Mehrstimmigkeit und Widerspruch
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen - und des der anderen. Das könnte das Leitmotiv einer neuen Aufklärung sein, die auf einem neuen Denken und einem erweiterten Verständnis von Rationalität gründet. Die Koordinaten dieses neuen Denkens beschreibt Bernhard von Mutius in unserem Gespräch. In Folge fünf geht es um Mehrstimmigkeit und Widerspruch als Kernelemente einer anderen Denkweise: der einer neuen Aufklärung.
Nachdem die vierte Gesprächsschleife eine Standortbestimmung in unserer post-post-modernen Welt versucht hat, wendet sich das Gespräch nun wieder der Schlüsselfrage zu, welches Denken es braucht, um sich in dieser komplexen und uneindeutigen Welt zurechtzufinden. Dabei erweisen sich zwei Gedanken aus dem vierten Gespräch als fruchtbar: Mehrstimmigkeit und Widerspruch.
Gehen wir noch einmal zurück an den Beginn der vorangegangenen Gesprächsschleife, zum Protagoras-Dialog. Dort sind es die beiden Tugenden, die Zeus dem Menschen schenkt, die diesen vor den anderen Lebewesen auszeichnen: die Rücksichtnahme und das Gerechtigkeitsempfinden. Als Geschenke. Dieser Gedanke findet sich auch in der Aufklärung, bei Herder zum Beispiel, der entschieden den Begriff der Humanität gegenüber dem der Menschlichkeit verteidigt. Er sagt: Humanität ist in uns Menschen angelegt …
Ja. Die Humanität ist eine Gabe …
… die uns gegeben ist, die wir aber entwickeln müssen.
Dafür steht vor allem Lessings Version der Ringparabel. Die Auseinandersetzung zwischen den drei Religionen findet ja nicht auf fünf Seiten statt, nach dem Motto: Jetzt sind wir tolerant. Sondern es ist ein Ringen, hin und wieder zurück, und wieder geht was schief, und wieder muss ich mich drum kümmern, und noch mal. Es ist ein ellenlanges Stück. Doch Lessing konnte in aller Kürze schreiben, daran liegt es nicht. Sondern er weiß: Es ist ein Geduldsspiel, eine Entwicklung des Verwickelten, und man muss sich drum kümmern. Das ist ein Bestandteil der Vernunft, im Unterschied nur zur Ratio. Die Ratio weiß sofort Bescheid. Sie hat keine Zeit. Und keine Geduld.
Was mich an den Aufklärern besonders beeindruckt, ist die Form des Umgangs, den sie miteinander gepflegt haben. Man war zwar unterschiedlicher Meinung, hat in der Sache gestritten, aber man war freundschaftlich verbunden. Dieser Respekt scheint mir nicht nur in den großen Auseinandersetzungen verloren gegangen zu sein, sondern auch im Kleinen, wenn man sich anschaut, wie heutzutage in der Öffentlichkeit, gerade in Social Media, Auseinandersetzungen geführt werden. Da fehlt es an Respekt im Umgang miteinander.
Das finde ich einen guten und wichtigen Gedanken. Und jetzt kann ich nur Vermutungen anstellen. Die Kritik in einem tieferen Sinne, wie bei Kant, die haben wir beim eiligen Fortschreiten unterwegs verloren. Die Kritik der Vernunft, die Kritik der reinen und die Kritik der praktischen Vernunft, das bedeutet ja nicht: Jetzt machen wir es nieder! Sondern: Wir setzen uns auseinander. Wenn diese Kultur aber nicht gepflegt wird, dann gibt es nur die Ratio und die Emotion. Die beiden Dinge, die sich bei uns immer wieder hochschaukeln. Diese andere Form des Umgangs, dieser Respekt erscheint wie aus einer anderen Zeit. Wobei man noch mal historisch anschauen müsste, wie lange diese Entwicklung gedauert hat. Vor und nach der französischen Revolution. In der Revolution war nichts respektvoll, sondern da herrschte der Terror der Tugendhaften. Und es war sicherlich auch nur eine kleine Schicht von Menschen, die diesen respektvollen Umgang miteinander auch in der Auseinandersetzung gepflegt hat.
