Gut zu Fuß
Die Straße. Historisch war sie eine Erweiterung des Wohn- und Arbeitsraumes. Platz für Handel, Handwerk und Kommunikation, ein multifunktionaler Raum in der Stadt. Heute dient sie nur einem Zweck: dem schnellen Vorankommen des Verkehrs. Ist gleich: des Autoverkehrs. Alles andere ist auf den Gehweg verbannt. Fußgänger ebenso wie Mülleimer und Straßen(!)laternen. Anlass, über das Zufußgehen neu nachzudenken.
Bis vor Kurzem wurde der Fußverkehr von Stadt- und Verkehrsplanern eher belächelt. Er galt als Randthema, als Schlenderei, und sollte den fließenden motorisierten Verkehr möglichst wenig stören. "Deshalb sprinten wir über Kreuzungen, nehmen Umwege bis zur nächsten Ampel in Kauf und quetschen uns auf engen Bürgersteigen vorbei an parkenden Autos", resümiert eine neue Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik. Wir haben mit zwei der Autorinnen gesprochen. Und werfen einen neuen Blick aufs Zufußgehen im öffentlichen Raum.
Uta Bauer, studierte Geografin, ist Leiterin des Teams "Stadt- und Regionalverkehr" im Forschungsbereich Mobilität am Deutschen Institut für Urbanistik. Ricarda Pätzold, studierte Stadtplanerin, arbeitet dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Uta Bauer ist Herausgeberin des Buchs So geht’s mit neuen Perspektiven auf den Fußverkehr in Städten.
Die Bedeutung des Zufußgehens liegt für viele Menschen vermutlich darin, dass man anders nicht von der Haustür zum Auto kommt. Sie registrieren nun einen Bedeutungswandel des Zufußgehens. Wo rührt diese Beobachtung her?
Bauer: Sie rührt vor allem daher, dass Städte erkannt haben, dass zu Fuß gehende Menschen eine bedeutende Rolle für die Urbanität einer Stadt spielen. Zugleich aber erfährt Wandern oder Zufußgehen in der Freizeit seit einigen Jahren einen großen Boom - wahrscheinlich weil unser Leben sich fortdauernd beschleunigt und stets Konzentration und Leistung verlangt. Der Charme des Gehens liegt ja darin, dass man seine Gedanken laufen lassen und so entspannen kann.
Verändert sich die Wahrnehmung des Gehens? Nicht nur beim Wanderboom und auf dem Jakobsweg, sondern auch im Alltag?
Pätzold: Darf ich noch etwas zu Ihrer Eingangsfrage anfügen? Der Stadtplaner Andreas Feldtkeller aus Tübingen hat das offensiver formuliert: "Jeder Mensch ist ein Fußgänger, und sei es auf dem Weg zu seinem Auto." Er hat also die Alltäglichkeit des Zufußgehens betont. Menschen sind immer schon zu Fuß gegangen und legen auch heute einen Teil ihrer Wege zu Fuß zurück. Nur fand das bislang eher beiläufig statt. Heute ändert sich die öffentliche Wahrnehmung, das Zufußgehen erfährt eine andere Wertschätzung. Es wird als Verkehrsart wahrgenommen wie andere Verkehrsarten auch. Das ist etwas Neues.
Bauer: Vor allem in den Städten beginnt ein Umdenkprozess. Es wird bewusst, dass Straßen, die nur für den Autoverkehr attraktiv gestaltet wurden, Autoverkehr erzeugen - und damit recht unattraktiv für alle anderen Fortbewegungsarten werden. Doch auch heute noch findet in kaum einer Kommune eine systematische Planung des Fußverkehrs statt, weil das Zufußgehen eben nicht als gleichberechtigter Verkehr wahrgenommen wird. Es gilt als etwas Selbstverständliches, das keiner großen Aufmerksamkeit bedürfe. Das ändert sich jetzt.
Spielt bei diesem Bedeutungswandel auch die Klimadebatte eine Rolle? Also Gehen als eine der umweltfreundlichsten Verkehrsarten mit null CO2-Emissionen.
