Mehr Vielfalt wagen
Diversity ist nicht bloß Kommunikations- oder HR-Thema, mit dem man sein Image aufpoliert oder sich als attraktiver Arbeitgeber positioniert. Sondern entscheidend für Kreativität und Innovationsfähigkeit von Unternehmen. Sagt Diversity-Expertin Ana-Cristina Grohnert. Denn der Komplexität an Herausforderungen lässt sich nur mit einer Vielfalt an Lösungen begegnen. Die aber bekommen wir nur durch eine Vielfalt an Menschen, die nach diesen Lösungen suchen.
Ana-Cristina Grohnert ist Vorstandsvorsitzende des Vereins Charta der Vielfalt e. V., der sich für die Verankerung von Vielfalt in Wirtschaft und Gesellschaft einsetzt. Sie ist Autorin des Buchs Das verborgene Kapital, in dem sie zeigt, wie der Übergang zu einer zukunftsorientierten Wertschöpfung gestaltet werden kann. Auf den Change Revolution Days 2022 spricht sie zum Thema "Mehr als Worthülsen - Vorteile von Diversität wirklich nutzen".
Frau Grohnert, Diversity ist zum absoluten Trendthema geworden, sagen Sie. Ist Diversity mehr als ein neuer Managementtrend?
Dass Diversity ein Trendthema ist, konnte man spätestens beim Weltfrauentag feststellen. Zahlreiche Unternehmen haben Kommunikationskampagnen gestartet, die die Frauen feiern und Geschlechtergerechtigkeit thematisieren. Eine ähnliche Aufmerksamkeit wird es sicherlich um den diesjährigen Diversity-Tag am 31. Mai geben - und das ist auch gut so! Das Problem bei Trends ist aber: Sie werden rasch als "Modeerscheinung" wahrgenommen.
Das aber wird dem Thema Vielfalt nicht gerecht! Diversity ist kein reines Kommunikations- oder HR-Thema, mit dem man sein Image aufpoliert oder sich als attraktiver Arbeitgeber positioniert. Hierzu haben wir im Rahme der Studie "Diversity Trends", die die Charta der Vielfalt regelmäßig durchführt, interessante Erkenntnisse gewonnen: Unternehmen, die noch keine konkreten Diversity-Maßnahmen umsetzen, sehen die Vorteile von Vielfalt primär im Bereich Image und HR. Die Unternehmen, die Diversity bereits durch konkrete Projekte in ihrer Unternehmensstrategie verankert haben, erkennen hingegen handfeste Vorteile für ihre Kreativität und Innovationsfähigkeit. Sie sehen sich besser in der Lage, auf einen gesellschaftlichen Wandel und volatile Marktumfelder zu reagieren.
Für Unternehmen stehen heute vielfach andere Probleme im Vordergrund - Lieferketten, Energieversorgung, Inflation, Nachfrageeinbrüche … Tritt damit Diversity wieder in den Hintergrund?
Wenn das in Unternehmen so gehandhabt wird, ist das sehr kurzsichtig. Denn Diversity ist die Lösung für diese Herausforderungen. Oder etwas vorsichtiger formuliert: Unternehmen mit möglichst vielfältigen Teams sind deutlich besser für diese Herausforderungen gerüstet.
Warum?
Wir haben aktuell mit einer Krisenhäufung und Volatilität der Märkte zu tun, wie es die deutsche Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten kaum erlebt hat. Etablierte Geschäftsmodelle stehen plötzlich vor dem Aus, Lieferketten müssen komplett neu gedacht werden, die Bedürfnisse der Zielgruppen verändern sich rasant. Diese Entwicklungen fordern eine hohe Flexibilität von Organisationen. Sie müssen binnen kürzester Zeit in der Lage sein, eine vollkommen neue Perspektive einzunehmen und in ganz neue Richtungen zu denken. Nur: Wo soll diese Perspektivenerweiterung herkommen, wenn man mit den gleichen Menschen in den gleichen Konferenzräumen auf die gleichen PowerPoint-Charts starrt?
