Leben in einer Übergangszeit
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen - und des der anderen. Das könnte das Leitmotiv einer neuen Aufklärung sein, die auf einem neuen Denken und einem erweiterten Verständnis von Rationalität gründet. Die Koordinaten dieses neuen Denkens beschreibt Bernhard von Mutius im Gespräch mit Winfried Kretschmer.
Unsere Ausgangsfrage: Was müssen wir wissen, um den Wandel unserer Welt zu verstehen?
Zuvor: einige Sätze über die Form des Gesprächs und das Entstehen des Textes.
Neue Aufklärung: das Gespräch und die Form
Dieses Gespräch kreist um den zentralen Gedanken, dass der einseitige Rationalismus in eine Sackgasse geführt hat. Genauer: das eindimensional rationalistische Denken, das auf analytischer Präzision und logischer Widerspruchsfreiheit aufbaut. Damit ist nichts gegen diese Form des Denkens gesagt, und schon gar nichts gegen logisch klares Denken an sich - dort, wo es seinen Platz hat. Aber nicht darüber hinaus und nicht als einziger, dominierender, ja herrschender Denkmodus. Der Rationalismus bedarf der Ergänzung durch ein anderes Denken - durch vernachlässigte, verschüttete und neu zu entdeckende Denkweisen. Es braucht ein (im weiteren Sinne) wildes Denken, das sich nicht nur in den ausschließenden Kategorien des Entweder-oder bewegt, sondern Sowohl-als-auch, Widerspruch, Paradoxien wie auch Bilder, Metaphern, Symbole und Analogien einbezieht - das aber dennoch wieder auf den Punkt zu kommen versucht. Das Klarheit und Klärung sucht und erstrebt. Das ist der Kerngedanke einer neuen Aufklärung, wie sie in dieser Folge von Gesprächen entwickelt wird.
Heute vermag keiner von uns (Bernhard von Mutius und Winfried Kretschmer) mehr zu sagen, wann zum ersten Mal das Stichwort zweite oder neue Aufklärung fiel - war es bereits in unserem ersten Gespräch, damals im Herbst 2014 am Rande einer Tagung? Oder erst später, in dem sporadischen Austausch, der sich an dieses Zusammentreffen anschloss? Gewiss ist: Dieses Stichwort elektrisierte. Eine neue Aufklärung, die das Denken auf den Stand der Zeit bringt, indem sie die Herrschaft eines verselbständigten Rationalismus bricht und Freiräume schafft für ein freieres, anderes Denken, ist eine faszinierende Idee. Eine Idee, die inspiriert hat. Aus diesem Ideenfunken entstand das Vorhaben, dieser neuen Aufklärung in einer Folge von Interviews, also in Gesprächsform näher zu kommen. Eben dialogisch, nicht monologisch. Der Logik des Austauschs folgend, nicht der der Abhandlung.
Der Text basiert auf einer Folge unstrukturierter Gespräche (sieben waren es bislang, die wir in einem Zeitraum von fünf Jahren geführt haben). Unstrukturiert in dem Sinne, dass es keine Agenda, keinen Fahrplan, keine Leitlinie gab, keine vorgegebene Form und auch kein zuvor abgesprochenes Thema. Sondern allein das Interesse, den Gedanken einer neuen Aufklärung einzukreisen, seinen Verästelungen nachzugehen und seine Seitenarme auszuloten. Wir haben uns getroffen und gesprochen, wir haben uns dem Thema aus unterschiedlichen Richtungen genähert und haben unter dem Eindruck von Zeitereignissen ganz neue Themenfelder angeschnitten.
Zugleich war diese unstrukturierte Form eine Herausforderung für die Bearbeitung des Textes der wörtlich transkribierten Gespräche. Weil ein längerer Text Aufbau, Struktur und Leserführung braucht, haben wir den Gesprächstext redigiert, gekürzt, Formulierungen präzisiert und hier und da einige Sätze hinzugefügt. Dabei haben wir freilich den Gesprächscharakter nicht preisgegeben, sondern den Verlauf und Duktus des Gesprächs nah am Original gehalten.