Bauer: Zunächst sind die Distanzen, die man zu Fuß zurücklegt, relativ kurz und damit auch die Einspareffekte mengenmäßig gering. Allerdings geht ein Viertel aller Autofahrten in der Stadt über eine Distanz von weniger als fünf Kilometer. Sie liegen also in Entfernungsklassen, die man mit dem Fahrrad und zu Fuß zurücklegen kann. So gesehen gibt es schon ein großes Einsparpotenzial.
Dennoch differieren die Befunde im Buch. Einmal heißt es, Zufußgehen habe Konjunktur und werde in seiner Bedeutung unterschätzt, anderseits liest man dann wieder: "Fußverkehr fristet dennoch ein Nischendasein." Können Sie das ein wenig sortieren?
Bauer: Aus den Statistiken ist nicht ersichtlich, dass Menschen mehr oder häufiger zu Fuß gehen würden. Repräsentative Verkehrserhebungen zeigen, dass der Fußverkehr, also die Häufigkeit der Fußwege, in den Städten eher leicht abnimmt beziehungsweise konstant bleibt. Ein großer Wandel ist in den Zahlen also nicht erkennbar. Aber es gibt zwei andere, parallel laufende Entwicklungen. Einerseits eine Verhäuslichung immer größerer Bevölkerungsgruppen: Immer mehr Menschen unternehmen weniger Wege, gehen also weniger außer Haus. Sie verbringen ihre Freizeit weitestgehend daheim, kaufen online, nutzen Streaming-Dienste und bestellen ihr Essen nach Hause. Gleichzeitig gibt es jedoch eine andere Bevölkerungsgruppe, die zunehmend mehr mit dem Rad fährt und auch häufiger zu Fuß geht. Die Durchschnittszahlen bilden eben auch verschiedene Entwicklungen ab.
Wenn sich also beim Zufußgehen ein Paradigmenwandel andeuten würde, wäre es nicht der erste. Wie kam es überhaupt dazu, dass der Autoverkehr eine solche Dominanz entwickeln konnte? Historisch kam ja das Auto aus der Nische.
Bauer: Ausschlaggebend war unsere Gesetzgebung. Unsere Straßenverkehrsgesetze sind entstanden, als man dem Auto zum Durchbruch verhelfen wollte, das war in den 1930er-Jahren vor allem. Sie sind so formuliert, dass der fließende Verkehr möglichst wenig gestört wird. Daher wurde dem Autoverkehr möglichst viel Platz in den Städten eingeräumt. Das hat der Dominanz des Autos den Weg geebnet. Nach dem Krieg sind viele Städte massiv in diese Richtung ausgebaut worden. Vor allem die Städte, die stark von der Zerstörung betroffen waren, haben sich meistens zu autogerechten Städten entwickelt. Anders lief es nur dort, wo zusammenhängende Altstadtkerne oder zusammenhängende Stadtstrukturen erhalten geblieben waren.
Dass Verkehr möglichst zügig fließen müsse, das war das Leitmotiv?
Pätzold: Die Durchflussgeschwindigkeit ist beim Auto ganz wichtig. Auch beim Fahrrad wird darauf geachtet, dass man gut vorankommt. Beim Fußgängerverkehr hingegen spielt das ganz selten eine Rolle. Außer in New York, wo es einen erheblichen Fußverkehr gibt. Dort werden die Straßenquerschnitte danach bewertet, wie viele Menschen sich in welcher Geschwindigkeit zu Fuß bewegen können. Bei uns würde niemand auf die Idee kommen, auch nur so eine Betrachtung anzustellen. Im Gegenteil, es gibt im Gehbereich diverse Hindernisse, die den Fußverkehr behindern. Bei einer Straße wäre das undenkbar. Aber der Fußverkehr wird ganz anders betrachtet - als Schlenderei, wo es nicht viel ausmacht, wenn ständig irgendwas oder irgendwer im Weg steht. Die grundlegende Frage ist: Begreift man Zufußgehen als eine Fortbewegungsweise unter anderen? Oder sieht man es als Restkategorie an?
Und bislang war es eher Restkategorie?
Beide gleichzeitig: Ja.
Bauer: In der Verkehrsplanung ist der Fußverkehr eindeutig eine Restkategorie. Plakativ gesagt, wurden Straßen so geplant: Zunächst wurden die Bedarfe des fließenden Verkehrs, also des Autoverkehrs, berücksichtigt; dann hat man nach rechts geschaut, was für parkende Autos und für Radverkehr einzuplanen ist - und was übrig blieb, war für den Fußverkehr. Meistens recht unterdimensioniert.