Wir sollten uns auch davor hüten, die Aufklärung zu idealisieren. Sondern wir sollten ganz bewusst selektiv vorgehen und das identifizieren, was gut und erhaltenswert ist, und davon lernen. Einverstanden?
Ja.
Was könnte das sein?
Ich glaube, ein Gedanke, an den sich anknüpfen und der sich gleichzeitig weiterdenken ließe, ist der Umgang mit Widersprüchen. Bei Lessing schon angelegt, wird das Denken in Widersprüchen und Polen bei Goethe zu einem der Kernmomente seiner Denkweise. Die größte deutsche Dichtung, die Faust-Dichtung, ist ja gerade dadurch zu verstehen: Mephisto gehört zum Faust. Goethe spaltet ihn nicht ab, das wäre zu bequem. Und er lässt uns die Frage stellen: Ist er nicht auch ein Teil von mir? Wie geht er mit mir um und wie gehe ich mit ihm um? Das ist die Aufhellung der Widersprüche im menschlichen Wesen selbst.
Und noch weiter gedacht: Mephisto ohne den Gegenspieler Faust, das wäre gnadenlos, furchtbar. Goethe hat mit der Figur des Mephisto einen bestimmten Erfolgstypus der Moderne - und insbesondere der gegenwärtigen Moderne - vorausgeahnt. Das Grundwesen dieses Spukgeistes ist nichts anderes als reiner, kalter Intellekt. Die berechnende Rationalität in den Diensten der "selbstsüchtigen tierischen Neigungen", so Kant, ist eigentlich ein Spukwesen, das sich aber in der Zwischenzeit nicht nur Faust, sondern die große Masse untertan gemacht hat.
Zurück zum Widerspruch …
"Der Widerspruch ist das Fortleitende". Das war, noch nicht bei Kant, aber dann bei Hegel, Grundgedanke der Dialektik, die später zu einer starren Form wurde. Aber die ursprüngliche Überlegung war, das Widersprüchliche anzuerkennen und als ein bewegendes Moment von Entwicklung, von Geschichte, zu verstehen. Diese Grundüberlegung ist ein Anknüpfungspunkt. Es täte dem Denken und Fühlen gut, wenn wir dieses Verstehen von Polaritäten, von Widersprüchen und Ambivalenzen, von Konflikten, von widerstreitenden Kräften wieder aufnehmen würden. Das gehört für mich zum kreativen, schöpferischen und kritischen Denken der neuen Aufklärung. Und von hier aus können wir noch einen Schritt weiter gehen: Von der Anerkennung der Widersprüche zur Bejahung der Mehrdimensionalität …
... respektive Multiperspektivität im Auge des Beobachters ...
Ja, es geht um das Auffächern und Auseinanderfalten eindimensionaler Standpunkte. Hin zu wirklich multiperspektivischen, mehrdimensionalen Betrachtungs- und Denkweisen. Wir reden zwar manchmal davon, Perspektiven zu wechseln und andere Sichtweisen zu ermöglichen, insbesondere in kreativen Prozessen, aber es sind ganz seltene Momente, wo das wirklich gelingt. In der alltäglichen Kommunikation, in den Medien zumal, werden die Dinge zurechtgestutzt und in Schablonen gepresst. Sie werden Pro und Contra, selbst wenn es in den einzelnen Köpfen mehrdimensional zugehen sollte.
Woher rührt diese Diskrepanz zwischen Wollen und tatsächlichem Tun?
Ein Grund ist: Wir haben keine Formen dafür entwickelt. Wenn jemand versucht, in einer Diskussion zwischen Sach- und Beziehungsebene zu unterscheiden, gilt das schon als außergewöhnlich, weil viel zu kompliziert. Und kaum jemand hält sich dran. Eigentlich aber müssten wir lernen, uns souverän auf vier, fünf oder sechs Ebenen bewegen zu können. Wir werden eine neue Art von Mehrstimmigkeit brauchen, um uns als menschliche Wesen in einer komplexen Welt zurechtfinden und verständigen zu können. Und nicht ganz ins Hintertreffen zu geraten, wenn man etwa bedenkt, dass für die selbstlernenden Maschinen eine Mehrebenen-Modellierung eine Selbstverständlichkeit ist. Die uns deshalb auch auf einigen Gebieten der Mustererkennung in komplexen Umgebungen überlegen sind. Zum Beispiel in der Biomedizin. "Deep Learning" weist ja schon vom Begriff her auf eine Mehrschichtigkeit der Modellierung und des Lernens hin. So sind die Prozesse, die man als "Deep Learning" bezeichnet, manchmal in bis zu 150 und mehr Ebenen organisiert.