Dieser "Mindshift" ist nur möglich durch Vielfalt. Wer neue Wege gehen will, braucht unterschiedliche Persönlichkeiten, Erfahrungsschätze, Temperamente und Begabungen. Oder anders gesagt: Monokulturen sind ein Hochrisikozustand - in der Forstwirtschaft wie im Management. So wie der deutsche Wald internationale Verstärkung durch klimaresistente Bäume wie die japanische Lärche oder den amerikanischen Hickory-Baum braucht, so benötigen Führungsetagen jetzt eine möglichst diverse Zusammensetzung.
Was hat ein Unternehmen davon, wenn es sich für Diversity und Inklusion starkmacht? Welche ökonomischen Vorteile sehen Sie?
Diversity hat positive Auswirkungen auf das Finden und Binden von Mitarbeiterïnnen und auch auf die mentale Gesundheit der Belegschaft. Inzwischen geht jeder sechste Fehltag, genauer gesagt 16,8 %, auf psychische Störungen zurück. Insofern ist das Thema Mental Health für Unternehmen hoch relevant.
Vielfältig besetzte Teams sind nachweislich lebendiger, agiler und diskussionsfreudiger als weitgehend homogene Teams - und das erhöht Spaß und Abwechslung bei der Arbeit und wirkt so der Monotonie entgegen. Durch ein Kennenlernen unterschiedlich sozialisierter Menschen steigen zudem die Toleranz für das Andersartige und auch die Wertschätzung. Und Wertschätzung wiederum ist ein massives Thema für Mental Health.
Vielfalt und Akzeptanz lassen eine Kultur des Vertrauens entstehen. Vertrauen ist ein wesentlicher Faktor, um Stress abzubauen. Zahlreiche Studien belegen, dass eine Kultur mit hohem gegenseitigem Vertrauen den Stress massiv reduziert, die Mitarbeiterproduktivität steigert und zu mehr Engagement der Belegschaft führt. Mitarbeitende in einem solchen Unternehmensumfeld fühlen sich zudem viel enger mit ihrem Arbeitgeber verbunden.
Aber auch über HR-Themen hinaus ist Diversity wertstiftend, und sogar ökonomisch notwendig. Eine Analyse von Deloitte definiert drei Erfolgsfaktoren für Unternehmen: Mitarbeiterïnnenengagement, Kundïnnenzufriedenheit und Innovationskraft. Für alle drei Bereiche ermittelt die Unternehmensberatung massive Steigerungsraten durch ein erfolgreiches Inklusionsmanagement diverser Teams. In diesem Fall sei es dreimal wahrscheinlicher, dass Mitarbeitende zu Höchstleistungen fähig sind, sechsmal wahrscheinlicher, dass das Unternehmen innovativ arbeitet, und eine positive Interaktion mit Kundïnnen sei sogar achtmal wahrscheinlicher.
Sie kritisieren, dass es zuweilen bei Kommunikationsmaßnahmen bleibt, die wenig echten Impact auf die Organisation des Unternehmens haben. Wie muss Diversity im Unternehmen angelegt sein?
Diversity muss als strategischer Wettbewerbsvorteil gedacht werden und alle Bereiche des Unternehmens umfassen. Was fordern wir von unseren Dienstleistern? Worauf achten wir im Recruiting? Wie fördern wir unsere Mitarbeitenden? Wie engagieren wir uns an unserem Standort? Wie sprechen wir unsere Zielgruppen an? Wie messen wir unsere Erfolge? Wie gehen wir mit Missständen um? All diese Fragen müssen im Zusammenhang mit Diversity gedacht werden.
Diversity muss in den Zielen des Unternehmens und der einzelnen Mitarbeiterïnnen berücksichtigt werden. Wichtig ist, hier messbare Ziele zu definieren, um den Impact der Maßnahmen nachvollziehen zu können. Das ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit bei der Charta der Vielfalt: Wir unterstützen die Unternehmen, die bei uns engagiert sind, bei der Definition von KPIs, mit denen sie ihren Erfolg im Bereich Vielfalt messen können. Häufig sind diese Unternehmen überrascht, dass damit auch ihre klassischen KPIs nach oben gehen - für uns ist das weniger überraschend.