Dieser Status als Restkategorie spiegelt sich auch in der öffentlichen Verwaltung. In vielen Städten gibt es auch heute noch keine eigene Zuständigkeit für den Fußverkehr. In den Verkehrsplanungsämtern gibt es eine Zuständigkeit für den öffentlichen Nahverkehr, mittlerweile auch für den Radverkehr, aber es gibt niemanden, der den Fußverkehr als alleinige Aufgabe hat. Und die meisten arbeiten für den Autoverkehr. Im Bundesverkehrsministerium steht Fußverkehr mittlerweile im Organigramm, aber bis vor wenigen Monaten war das Wort im ganzen Ministerium nicht zu finden.
Und wie schaut es mit der statistischen Erfassung des Zufußgehens aus? Wird das komplett erfasst?
Bauer: Erfasst werden nur die Hauptverkehrswege. Gezählt wird nur das Verkehrsmittel, das man für die weiteste Entfernung verwendet. Damit wird der Fußweg zur Haltestelle und von der Haltestelle wieder nach Hause gar nicht registriert. Die Anteile des Fußverkehrs in den Erhebungen sind somit schlichtweg unterschätzt.
Pätzold: Es gibt schon einen Bereich, der Passantenfrequenzen zählt, das ist der Einzelhandel. Für die Einschätzung von Mieten und von Lagequalitäten ist es sehr wichtig, zu wissen, wie viele Leute da langlaufen. Da zählt die Portemonnaiedichte.
Dennoch gibt es vielerorts große Schwierigkeiten, eine Fußgängerzone auszuweisen. Da ist der Parkplatz vor dem Geschäft ein so gewichtiges Argument, dass sich die Befürworter einer Fußgängerzone seit Jahren die Zähne daran ausbeißen.
Pätzold: Das sind die altbekannten Reaktionsweisen. Doch wenn einmal der Autoverkehr in einer Straße reduziert wurde, berichten alle übereinstimmend, dass dies zu einer Belebung des Geschäftslebens beigetragen hat. Da gibt es durchaus Aha-Effekte.
Braucht es solche Aha-Effekte, damit sich was ändert? Aha-Effekt in dem Sinne, dass bewusst wird, wie sehr die autogerechte Stadt den Fußgängerverkehr sprichwörtlich an den Rand gedrängt hat?
Bauer: Diesen Aha-Effekt erleben wir in immer mehr Städten. Zunehmend werden Straßenräume umgestaltet, und die Leute empfinden das als angenehm. Denn es ist leiser, es ist weniger gefährlich, man kann besser queren. Immer mehr Städte bemühen sich, solche Aha-Effekte auch temporär herzustellen. Die Stadt München zum Beispiel hat letzten Sommer das Projekt Sommerstraßen begonnen: Im Sommer wurden bestimmte Straßenabschnitte für den parkenden und den Durchgangsverkehr gesperrt und man hat den Straßenraum für den Aufenthalt der Anwohner, für das Spielen der Kinder geöffnet. So wird erlebbar gemacht, was für eine neue Qualität dadurch entsteht.
In Ihrem Buchbeitrag, Frau Pätzold, zitieren Sie aus der preußischen Wegeordnung von 1905. Dort ist festgelegt, dass die Straße von jedermann zum "Gehen, Reiten, Radfahren, Fahren und Viehtreiben" benutzt werden darf. Bis aufs Viehtreiben ist das eigentlich eine recht moderne Vorstellung, könnte man sagen.
Pätzold: Das kann man so sagen. Das ist Shared Space in einer frühen Form. Aber es zeigt auch, wie schnell man davon abgekommen ist, auch aus einem Schutzgedanken heraus. Zunächst sollten die Autofahrer auf die Fußgänger Rücksicht nehmen, weil die schwächer sind. Dann wurde der Schutz so weit getrieben, dass man die Fußgänger auf die Bürgersteige verbannt hat. Diese Durchsetzungskraft des Autoverkehrs ist heute noch präsent. Und diese eindeutige Definition des Straßenraumes hält sich hartnäckig. Ich glaube aber, wir müssen diese Abstimmungsprozesse trainieren. Und müssen lernen, dass es kein Grundrecht ist, mit 60 durch die Stadt zu brettern.