Auch deshalb ist das ästhetische Element so elementar für das Verstehen und das Sich-Verständigen. Das beginnt damit, zu akzeptieren, dass es noch andere Schlüssel für das Verstehen gibt als den Begriff und die Formel. Es kommt darauf an, in der Auseinandersetzung mit Komplexität, mit dem anderen, mit der Vielfalt, mit der Ausdifferenzierung und der Individualität nach Mustern und Formen zu suchen, die mehrdimensional sind und mehr Wahlmöglichkeiten eröffnen. Das ist, davon bin ich überzeugt, eine der Aufgaben der nächsten Generation. Da schließt sich der Kreis zu den Künsten, zum Beispiel zur Musik, die ja eine eigene Formensprache entwickelt hat, die über kulturelle Grenzen hinweg auf mehreren Ebenen eine Verständigung ermöglicht.
Ein wichtiger Punkt. Was zeichnet die Musik aus - unter diesem Gesichtspunkt der Mehrstimmigkeit?
Wer dirigieren oder komponieren möchte, muss in der Lage sein, eine Partitur zu lesen. In der Partitur lassen sich viele Stimmen gleichzeitig ausdrücken. Viele Instrumente mit unterschiedlichen Klangfarben, Abfolgen von Tönen, Rhythmen können gleichzeitig oder zeitlich versetzt miteinander kommunizieren. Eine solche Mehrstimmigkeit schwebt mir auch vor - als ein Element der anderen Denkweise der neuen Aufklärung. Das "Denken in Beziehungen", wie ich es in Die andere Intelligenz genannt habe: das Denken von Gegensätzen, von ganz unterschiedlichen Positionen und Auffassungen, die alle in dem Konzert eine Berechtigung haben. Darum geht es. Auch das Denken von ganz tiefen, verschütteten Bedürfnissen - wir haben gerade eben über diese archaischen Anteile gesprochen.
Jedem angehenden Musiker, der sich nur auf einer Ebene ausdrücken kann, der sich nur ein Instrument, nur eine Melodie, nur einen Rhythmus gleichzeitig vorstellen kann, würde man sagen: "Setz dich hin und lerne noch ein bisschen." Aber in der Auseinandersetzung mit der Welt, mit Gesellschaft, mit Systemen, mit politischen Veränderungen wird solche Mehrstimmigkeit von niemandem verlangt, nicht einmal von Profis. Jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Da kommt sozusagen immer nur ein Tune von der einen Seite und ein Tune von der anderen Seite. Wenn es gut geht, wird daraus ein Duett. Wenn es nicht gut geht, so wie in den Medien meistens, wird es nicht mal kontrapunktisch, sondern einfach Pro und Contra. Da gibt es nicht mehr die Vielstimmigkeit und die Individualität wie beim Jazz, sondern nur Marschmusik.
Und das finde ich unaufgeklärt. Dadurch werden die Dinge nicht klar. Aufklärung, auch die neue Aufklärung, entstammt wie gesagt dem Urbegriff der Klarheit. Werden die Dinge klar? Wie kann man sie klären? Wie zur Klärung beitragen? Wie kann ich der Macht, die stets einen Solopart spielen und andere übertönen mochte, gebieten, zurückzutreten in die Reihe der anderen Orchestermitglieder?
Das ist der Gedanke der Mehrstimmigkeit. Es gibt keine einstimmige Klarheit oder nur als Illusion. Deshalb spricht der französische Philosoph Michel Serres, der ein großer Freund der Mehrstimmigkeit war, auch von "Aufklärungen" im Plural. Und das ist die große Diskrepanz dieser Zeit. Wir können so viel technologisch, wir können die kompliziertesten, vielschichtigen Produkte denken und herstellen. Aber in unseren gesellschaftlichen und politischen Kommunikationen sind wir oft ganz, ganz limitiert. Manchmal leider auch in unseren privaten.
Was könnte die Antwort einer neuen Aufklärung sein? Auch in dieser Limitierung zeigt sich eine Eindimensionalität des Denkens, es geht um einen eindimensionalen Menschen, der sich ausrichtet auf eindimensionale Ziele. Um es zuzuspitzen.