Was bedeutet das konkret? Sie sprechen von umfassenden Reorganisationen, die erforderlich seien. Wie muss diese Reorganisation aussehen?
Die Reorganisation muss vor allem zu einer erhöhten Flexibilität des Unternehmens führen. Es braucht ein neues Verständnis der Organisation von Arbeit, eine neue Lernkultur und ein neues Führungsverständnis.
Vertrauen ist ein wichtiges Stichwort. Die Mitarbeitenden sollten durch flexible Arbeitszeitmodelle und mobiles Arbeiten in der Lage sein, ihre Arbeit eigenständiger zu gestalten. Mehr Gestaltungsspielraum und Verantwortung führen dazu, dass sie eher als Unternehmer im Unternehmen agieren. Dabei werden sie unterstützt durch eine offene Lernkultur. Zudem sollte Weiterbildung permanent möglich sein. Sie ist kein Goodie für die Mitarbeitenden, sondern eine Investition in die Zukunft. Diese Entwicklungen erfordern auch ein neues Führungsverständnis. Hierbei müssen die Führungskräfte unterstützt werden.
Was zeichnet eine nachhaltige Diversitätsstrategie aus?
Eine nachhaltige Diversitätsstrategie zeichnet sich dadurch aus, dass sie eng mit der Zukunftsstrategie des Unternehmens verwoben ist, dass sie alle Bereiche des Unternehmens umfasst und dass ihre Ergebnisse regelmäßig gemessen werden.
Wie muss eine Unternehmenskultur aussehen, die Diversity ernst nimmt?
Wertschätzung und Fairness, die wichtige Elemente von Diversity sind, haben einen großen Einfluss auf die Unternehmenskultur. Aber Diversity mit all seinen Facetten ist, wie ich ausgeführt habe, auch ein Thema, das in die wirtschaftliche Steuerung des Unternehmens einfließen sollte, um seine volle Wirksamkeit zu entfalten.
Organisationen, die Diversity ernst nehmen, beginnen, sich nicht länger am Shareholder Value zu orientieren, sondern die Gesamtheit aller Stakeholder einzubeziehen. Dazu gehören Kundïnnen, Mitarbeitende, Lieferketten, Standortkommunen sowie staatliche und nichtstaatliche Organisationen. Ich bin überzeugt, dass Unternehmen nur dann langfristig erfolgreich sein können, wenn sie sich als Teil eines ganzheitlichen Ökosystems sehen und diesem Ökosystem einen Mehrwert bieten.
Eine Unternehmenskultur, die Vielfalt wertschätzt, Toleranz gegenüber Andersartigem fördert und ein faires Miteinander vorlebt, stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Dabei gilt es auch, die Vielfalt jedes Individuums anzuerkennen und zu nutzen. Jeder Mitarbeitende hat ein Leben außerhalb der Arbeitsstelle. Er oder sie ist Elternteil, Partner in einer Liebesbeziehung, Mitglied in einem Buchklub, passionierter Tischtennisspieler, Feuerwehrfrau, Mentor, Hockeytrainerin, Fluthelfer oder Investorin. Unternehmen sind gut beraten, sich klarzumachen, dass sie den ganzen Menschen bekommen, wenn sie jemanden einstellen. Auch hier schlummert jede Menge "verborgenes Kapital" - und kluge Führungskräfte wissen das fruchtbar zu machen!
Welche Unterstützung kann die Charta der Vielfalt Unternehmen dabei anbieten?
Die Charta der Vielfalt unterstützt die Organisationen, die sich auf sie verpflichten, mit Know-how, Best-Practice-Beispielen, Hintergrundinformationen. Wir helfen dabei, messbare Ziele zu definieren und nachzuhalten. Aber: Wir sind keine Unternehmensberatung! Die Charta treibt das Thema Vielfalt in der Wirtschaft, in der Politik und in der Gesellschaft voran. Wir geben Impulse und teilen unser Wissen.