Bauer: Solche Umdenkprozesse gehen nicht von heute auf morgen. Die Menschen haben von Kind an gelernt, dass das Auto ein Vorrecht genießt. Wenn in den großen Städten nun versucht wird, dem Auto etwas wegzunehmen, steigt die Aggression und die angestammten Vorrechte werden verteidigt. Diese Stimmung wird sich nicht in fünf Jahren ändern, das dauert.
Pätzold: Aber es gibt in den Städten bereits Anpassungsprozesse an die Realität. Vielen Städtern wird bewusst, dass es total anstrengend ist, ein Auto zu besitzen, weil Straßen und Parkplätze voll sind. Und manche beschließen, auf ihr Auto zu verzichten, weil sie es nicht brauchen. Diese Anpassung passiert kontinuierlich. Man kann aber nicht darauf warten, dass soundso viele Parklücken nicht benötigt werden, und dann in den Umbauprozess gehen. Sondern das muss sich gegenseitig anstupsen, sonst wird das nie was. Es braucht Mut, auf Parkplätze zu verzichten und den Straßenraum umzubauen!
Ist das richtig interpretiert: Die Straße ist rein monofunktional, Ziel ist das zügige Fließen des Autoverkehrs; der Gehweg hingegen bündelt eine ganze Reihe von Nutzungen, die - um dieses zügige Fließen zu ermöglichen - an den Rand gedrängt worden sind?
Pätzold: Die Betrachtung des Zufußgehens nur als Verkehrsart greift etwas kurz. Der Gehweg ist nicht nur Verkehrsraum, er ist viel, viel mehr. Deswegen ist er doppelt zu klein, denn er ist nicht nur eine wichtige Verkehrsader, nämlich für das Zufußgehen, sondern dort sind zugleich viele andere Nutzungen untergebracht, die wir unter Stadtleben subsumieren. Nimmt man diese Nutzungen zusammen, stellt sich das Verteilungsargument noch mal doppelt. Wenn wir zunehmend über Dichte, Enge und Nutzungskonflikte in den Städten reden, dann stellt sich schon die Frage: Wo ist eigentlich die Begründung für dieses Vorrecht der Straße, so viel Platz für diesen einen Zweck zu haben?
Welche Nutzungsformen sind das, die auf das Trottoir verbannt wurden?
Der Handel breitet sich auf dem Bürgersteig aus, die Gastronomie ebenso. Die ganze Infrastruktur steht nicht auf der Straße, sondern auf dem Bürgersteig: Straßenlampen, die zudem die Straße beleuchten und nicht den Bürgersteig; das Stadtgrün ist auch auf dem Bürgersteig untergebracht, die Bäume ebenso wie die Blumenkübel. Menschen haben das Recht, nur zu stehen, obwohl sie so immer allen im Weg sind. Manche wohnen auch auf dem Bürgersteig, das darf man nicht vergessen. Es ist ein wahres Feuerwerk an Vielfalt. Wahrscheinlich habe ich noch einiges vergessen …
Bauer: … Mülleimer …
Pätzold: … genau, Mülleimer - die Entsorgung findet auch dort statt. Auch Information findet dort statt, die Litfaßsäulen früher und die Plakate heute. Der Bürgersteig ist ein Umschlagplatz für Waren und Kommunikation und zugleich ein Verkehrsraum. Wenn man jeder dieser Funktionen einen angemessenen Raum geben würde, käme man auf wesentlich breitere Bürgersteige. Aber das ist gar nicht mein Argument, diese Funktionen nebeneinanderzustellen. Sondern den Gehweg als multiples System zu denken.
Man könnte der Aufzählung noch hinzufügen, dass jetzt auch noch die E-Roller auf den Bürgersteigen herumstehen.
Bauer: Das ist natürlich ein Ärgernis, insbesondere weil die Scooter sehbeeinträchtigte Menschen beim Gehen sehr behindern. Aber über die falsch parkenden Autos redet kaum noch jemand, und die sind in der Menge und der Zahl ein viel größeres Hindernis. Unzählige Straßen in deutschen Städten sind durch Gehwegparken illegal oder legal zugeparkt. Darüber regt sich kaum jemand so sehr auf wie über die E-Scooter.