Manchmal denkt man, es ist eine Karikatur. Grob gehauen. Doch wenn man dann genau hinschaut, sieht man: Das Grobe ist die Realität. Zum Beispiel die ständige Fokussierung, in der Planung, in der Zielsetzung, in der strategischen Ausrichtung, in den Maßnahmen, in der Prioritätensetzung. "It´s the economy, stupid", heißt: Es gibt nichts anderes, was zählt. Dummkopf. Auch in der Prioritätensetzung für dich selbst.
Das Mantra der Zeit lautet: Funktionieren, optimieren, konsumieren.
Das geht bis hinein in die Darstellungsformen. Kein Managementbuch, kein Artikel, kein Seminar ohne 4-Felder-Matrix. Alles wird zurechtgestutzt, bis es in eine Matrix mit einer X-Achse und einer Y-Achse passt. Und beide Achsen haben immer irgendwie mit Business zu tun. Die Y-Achse steht meist für Technologie und die X-Achse für Zeit: Also Wachstum von Technologie in der Zeit. Am besten ein steiles, exponentielles Wachstum, wie bei der kalifornischen Ideologie. So werden die Charts gebaut. So wird die Welt gebaut. Letztlich setzt man alles auf eine Karte. Das ist beschränkte Rationalität. Dagegen müsste ein humanes, aufgeklärtes Denken auf mehr Dimensionen bestehen.
Diese Idee der einseitigen Aufklärung findet sich ja auch schon bei Schiller in seinen Ausführungen über die Grenzen der Vernunft, wo er sagt: Die Vernunft kann ein Gesetz finden und aufstellen, vollstrecken aber muss es der mutige Wille und das lebendige Gefühl. Das ist diese zweite Dimension, die der vereinseitigten Rationalität fehlt. Und Schiller spricht auch von der Entwicklung des Empfindungsvermögens. Wie du eben argumentiert hast, Vernunft und Gefühlsmäßiges schließen sich gar nicht aus. Dieser Gedanke ist hier schon angelegt.
Schön, dass Du Schiller erwähnst. So viel hat er versucht, zu durchdenken, vorzudenken. Insbesondere natürlich in der großen Abhandlung - bei der er nachher selbst nicht mehr ganz sicher war, ob das eigentlich sein Metier ist: seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen. Das ist wohl eine eher theoretische Abhandlung, keine literarische Arbeit. Völlig unterschätzt, so meine ich, manche Leute haben sie leichthin abgetan als Ausdruck einer idealistischen Wendung der Geschichte: Der Mensch flüchtet in die Ästhetik, weil er in der Politik und im realen Leben die Sachen nicht richtig auf die Reihe kriegt. Doch das wird dieser Arbeit nicht gerecht. Natürlich hat Schiller manchmal die Neigung zum Pathos. Aber in diesen Briefen steckt viel mehr drin: vielfältige Bezüge und Vernetzungen zwischen Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Alltagsleben. Eben Empfindungsvermögen. Mit weitsichtigen Bemerkungen zur Rolle des Spiels und zur Bedeutung der Schönheit für unser Empfinden und für unser Erkennen. Man sollte sie ruhig noch einmal lesen ...
Wir haben also, um es praktisch zu wenden, zwei Elemente: diese Mehrdimensionalität des Denkens und diese ganzheitliche, auch die Gefühle mit einbeziehende Entwicklung von Einfühlungsvermögen und Empathiefähigkeit. Hinzu kommt ein drittes Motiv, das sich auch aus der Aufklärung schöpfen lässt. Denn es ging auch darum, die ständische Gliederung der alten Gesellschaft zu überwinden und einen Umgang auf Augenhöhe zu finden. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die formell ständefrei ist, aber wir haben noch keine hierarchiefreie Form des Umgangs miteinander gefunden. Wäre das eine dritte Dimension, eine dritte Komponente?
