unbedingt selbsterklärend, "Entgrenzung" zum Beispiel. Was genau versteht man darunter?
Entgrenzung meint, dass die Strukturen der Erwerbsarbeit sich teilweise auflösen und die über die letzten Jahrzehnte gewachsenen Grenzen sich verschieben. Ich würde dabei zwischen wachsender externer Flexibilität und wachsender interner Flexibilität unterscheiden.
Externe Flexibilität meint die Auflösung und Neudefinition der Grenzen zwischen Unternehmen, die Verkleinerung der Kernbelegschaften und die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse.
Interne Flexibilität meint eine Auflösung bestimmter Routinen und Grenzziehungen innerhalb der Unternehmen in Form flexibler Arbeitszeiten und wechselnder Arbeitsorte. Das führt dazu, dass sich die Identität von Arbeitsort, Arbeitszeit und Arbeitsleistung tendenziell auflöst - und mit ihr die Abgrenzung von Freizeit und Arbeitszeit. Hier werden die Grenzen deutlich durchlässiger.
Und in dieser subjektiven, auf den einzelnen Arbeitnehmer bezogenen Perspektive wird Entgrenzung meistens auch diskutiert?
Ja, diese innerbetriebliche Entgrenzung im Verhältnis zwischen Individuum und Unternehmen steht im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion. Aber die Entgrenzung im Sinne der Zunahme sogenannter atypischer Beschäftigungsverhältnisse bildet einen zweiten Pfeiler, den ich gleichberechtigt daneben sehe.
Inwiefern gibt es eine Entgrenzung? Was sagt die Empirie?
Zwischen den Unternehmen etablieren sich komplexere Zulieferbeziehungen und Werkvertragsketten mit nationalen und internationalen Subunternehmen. Gleichzeitig findet eine starke Auslagerung bestimmter Tätigkeiten über Werkverträge an Dienstleister oder selbständige Projektpartner statt. Zugleich nehmen in den Unternehmen flexible Arbeits- und Erwerbsformen zu, das aber eher im Sinne einer zusätzlichen Beschäftigung. Das ist allerdings noch längst nicht das dominante Modell. Nach wie vor verfügt der Arbeitsmarkt über starke und stabile Kernbereiche, in denen nach wie vor das sogenannte Normalarbeitsverhältnis dominiert.
Die Entgrenzung von Arbeitszeit und Arbeitsort, die wir gleichzeitig beobachten, fällt je nach Berufsgruppen und Wirtschaftszweigen sehr unterschiedlich aus. Sie wird aktuell ja stark diskutiert unter den Aspekten Arbeitsverdichtung, wachsende Belastung bei der Arbeit, Ansteigen der psychischen Anforderungen an die Beschäftigten und Verlängerung der Erreichbarkeit und der Verfügbarkeit für den Kunden oder den Arbeitgeber.
Wie sehen hier die empirischen Befunde aus?
Arbeit am Wochenende, nachts und in Schichten nimmt zu. Ebenso die Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit beziehungsweise einem fixen Arbeitsort; vor allem bei Führungskräften ist die Erreichbarkeit am Abend, an Wochenenden, in der Freizeit verbreitet und wird implizit erwartet. Einige Zahlen: 52 Prozent der Arbeitnehmer berichten über Zeitdruck, 63 Prozent sehen den Druck eher wachsen, rund 27 Prozent sind häufig oder regelmäßig außerhalb der Arbeitszeit erreichbar.
Sie haben gerade vom Normalarbeitsverhältnis gesprochen. Der Referenzpunkt, wenn man von Entgrenzung spricht, ist das Normalarbeitsverhältnis?
Ja, das stimmt. Drei wichtige Aspekte lassen sich hier empirisch beobachten: Zunächst gilt das Normalarbeitsverhältnis, also unbefristete Vollzeittätigkeit, immer noch bei etwa 60 bis 65 Prozent aller Arbeitsverhältnisse - es ist also nach wie vor die weitaus dominierende Form in der Erwerbstätigkeit. Zweitens sind im Bereich unternehmensbezogener Dienstleistungen, die aus dem verarbeitenden Gewerbe ausgelagert worden sind, ebenfalls Normalarbeitsverhältnisse entstanden: in der Beratung, im Finanzbereich, teilweise auch im IT-Bereich. Auch hier gibt es das Normalarbeitsverhältnis, nicht nur in der verarbeitenden Industrie, wie man sich das idealtypisch vorstellt. Drittens ist das Normalarbeitsverhältnis seit mindestens zwei Jahrzehnten selbst flexibilisiert worden. So gibt es bei der Entlohnung erfolgsabhängige, leistungsbezogene Komponenten, vor allem aber gilt das für die flexible Lage und auch Dauer von Arbeitszeiten. Verbunden mit anderen Formen interner Flexibilität wie betriebsinterner Projektarbeit hat das dazu geführt, dass das Normalarbeitsverhältnis sich behaupten konnte, aber eben um den Preis einer Intensivierung der Arbeit.