Es ist aber klar: Wenn so viele Nutzungsformen auf so kleinem Raum konzentriert werden, sind Nutzungskonflikte unausweichlich. Exemplarisch zwischen Fuß- und Radverkehr.
Pätzold: Es ist sehr umstritten, ob es sinnvoll ist, auch noch den Radverkehr auf die Bürgersteige zu verlagern. Abgesehen von den Kleinen, die man nicht in den tobenden Verkehr schicken kann. Trotzdem wird es nicht für jeden Nutzungskonflikt in der Stadt gelingen, eine amtliche Regelung zu finden. Das Geheimnis von Shared Space ist das Aushandeln. Aushandeln heißt aber auch, dass keine Nutzung von vornherein als bedeutender oder wichtiger gilt. Shared Space bedingt, dass es keine Exklusivität gibt - sondern Überlagerungen, die Platz sparen und vielleicht auch lebendigere Städte schaffen.
Bauer: Diese Verteidigung von Verkehrsräumen für die eigene Fortbewegung führt auch dazu, dass Fußgänger zunehmend aggressiv werden gegenüber Fahrradfahrern, die aber ebenfalls zu wenig Platz haben. Es ist immer die Frage, wen man gegeneinander aufhetzt. Das ist der falsche Ansatz.
Gibt es Modelle, Ideen, wie sich diese Konflikte lösen ließen?
Bauer: Es wird nicht die eine Lösung für alle Verkehrsräume geben. Städte sind sehr unterschiedlich, haben unterschiedliche Voraussetzungen und unterschiedlich viel Platz. Grundsätzlich gehört der Fahrradverkehr, gerade wenn er noch weiter elektrifiziert stattfindet, auf die Fahrbahn. So wie der ganze fließende Verkehr, allein wegen der unterschiedlichen Geschwindigkeiten beim Gehen und Fahren. Ein Modell, das zu erreichen, praktiziert die Stadt Karlsruhe, wo in allen Stadtteilen das Gehwegparken nicht mehr toleriert wird. Dort versucht man, in jeder Straße individuelle Lösungen für den parkenden Verkehr zu finden, statt ihn einfach auf dem Gehweg zu lassen, wie das jahrzehntelang der Fall war. Dabei gibt es verschiedene Ansätze, die ganz gut funktionieren.
Zum Beispiel?
Bauer: Es gibt mittlerweile gute Beispiele. In Wien hat man in der Mariahilfer Straße sogenannte Begegnungszonen gestaltet und den Autoverkehr und das parkende Auto zurückgedrängt. Dagegen sind die Einzelhändler zunächst Sturm gelaufen. Nach der Fertigstellung haben sich ihre Umsätze annähernd verdoppelt. Inzwischen beteiligen sich die Einzelhändler sogar finanziell an dem Umbau in anderen Straßen, weil sie von den höheren Umsätzen profitieren möchten.
Pätzold: Interessant an diesem Beispiel ist auch die Vorgehensweise. Üblicherweise beginnt man mit einem kleineren, nicht ganz so aufwendigen und nicht ganz so strittigen Projekt, um sich langsam an größere Vorhaben heranzutasten. Wien hat das umgedreht und mit der größten und schwierigsten Straße angefangen. Wenn es dort klappt, dann hat das eine ganz andere Wirkung. Und der Lerneffekt ist größer.
Bauer: Das Gleiche ist in München beim Umbau der Sendlinger Straße passiert. Erst gab es einen Aufschrei, hinterher funktionierte es wunderbar. Ein wichtiger Punkt ist auch, dass Fußverkehr nicht nur Aufenthalt darstellt, sondern man durchaus mal drei, vier Kilometer am Stück zügig gehen möchte. In vielen Städten ist das eine Entfernung, mit der man schon recht weit kommt. Dafür braucht es aber attraktive, durchgehende Gehrouten. Aachen richtet zum Beispiel gerade sogenannte Premiumrouten für den Fußverkehr ein, die grün sind, barrierefrei und die es ermöglichen, aus den Stadtteilen und Wohngebieten bequem und zügig in die Stadt zu gehen. Solche Ansätze sind zukunftsweisend.