Ja, ich denke ja. Das ist eine der Hauptfragen, vor denen Organisationen heute stehen: Wie verändern wir die Zusammenarbeit und den Umgang miteinander, um mit diesen neuen, vernetzten Verhältnissen klarzukommen? Da gibt es verschiedene Ansätze und Formen. Design Thinking ist eine davon: eine Form einer kreativ-spielerischen, durchaus auch ästhetische Elemente einbeziehenden Herausforderung der starren, hierarchischen Formen der Organisation. Insofern ist das, was du mit "auf Augenhöhe" bezeichnest, eine der großen Fragen: Wie gelingt es, sich von den industriellen, hierarchischen, klassischen Strukturen zu befreien und neue Strukturen und Prozesse, neue Arten der Zusammenarbeit, des Umgangs miteinander zu entwickeln? Wissend, dass jetzt hier nicht paradiesische Zustände völliger Hierarchiefreiheit ausbrechen werden - dazu ist dieser Mensch, wie Kant gesagt hat, aus zu krummem Holz geschnitzt. Aufgeklärtere Formen zu entwickeln, Konflikte und Machtgeschichten in der Zusammenarbeit besser zu verhandeln, das ist eine der großen Aufgaben, die uns jetzt bevorstehen.
"Hierarchiefrei" war auch nicht in einem naiven Sinne als gänzliche Abwesenheit von Hierarchie gemeint. Sondern als Abwesenheit formeller Hierarchie, die qua Organisation Rangordnungen vorgibt - was nicht ausschließt, dass es persönliche Autorität gibt, dass es Followership und Leadership gibt. Das alles ist durchaus menschlich. Und es ist sinnvoll, diese Dimensionen zu entwickeln.
Und gerade deshalb ist der Gedanke der Aufklärung gerade hier so wichtig. Manche in diesen neuen Bewegungen denken, wenn sie in ihrem Teilbereich eine neue Form gefunden haben, ein neues Format, eine neue Methode, dann ist schon das Heil da. Ich überspitze ein wenig, aber oft ist es so. Die Frage jedoch ist: Wie gehen wir um mit den neuen Herrschaftsverhältnissen, die unter veränderten Vorzeichen als Plattform, oder wie auch immer sie genannt werden, gerade entstehen? Wie wenden wir diese kreative Revolution so, dass sie nicht in den Circle gerät, über den wir gesprochen haben?
Oder wie wenden wir die Digitalisierung so, dass sie nicht von staatlichen Zentralen autoritär zur eigenen Machterweiterung gebraucht wird - mit der plausiblen Zielsetzung, so endlich die großen sozialen und ökologischen Probleme lösen zu können? Am Horizont erscheint die Vorstellung eines Staats, der die individuellen Rechte des einzelnen konsequent kassiert, um den Bürgern ein gesundes und langes Leben zu ermöglichen: der fürsorgliche Überwachungsstaat. Die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh hat dieses Szenario in ihrem Buch Corpus Delicti eindrucksvoll beschrieben.
Wie ordnen wir diese Befreiungsversuche in den Unternehmen ein? Und welche Bedeutung haben sie - allgemeiner - für die Weiterentwicklung von Demokratie?
Wir spitzen die Aufklärung meist zu auf Kants eine Schrift Was ist Aufklärung?. Aber es rumort und gärt schon Jahrzehnte davor. Die Höfe waren seit Mitte oder vielleicht schon dem frühen 18. Jahrhundert so etwas wie Labore der Aufklärung. Überall wurden Akademien gegründet, Wissenschaftler gefördert, und einige Vertreter der höfischen Gesellschaft haben selbst versucht, sich aufzuklären. Die Aufklärung erscheint nicht mit einem Mal wie Phönix aus der Asche. Es gibt nie eine reine historische Parallele, aber vielleicht sind manche Unternehmen heute so etwas wie damals die aufgeklärten Höfe: Labore, in denen experimentiert und ausprobiert wird.
Was wir ja beobachten: Heute gärt es in den Unternehmen stärker als im politischen Bereich, in der Zivilgesellschaft oder in der Verwaltung: Mehr als anderswo wird in Unternehmen vielfach mit unterschiedlichen Formen der Demokratie und der Organisation experimentiert. Und das finde ich extrem spannend: Unternehmen sind gewissermaßen zu Experimentierstuben in Sachen neuer Organisationsformen geworden.
Genau. Und wenn man das jetzt wiederum noch mal mit der industriellen Revolution vergleicht: Damals ging es auch um die Befreiung von den höfischen, ständegesellschaftlichen Fesseln. Heute geht es auch und immer noch um die Befreiung von den industriellen Fesseln. Deswegen wirkt in den Unternehmen heute die kreative Revolution so stark.