Vollziehen sich Veränderungen in der Arbeitswelt vielleicht langsamer als erwartet - das Normalarbeitsverhältnis wurde ja schon wiederholt totgesagt?
Das Normalarbeitsverhältnis ist ein Evergreen. Es ist offensichtlich gelungen, das Normalarbeitsverhältnis so zu modernisieren und zu flexibilisieren, dass es nach wie vor attraktiv ist und sich als dominante Beschäftigungsform behaupten konnte. Das lässt sich damit erklären, dass Arbeitgeber natürlich ein Interesse daran haben, über einen harten Kern von gut eingearbeiteten und qualifizierten loyalen Beschäftigten zu verfügen.
Wir sehen auch keinen Trend weder zu einer massiven Auslagerung von Arbeit noch zu einer massiven Ausweitung von Zeitarbeit oder befristeter Beschäftigung. Wir haben in Deutschland etwa zwei bis 2,5 Prozent Erwerbstätige in der Zeitarbeit, relativ konstant etwa sieben Prozent in befristeter Beschäftigung und um die zehn, elf Prozent Selbständige - das ist alles relativ überschaubar.
Die Kreativbranche oder hoch qualifizierte Beratungstätigkeiten sind eben nur ein Teil der Realität; in weiten Bereichen ist die Erwerbsform immer noch relativ traditionell strukturiert. So ist zum Beispiel die Betriebszugehörigkeit in Deutschland relativ stabil: Etwa 60 Prozent der Erwerbstätigen sind schon über fünf Jahre im gleichen Unternehmen beschäftigt.
Unternehmen wissen den Wert von Stammbelegschaften zu schätzen und halten daran fest?
Das kann man so sagen - allerdings um einen Preis: Der liegt darin, dass aufgrund der Intensivierung des Wettbewerbs die Stammbelegschaften etwas kleiner bemessen sein werden, als es derzeit der Fall ist. Die Unternehmen versuchen, die Risiken zumindest teilweise auf Zulieferer und Randbelegschaften zu verlagern. Und natürlich haben die Anforderungen und Zumutungen an die Normalarbeiter ebenfalls zugenommen - so sind interne Flexibilisierungen vielfach dauerhaft geworden.
Wenn man von Entgrenzung spricht, ist man recht schnell bei "Arbeit ohne Grenzen". Ist das übertrieben?
Ja und nein. Natürlich gibt es eine Entgrenzung im Sinne einer Verlagerung von Arbeitsplätzen oder von Teilen von Tätigkeitsbereichen in Reaktion auf die wachsende internationale Vernetzung. Es gibt auch die Tendenz, die Erreichbarkeit von Fach- und Führungskräften durch die Nutzung moderner Kommunikationstechnologien zu verlängern und damit die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben zu durchlöchern. Diese Phänomene lassen sich beobachten - nur würde ich davor warnen, das generell als Bedrohung oder als Verschlechterung der Situation darzustellen.
Danach wollte ich gerade fragen. Das soziologische Konzept der Entgrenzung folgt einem negativen Ansatz, nämlich dass es den Unternehmen darum gehe, Risiken auf die Arbeitnehmer zu verlagern. Stimmt diese negative Sichtweise oder gibt es auch positive Aspekte von Entgrenzung?
Natürlich gibt es eine Tendenz der Unternehmen, sich wegen des wachsenden Drucks durch die rapide Veränderung der Märkte ökonomischer zu verhalten. Insofern ist es plausibel, dass Unternehmen versuchen, Risiken ein Stück weit auf die Beschäftigten oder auf externe Dienstleister zu verlagern. Auf der anderen Seite bieten diese Entgrenzungen natürlich auch Möglichkeiten der Selbstgestaltung der Arbeitsabläufe, der Arbeitszeiten und der Arbeitsorte - was durchaus im Interesse der Beschäftigten sein kann.
Die zentrale Frage ist die Aushandlung der Grenzen und der Verteilung der Risiken. Diese Verteilungsfragen folgen heute strikt ökonomischer Rationalität - die Arbeitsbedingungen folgen den Marktgegebenheiten. Beschäftigte, die eine Qualifikation mitbringen, die begehrt und für das Unternehmen wichtig ist, können tendenziell mehr Risiken auf das Unternehmen abwälzen; Beschäftigte hingegen, deren Qualifikation als weniger wichtig angesehen wird oder weniger knapp ist, werden mehr Risiken auf sich nehmen müssen. Angebot und Nachfrage setzen sich durch. Das erklärt auch, warum wir eine stärkere Lohnspreizung haben oder warum bestimmte Tätigkeiten in stärkerem Maß in flexible Erwerbsformen verlagert werden als andere.
Wenn es um die Zunahme von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz geht, steht die Flexibilität - oder die Zumutung der Flexibilität - im Mittelpunkt der Diskussion. Welche empirischen Zusammenhänge gibt es hier?
Zunächst einmal werden Entgrenzung und Arbeitsverdichtung durchaus als Belastung wahrgenommen. Beispielsweise wirkt die Verbreitung von Smartphones als Stressfaktor, wenn erwartet wird, dass man nun auch am Wochenende oder im Urlaub erreichbar ist. Hier gibt es einen klaren Zusammenhang, das belegen auch Umfragen.
