Lernen und lesen lernen

Ideen für Geflüchtete 7: Lern- und Leseecken
Text: Winfried Kretschmer

Die Aufnahme und Integration zahlreicher Geflüchteter verlangt neue Ideen, neue Lösungen und neue Wege. Kurz: soziale Innovationen. changeX hat begonnen, die besten Ideen zusammenzutragen. Folge 7: Die Initiative "Bücher sagen Willkommen" richtet Lern- und Leseecken für Flüchtlinge ein.

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Das Problem: Eine Bildungseinrichtung ist üblicherweise etwas, wo man hingeht. Oder sogar hingehen muss. Wie aber bringt man Bildung zu den Menschen? Wie bringt man ihnen Bildung nahe? Diese Frage stellt sich gerade beim Flüchtlingsthema. Denn bis Flüchtlinge öffentliche Bildungsangebote nutzen können, vergeht viel Zeit. Nutzlos vertane Zeit.  


Die Idee: Flüchtlingen einen einfachen und schnellen Zugang zu Lern- und Lesematerial zu ermöglichen, ist die Grundidee der "Lern- und Leseecken", die auf Initiative der deutschen Buchbranche in Zusammenarbeit mit örtlichen Initiativen in der unmittelbaren Umgebung von Flüchtlingsunterkünften eingerichtet werden. Dort stehen Bücher und Lernmaterialien in entsprechenden Fremdsprachen bereit, zum Beispiel Deutsch-Lehrbücher, Wörterbücher, Bildwörterbücher, Lexika, aber auch Romane, Sachbücher und andere Lernmaterialien. Vorbild sind "Learning and Reading Rooms" in südafrikanischen Townships. 


Konzept und Umsetzung: Ein paar Regale, Tische und Stühle, helles Licht - und natürlich Bücher. Mehr braucht es nicht, um eine Lern- und Leseecke einzurichten. "Durch einen einfachen Zugang zu Lern- und Lesematerial wollen wir den Flüchtlingen ermöglichen, Deutsch zu lernen, aber auch Ablenkung und Zerstreuung zu finden", sagt Karin Plötz, Direktorin der LitCam, einer gemeinnützigen Tochtergesellschaft der Buchmesse Frankfurt, die sich für Bildungsgerechtigkeit und Integration einsetzt. Die Idee stammt aus Südafrika, wo die LitCam bereits vor fünf Jahren einen Learning and Reading Room für Kinder aus dem Township Mfuleni initiiert hat. Dort gibt es Bücher und Lernmaterialien, ein Lehrer gibt zusätzliche Förderstunden für Schulkinder unterschiedlicher Altersstufen. Als im Verlauf des Jahres 2015 die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland immer weiter anstieg, entschloss sich die LitCam, das Modell nach Deutschland zu reimportieren. "Wir fokussieren uns auf Deutschland, weil wir genau wissen, was hier gebraucht wird", sagt Karin Plötz. Zusammen mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Buchmesse Frankfurt startete die Gesellschaft Ende September 2015 die Initiative "Bücher sagen Willkommen", die Spendenkampagne, Förderung örtlicher Projekte und Buchexpertise bündelt. 

Die Lern‐ und Leseecken werden in Kooperation mit Organisationen vor Ort in oder in der Nähe von Flüchtlingsunterkünften eingerichtet. Die Grundausstattung mit Büchern und Lernmaterialien finanziert die Initiative aus Spenden von Verlagen, Buchhändlern und deren Kunden, für Räumlichkeiten und Betreuung sorgen Flüchtlingsprojekte vor Ort, seien es ehrenamtliche Initiativen oder Träger von Flüchtlingseinrichtungen.  

"Zusammen mit den Flüchtlingsprojekten vor Ort versuchen wir, Bücher für die jeweiligen Gegebenheiten und Bedürfnisse zusammenzustellen", sagt LitCam-Direktorin Karin Plötz. Die vertretenen Nationalitäten werden ebenso berücksichtigt wie die Zusammensetzung der Flüchtlinge am Ort. Sind es vorwiegend minderjährige unbegleitete Flüchtlinge oder Familien mit Kindern? Welche Sprachen werden gesprochen? Danach wählt LitCam die Bücher aus. Zwischen 800 und 1.500 Euro liegt der Wert der Ausstattung einer Lern- und Leseecke.  

Um die Auswahl geeigneter Bücher und Lernmaterialien kümmert sich ein Team erfahrener Leseförderungsexperten. Eine Empfehlungsliste mit Materialien und Online-Medien für Kinder und Erwachsene steht zum Download bereit. Sie bietet auch anderen in der Flüchtlingsarbeit aktiven Menschen eine Hilfestellung bei der Buchauswahl.  

Rund 20.000 Euro haben Verlage, Buchhandlungen und Kunden bisher für die Aktion gespendet. Fünf Lern‐ und Leseecken für Flüchtlinge wurden bereits eingerichtet, fünf weitere sind bis Ende 2015 geplant. Schirmherr der Aktion "Bücher sagen Willkommen" ist übrigens der Schriftsteller Navid Kermani, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015.  


Potenzial und Perspektiven: Für die Einrichtung einer Lern‐ und Leseecke können sich lokale Flüchtlingsinitiativen oder Träger von Flüchtlingseinrichtungen bei der LitCam bewerben. Eine Mail genügt. "Wir schicken dann eine Mail mit Fragen zurück, telefonieren mit den Interessenten und schauen uns deren Konzept an", sagt Karin Plötz. 20 Projekte stehen derzeit auf der Warteliste. Wie viele davon realisiert werden können, hängt auch vom Spendenaufkommen ab. Der Rückfluss privater Spenden aus den Sammelbüchsen, die in vielen Buchhandlungen stehen, lässt derzeit allerdings noch zu wünschen übrig. Bei der LitCam hofft man auf ein erhöhtes Spendenaufkommen vor Weihnachten. Die LitCam will auf jeden Fall die Einrichtung von Lern- und Leseecken auch im Jahr 2016 finanziell fördern. Eine Alternative wäre eine Öffnung des Konzepts für eine Eigenfinanzierung vor Ort. Örtliche Initiativen könnten dann selbst eine Finanzierung auf die Beine stellen, die LitCam wäre eine Art Lizenzgeber, der berät, Konzepte prüft und für eine passende Zusammenstellung von Büchern und Lernmaterialien sorgt. So ließe sich die Verbreitung der Idee erhöhen.

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changeX 03.12.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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