Hier wird gegenwärtig auch viel mehr experimentiert, viel freier mit dem Thema Erneuerung umgegangen. Freier als etwa in der Politik oder Verwaltung. Wir könnten im Land viel weiter sein in puncto Innovationen und in der Digitalisierung, wenn wir kreativer an das Neue herangehen würden. Wenn wir in manchen Bereichen nicht so viel Bürokratie, Ängstlichkeit, Silodenken, Unternehmerfeindlichkeit und eine tiefe Abneigung gegen das Scheitern hätten. Wir scheitern, weil wir das Scheitern nicht zulassen. Wenn du in Deutschland für irgendetwas Neues einen Antrag stellst, musst du den Behörden vorher bis ins Detail erklären, warum und wie das Projekt ein Erfolg wird. Aber das nur als Randbemerkung.
Und so, wie es in der industriellen Revolution darum ging, Arbeitskräfte, die in der Landwirtschaft freigesetzt wurden, gefügig zu machen für die industrielle Produktionsweise, sie zu trainieren für und hineinzuzwingen in eine neue Form der Arbeit, wiederholt sich diese Situation heute unter veränderten Vorzeichen: Wieder geht es darum, neue Arbeitsformen einzuüben, nur ähnelt diese nachindustrielle Form des Arbeitens und Lebens oftmals mehr der vorindustriellen als der industriellen: Arbeitsweisen sind nicht im Detail vorgeschrieben, der Tagesablauf ist nicht voll durchstrukturiert, unterschiedliche Lebensbereiche, unterschiedliche Arbeitsformen werden miteinander kombiniert. Was neu hinzukommt, ist Kreativität.
Das ist der befreiende Impetus. Doch gleichzeitig entsteht ein neues Herrschaftsmoment in Gestalt der großen digitalen Konzerne. So wie damals die Besitzer der Fabriken, in denen die doppelt freien Arbeiter eingespannt wurden, zu ihren neuen Herren und Machthabern wurden. Das mag uns zu denken geben. Wir sollten ein Auge darauf werfen, wie die neuen Macht- und Herrschaftsverhältnisse sich entwickeln. Und wir sollten in neuer Weise darüber nachdenken, wie die Demokratie sich entwickeln könnte. Und was sie in ihrem Kern auszeichnet: Gewaltenteilung und Widerspruch. Die Idee der Gewaltenteilung, die auf einen Vordenker der europäischen Aufklärung, auf Montesquieu, zurückgeht, ist zuerst konsequent in der amerikanischen Verfassung als Prinzip der Checks and Balances verwirklicht worden. Checks and Balances ist ein Widerspruchsprinzip. Widerspruch gehört zum Kern der Aufklärung und der Demokratie.
Demokratie besteht nicht nur aus freien Wahlen und Mehrheitsentscheidungen. Beides kann, wie wir aus der eigenen Geschichte wissen, ziemlich danebengehen, wenn demokratiefeindliche Ideologien oder Apparate sich ihrer bemächtigen. Demokratie beruht auf Widerspruch. Das unterscheidet Demokraten von Diktatoren. Diktatoren dulden keinen Widerspruch. Aber die Demokratie ist eine Ermutigung zum Widerspruch! Und sie ist die Zivilisierung des Widerspruchs. Der Widerspruch bekommt eine Form. Etwa die Form von Parteien, die als Opposition fungieren. Oder die Form der Gewaltenteilung.
Das ist der praktischen Kern meiner Kritik an der Einseitigkeit der kalifornischen Ideologie: Die Technologists mögen und verstehen die Demokratie nicht. Weil sie den Widerspruch nicht mögen und nicht verstehen.
Doch allmählich dämmert es uns - übrigens eine schöne Metapher der Aufklärung -, dass es hier um existenzielle Dinge geht. Nämlich um unsere Freiheit. Dazu gehören Abweichungen. Es sind die Abweichungen, die Europa ausmachen. Die Abweichler haben uns vorangebracht.