Zweite Aufklärung setzt sich damit vom Konstruktionsprinzip vieler Texte ab. Es unterwirft sich nicht einer analytischen Gliederung, folgt nicht einem linearen Muster, sondern der Logik des Dialogs, des aufeinander bezogenen Austauschs von Ideen und Gedanken. Die Form des Gesprächs ist die der Schleife. So kehrt ein Gespräch zu bestimmten Themen zurück, umkreist sie, berührt und behandelt sie auf unterschiedlichen Ebenen in unterschiedlicher Weise - abstrakt, beispielhaft metaphorisch -, um sich dann der nächsten Fragestellung zuzuwenden oder der nächsten Assoziation nachzugehen. So verläuft auch dieses Gespräch über zweite Aufklärung in Schleifen.
Worum es geht - und das ist der Kern dieses faszinierenden Projekts, das sich Aufklärung nennt: nicht nachzulassen darin, auf die Kraft des besseren Arguments zu vertrauen. Und auf die Fähigkeit des Menschen zu setzen, sich über die Abwägung von Gründen zu verständigen. Und vielleicht über die Verständigung, die ein Verstehen voraussetzt, eine bessere Lösung zu finden. Eine Lösung, die besser ist als das, was jeder Einzelne in den Verständigungsprozess eingebracht hat. Das meint die Wendung "Vom Ich zum intelligenten Wir". Von Winfried Kretschmer
Neue Aufklärung: erste Schleife des Gesprächs
Womit beginnen? Unsere Ausgangsfrage: Was müssen wir wissen, um den Wandel unserer Welt zu verstehen? In einer Zeit, die eine Übergangszeit ist. Bernhard von Mutius im Gespräch mit Winfried Kretschmer
Beginnen wir ganz allgemein: Was müssen wir wissen, um den immer schnelleren Wandel unserer Welt zu verstehen?
Erstens, dass wir uns in einer Übergangszeit befinden. Übergangszeiten sind historische Perioden, oder gar Epochen. Der alte Begriff Epoche bedeutet ja eine Zäsur, aber in Wirklichkeit geht das über große Zeiträume hinweg. Denken wir daran, wie lange die Industrialisierung gedauert hat. Das ging über Generationen. Wenn man sich das klarmacht, gelangt man zu einem anderen Verständnis. Übergang heißt dann nicht, dass gleichsam ein Schalter umgelegt wird, und wir haben ein neues Paradigma, ein neues Verständnis von etwas - die Next Organisation oder die Next Society. Sondern das ist eine Übergangsphase. Mit Ungleichzeitigkeiten: Das Tempo des technologischen Wandels wird immer höher. Aber Organisationen haben eine andere Veränderungsgeschwindigkeit. Menschen haben andere Rhythmen. Und soziale Systeme brauchen sehr viel länger, um sich auf das Neue einzuschwingen. Das muss man sich klarmachen. Das ist der erste Punkt: Wir leben in einer Übergangszeit.
Der zweite Punkt ist, dass wir uns vergegenwärtigen - und das ist vielleicht einer der entscheidenden Paradigmenwechsel -, dass das Nichtwissen im Wissen so wichtig ist. Es gibt diese schöne Geschichte von Umberto Eco und seiner Bibliothek, er hatte ja eine gigantische Bibliothek. Irgendwelche wissbegierigen Leute kommen ihn besuchen und sagen, als sie die Bibliothek besichtigen: "Ah, Herr Eco, haben Sie die alle gelesen?" Und er antwortet: "Nein, natürlich nicht. Das Spannendste an meiner Bibliothek sind die nicht gelesenen Bücher." So ähnlich müssen wir uns das auch beim Wissen vorstellen: Das Spannendste an dieser Zeit ist das Nichtwissen. Es gilt, das Nichtwissen im Wissen zu akzeptieren. Nichtwissen bedeutet nicht Resignation, sondern Staunen, Entdecken und Erkennen.