Zugleich aber nimmt die Diagnose psychischer Störungen aufgrund von betrieblichen Zumutungen etwas stärker zu als die Entgrenzung selber. Das interpretiere ich so, dass die Beschäftigten wie die Ärzte für dieses Thema stärker sensibilisiert und eher bereit sind, Flexibilisierung als Befund anzuerkennen.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen bestimmten Formen von Flexibilisierung und psychischen Beschwerden? Oder ist Entgrenzung gleich Entgrenzung?
Wir beobachten, dass mehr Komplexität in der Aufgabenstellung und mehr Verantwortung für das eigene Schaffen die Arbeitszufriedenheit insgesamt steigen lässt. Viele Menschen, gerade auch Höherqualifizierte, möchten selbstverantwortlich arbeiten und schätzen anspruchsvollere Aufgaben mehr als Routinetätigkeiten, mit denen oftmals Langeweile oder quantitative Überforderung einhergeht. Problematisch für die Gesundheit und für das psychische Wohlbefinden wird es, wenn es keine begrenzenden Strukturen mehr gibt. Wenn also die Anforderungen massiv zunehmen, gleichzeitig aber die Möglichkeiten, diesen Anforderungen gerecht zu werden, nicht gegeben sind. Hierbei spielt eine große Rolle, wie die Arbeit organisiert ist, wie das Führungsverhalten ist und wie stark die kollegiale Unterstützung ist. Davon hängt es ab, ob anspruchsvolle und durchaus intensive Tätigkeiten bewältigt werden können oder auf Dauer zum Verschleiß von Arbeitskräften führen.
Also geht es darum, die Veränderung von Arbeit so zu gestalten, dass sie verträglich ist?
Es wäre falsch, Entgrenzung per se als negativ zu sehen und das Rad zurückdrehen und alles wieder in standardisierte Formen gießen zu wollen. Vielmehr geht es darum, verträgliche und gleichzeitig produktive Formen der Flexibilität zu finden. Das hat sehr viel damit zu tun, wie die Balance zwischen Anforderungen und Handlungskapazitäten in den Unternehmen aussieht.
Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf?
Zunächst sehe ich weniger Bedarf, bei bestimmten Formen oder Arten der Beschäftigung politisch nachzujustieren. Das zentrale Handlungsfeld ist das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer oder zwischen Vorgesetzten und Beschäftigten. Die Beteiligten sind gefordert, ein faires Verhältnis zu finden zwischen dem, was erwartet wird, und dem, was geleistet werden kann.
Wichtig ist auch die Art der Beziehungen: Wir erleben eine Entwicklung in Richtung komplexerer Arbeitsabläufe, die eben nicht Routinecharakter haben. Hier kommt es sehr stark darauf an, dass autonom entschieden wird, und das setzt wiederum voraus, dass in den Unternehmen durch gute Führung ein Klima des Vertrauens hergestellt wird. Werden diese Handlungskompetenzen nur auf die Mitarbeiterebene verlagert, kommt es zu einer Überforderungssituation. Es geht also auch darum, Grenzen neu zu definieren.
Diese vertrauensvolle Grundlage ist entscheidend?
Die Unternehmen müssen sich klar werden, dass sie qualifizierte und ihrer Autonomie bewusste Beschäftigte auf Dauer nur halten können - und vor allem loyal und engagiert halten können -, wenn sie dieses Zutrauen und Vertrauen herstellen. Und nicht die Messlatte so hoch legen, dass man nicht mehr darüberspringen kann. Hier sind auch die Unternehmen und das Management gefordert, gedeihliche Arbeitsbedingungen zu schaffen, ohne mit zu strikten Kontrollen oder über Druck zu operieren.
Zitate
"Es geht auch darum, Grenzen neu zu definieren." Werner Eichhorst: Entgrenzt
"Die Beteiligten sind gefordert, ein faires Verhältnis zu finden zwischen dem, was erwartet wird, und dem, was geleistet werden kann." Werner Eichhorst: Entgrenzt
"Es wäre falsch, Entgrenzung per se als negativ zu sehen und das Rad zurückdrehen und alles wieder in standardisierte Formen gießen zu wollen. Vielmehr geht es darum, verträgliche und gleichzeitig produktive Formen der Flexibilität zu finden." Werner Eichhorst: Entgrenzt
"Entgrenzungen bieten auch Möglichkeiten der Selbstgestaltung der Arbeitsabläufe, der Arbeitszeiten und der Arbeitsorte." Werner Eichhorst: Entgrenzt
"Es ist offensichtlich gelungen, das Normalarbeitsverhältnis so zu modernisieren und zu flexibilisieren, dass es nach wie vor attraktiv ist und sich als dominante Beschäftigungsform behaupten konnte." Werner Eichhorst: Entgrenzt
"Das Normalarbeitsverhältnis ist seit mindestens zwei Jahrzehnten selbst flexibilisiert worden." Werner Eichhorst: Entgrenzt
changeX 17.04.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.