Und die Superblock-Idee? Was hat man sich darunter vorzustellen?
Bauer: Die Idee stammt aus Spanien, wo die Erfahrungen vielversprechend sind. Der Ansatz ist, größere Wohngebiete vom parkenden und fließenden Durchgangsverkehr frei zu halten - weil Straßenraum mehr ist als ein Durchfahrtsraum. Wenn die Anwohner gerade in dicht bebauten Gebieten die Möglichkeit haben, sich auf dem Gehweg oder in der Straße aufzuhalten, sich zu treffen, zu kommunizieren, dann entsteht eine Lebens- und Wohnqualität, von der alle profitieren.
Pätzold: Es gibt ganz verteilte Ideen und Konzepte, wo sich oftmals Überschneidung lohnen würde. Ein Fußverkehrskonzept berührt Belange, die in der Verwaltung in unterschiedlichen Ressorts bearbeitet werden, Außengastronomie zum Beispiel und Einzelhandel - das eine ist Ordnungsamt, das andere Wirtschaftsförderung. Aber es braucht einen multiperspektivischen Blick auf den Straßenraum! Einen Blick, der die verschiedensten Belange berücksichtigt. Aber insgesamt laufen zurzeit verschiedene Stränge ganz gut zusammen. Es muss nur die Breite wahrgenommen werden, die das gerade gewinnt. Viele beharren noch auf den alten Sichtweisen, weil es für sie keinen Anlass gibt, das Neue wahrzunehmen.
Zum Schluss: Haben Sie einen Tipp fürs Zufußgehen als veränderte Mobilitätspraxis?
Pätzold: Viele Leute nutzen Fitness-Tracker und sind damit aufs Schrittzählen gepolt. Sie achten darauf, wie lange man am Tag gehen sollte. Das rückt das alltägliche Gehen ins Bewusstsein, zum Beispiel, dass man ins Fitnessstudio auch laufen kann.
Bauer: Mein Tipp: Wenn man mit der U-Bahn oder S-Bahn umsteigen muss, ist es oft gar nicht so weit vom Umsteigepunkt bis zum Ziel. Wenn man die letzte Meile geht, spart man sich die Zeit, die man sonst wartend rumsteht. Deshalb einfach mal zu Fuß gehen, erleben und schauen! Und beobachten, wie lange das dauert. Man wird sich oft wundern. Und ganz generell ist der Tipp: Einfach machen!
Das Interview haben wir telefonisch geführt.
Zitate
"Städte haben erkannt, dass zu Fuß gehende Menschen eine bedeutende Rolle für die Urbanität einer Stadt spielen." Interview Uta Bauer, Ricarda Pätzold: Gut zu Fuß
"Jeder Mensch ist ein Fußgänger, und sei es auf dem Weg zu seinem Auto." Andreas Feldtkeller, zitiert in: Interview mit Uta Bauer, Ricarda Pätzold: Gut zu Fuß
"Menschen sind immer schon zu Fuß gegangen und legen auch heute einen Teil ihrer Wege zu Fuß zurück. Nur fand das bislang eher beiläufig statt. Heute ändert sich die öffentliche Wahrnehmung, das Zufußgehen erfährt eine andere Wertschätzung. Es wird als Verkehrsart wahrgenommen wie andere Verkehrsarten auch." Interview Uta Bauer, Ricarda Pätzold: Gut zu Fuß
"In der Verkehrsplanung ist der Fußverkehr eindeutig eine Restkategorie." Interview Uta Bauer, Ricarda Pätzold: Gut zu Fuß
"Unzählige Straßen in deutschen Städten sind durch Gehwegparken illegal oder legal zugeparkt. Darüber regt sich kaum jemand so sehr auf wie über die E-Scooter." Interview Uta Bauer, Ricarda Pätzold: Gut zu Fuß
"Es braucht einen multiperspektivischen Blick auf den Straßenraum!" Interview Uta Bauer, Ricarda Pätzold: Gut zu Fuß
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Uta Bauer (Hg.): So geht’s. Fußverkehr in Städten neu denken und umsetzen. Deutsches Institut für Urbanistik (Difu), 978-3-88118-643-8, Berlin 2019, 240 Seiten, 39 Euro (D), ISBN 978-3-88118-643-8
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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