In Ihrem Buch Das verborgene Kapital sprechen Sie sich für ein Denken aus, das der Vielgestaltigkeit der Welt gerecht wird. Ihre These: Je multidimensionaler, desto besser. Brauchen wir eine komplexere Art zu denken?
Ja, davon bin ich überzeugt. Und das erfordert ein gewaltiges Umdenken. Der Mensch mag es überschaubar. Und das hat die unternehmerische Perspektive der vergangenen Jahrzehnte geprägt. Komplexe Projekte wurden verschoben, verzögert oder gar nicht erst begonnen. "Keep it simple", "etwas runterbrechen", "simplification" - das waren beliebte Managementbegriffe der Vergangenheit. Entsprechend wurde der Fokus vor allem auf den eigenen Betrieb gelegt. Hier hat man mit teilweise absurdem Reporting-Aufwand auf immer detailliertere Kennzahlen geschaut, in dem Glauben, so die Geschäftsentwicklung besser planen zu können.
Aber ein Unternehmen ist kein geschlossenes System! Die Zukunft eines Unternehmens hängt nur zum Teil von internen Faktoren ab - es ist hauptsächlich Einflüssen externer Faktoren unterworfen, zum Beispiel den Zielgruppen, den Wettbewerbern, gesellschaftlichen Trends oder globalen Krisen. Reduzierte Modelle, die wir lange Zeit für Unternehmen oder die Volkswirtschaft verwendet haben, sind deshalb nicht mehr zeitgemäß. Wer nur reproduziert und das bestehende Geschäftsmodell optimiert, ist nicht langfristig zukunftsfähig.
Die Coronakrise, aber auch das Aufbegehren junger Menschen gegen den Klimawandel wirken wie Katalysatoren: Sie beschleunigen den Niedergang dieser Art von Unternehmensführung. Etablierte Geschäftsmodelle stehen plötzlich vor dem Aus. Zielgruppen entwickeln neue Bedürfnisse und hinterfragen die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen. Firmen, die ihren Mitarbeitenden außer einem Gehalt und einem sicheren Arbeitsplatz keinen Mehrwert bieten können, finden keine Fachkräfte mehr.
Dieser Komplexität an Herausforderungen müssen Organisationen eine Komplexität an Lösungsmodellen gegenüberstellen. Und eine Vielfalt an Lösungen bekommen wir nur durch eine Vielfalt an Menschen, die nach diesen Lösungen suchen.
Das Interview haben wir schriftlich geführt.
Zitate
"Diversity ist kein reines Kommunikations- oder HR-Thema, mit dem man sein Image aufpoliert oder sich als attraktiver Arbeitgeber positioniert." Ana-Cristina Grohnert: Mehr Vielfalt wagen
"Monokulturen sind ein Hochrisikozustand - in der Forstwirtschaft wie im Management." Ana-Cristina Grohnert: Mehr Vielfalt wagen
"Es braucht ein neues Verständnis der Organisation von Arbeit, eine neue Lernkultur und ein neues Führungsverständnis." Ana-Cristina Grohnert: Mehr Vielfalt wagen
"Eine Unternehmenskultur, die Vielfalt wertschätzt, Toleranz gegenüber Andersartigem fördert und ein faires Miteinander vorlebt, stellt den Menschen in den Mittelpunkt." Ana-Cristina Grohnert: Mehr Vielfalt wagen
"Der Komplexität an Herausforderungen müssen Organisationen eine Komplexität an Lösungsmodellen gegenüberstellen." Ana-Cristina Grohnert: Mehr Vielfalt wagen
"Eine Vielfalt an Lösungen bekommen wir nur durch eine Vielfalt an Menschen, die nach diesen Lösungen suchen." Ana-Cristina Grohnert: Mehr Vielfalt wagen
changeX 19.05.2022. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Ana-Cristina Grohnert: Das verborgene Kapital. Wie wir Wertschöpfung neu erfinden müssen. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2021, 264 Seiten, 27.95 Euro (D), ISBN 978-3-593-51409-3
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