Und französische Intellektuelle spielten dabei oft eine bedeutende Rolle. Wir haben eben von Sartre und Camus gesprochen. Ich möchte noch auf zwei andere französische Denker verweisen, die für das Thema so wichtig sind: Zuerst auf den schon erwähnten Michel Serres, einen der großen, unorthodoxen, naturwissenschaftlich geschulten Philosophen dieser Zeit. Er hatte ein leichtes, fast agiles, experimentelles Verständnis von Aufklärung. Und René Girard, ein großer zeitgenössischer Intellektueller, der in Frankreich geboren wurde und in den USA, nämlich in Stanford, als Kulturanthropologe lehrte. Er hat eine Fragestellung immer wieder und immer wieder zu beleuchten versucht: Wie geht der Mensch mit Beziehungen um und warum und wie entsteht Gewalt? Nun würde Girard sich wahrscheinlich nicht als aufklärerischer Denker verstehen, weil er tief religiös ist. Aber in meinem Verständnis von Aufklärung gehört dieses In-Beziehung-Denken, dieses tiefe Nachdenken über die Art und Weise, wie wir mit Beziehungen umgehen, was in Beziehungen entstehen kann und wie wir verhindern können, dass Aggression und Gewalt sich ausbreiten, mit dazu. Es ist eines der Leitmotive der neuen Aufklärung. Und ein Thema, an dem wir noch viel zu arbeiten haben.
Ganz kurz
Die fünfte Gesprächsschleife hat sich erneut der Schlüsselfrage zugewendet, welches Denken es braucht, um sich in der komplexen und uneindeutigen Welt heute zurechtzufinden. Dabei erwiesen sich zwei Gedanken aus dem vierten Gespräch als fruchtbar: dass (erstens) die Mehrstimmigkeit der Musik ein Leitmotiv für Erkennen und von Verstehen in Komplexität bildet und (zweitens) der Widerspruch als fortleitende Kraft des Denkens geschätzt und nutzbar gemacht werden sollte. Denn Widerspruch gehört zum Kern der Aufklärung und auch der Demokratie. Am Ende geht es um die Beobachtung, dass Unternehmen gewissermaßen zu Experimentierstuben in Sachen neuer Organisationsformen geworden sind.
Zitate
"Humanität ist eine Gabe." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
"Verstehen von Polaritäten, von Widersprüchen und Ambivalenzen, von Konflikten, von widerstreitenden Kräften gehört zum kreativen, schöpferischen und kritischen Denken der neuen Aufklärung." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
"Wir reden zwar manchmal davon, Perspektiven zu wechseln und andere Sichtweisen zu ermöglichen, insbesondere in kreativen Prozessen, aber es sind ganz seltene Momente, wo das wirklich gelingt." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
"Wir werden eine neue Art von Mehrstimmigkeit brauchen, um uns als menschliche Wesen in einer komplexen Welt zurechtfinden und verständigen zu können." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
"Aufklärung entstammt dem Urbegriff der Klarheit. Werden die Dinge klar? Wie kann man sie klären? Wie zur Klärung beitragen?" Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
"Das Grobe ist die Realität. Zum Beispiel die ständige Fokussierung, in der Planung, in der Zielsetzung, in der strategischen Ausrichtung, in den Maßnahmen, in der Prioritätensetzung." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
"Eine der Hauptfragen, vor denen Organisationen heute stehen, ist: Wie gelingt es, sich von den industriellen, hierarchischen, klassischen Strukturen zu befreien und neue Strukturen und Prozesse, neue Arten der Zusammenarbeit, des Umgangs miteinander zu entwickeln?" Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
"Unternehmen sind zu Experimentierstuben in Sachen neuer Organisationsformen geworden." Aus dem Gespräch über eine neue Aufklärung
"In Unternehmen wird gegenwärtig viel mehr experimentiert, viel freier mit dem Thema Erneuerung umgegangen. Freier als etwa in der Politik oder Verwaltung." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
"Widerspruch gehört zum Kern der Aufklärung und der Demokratie." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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Bernhard von MutiusBernhard von Mutius ist Sozialwissenschaftler und Philosoph, systemischer Berater und Führungscoach. Er ist Autor zahlreicher Publikationen über Erneuerungsprozesse in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Sein Hauptaugenmerk gilt der Entwicklung einer disziplinübergreifenden Denkkultur, die uns helfen könnte, mit den komplexen Prozessen unserer Zeit verständiger umzugehen. © Autorenfoto: Richard Pichler