Was bedeutet es, sich das Unwissen im Wissen bewusst zu machen?
Wir hingen lange Zeit der Vorstellung an, dass die Entwicklung der Welt irgendwie geradlinig ansteigend verläuft. Und wenn ich hier von "wir" rede, ist das natürlich eine Pauschalierung. Ich meine damit nicht jeden Einzelnen und nicht den wissenschaftlichen Diskurs, sondern mir geht es eher um das Alltagsbewusstsein. - Unser Fortschrittsdenken beruhte gemeinhin auf der Vorstellung "schneller, höher, weiter". Und so haben wir uns auch die Welt, ich sage mal: zusammengebastelt. Wir dachten, es ginge immer linear nach oben. Statistiken und Charts haben so ausgesehen. Die PowerPoint-Charts, die im Management präsentiert werden, sehen übrigens immer noch so aus: Es geht von links unten nach rechts oben. Und dann haben wir noch einen Kasten darum gemacht, weil wir immer gerne in Kästchen denken. Das war das Weltbild, das wir aufgebaut haben. Doch damit haben wir eher Kulissenschieberei begangen.
Denn wir sehen da draußen in der Welt keine Kästen, wir sehen auch ganz selten solche linear aufsteigenden Linien. Sondern die Wirklichkeit gleicht eher einem Bergweg als einer Autobahn. Mit vielen Höhen und Tiefen, manchmal auch mit steil-exponentiellen Kurven. Diesen Paradigmenwechsel zu vollziehen, aus dieser Welt der Kästen und der Linearität auszusteigen und uns mehr, wie ich das nenne, mit einem Offroad-Denken zu beschäftigten, das ist, so glaube ich, eine der entscheidenden Herausforderungen dieser Zeit.
Was verlangt dieses neue Denken von uns?
Es bedeutet, eine andere Haltung einzunehmen. Eine Haltung, die nicht davon ausgeht, zu wissen, was in der Zukunft geschieht. Nicht im Voraus zu wissen, was kommt. Sondern die sich darauf einlässt, dass Unerwartetes, Überraschendes passiert. Etwas, was wir nicht geplant haben. Eine Abzweigung, eine Abweichung.
Die Vorstellung, dass die Zukunft ungewiss ist, hat sich erst entwickeln müssen. Auf dem Höhepunkt der Industriegesellschaft zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien Zukunft planbar. Dieses Paradigma bekam allmählich Risse - einen entscheidenden Wendepunkt signalisiert Nassim Nicholas Talebs Bestseller Der Schwarze Schwan, erschienen am Vorabend der Finanzkrise im April 2007. Hat dieses Buch den Blick auf die Welt verändert?
Schwarze Schwäne werden uns erst dadurch bewusst, dass einer überhaupt mal davon spricht. Nassim Nicholas Taleb hat uns mit seinem Buch zum ersten Mal darauf aufmerksam gemacht, dass es sie gibt. Wir sind meist davon ausgegangen, dass es in unserer Welt nur weiße Schwäne gibt. Aber es gibt auch schwarze Schwäne. Und die schwarzen Schwäne spielen eine ganz bedeutende Rolle in der Geschichte wie in der Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Haben wir das einmal erkannt, gewinnen wir einen ganz anderen Blick auf die Realität, verändert sich unser Blick auf die Welt. Nicht zufällig kommt das zu einer Zeit, in der wir mit vielen Krisen zu tun haben. Überraschungen sind sowohl negativer Art, das sind Krisen, als auch positiver Art: Es entsteht etwas Neues. Und damit sind wir wieder bei dieser Übergangszeit. Es passt zusammen.
Was beinhaltet dieser Paradigmenwechsel?
Dazu gehört, zu verstehen, dass diese Welt komplex ist und komplexer wird. Sie war auch früher komplex, aber durch die zunehmende Vernetzung und Beschleunigung, durch die Digitalisierung nimmt die Komplexität zu. So spüren wir es. Und dadurch nehmen auch die überraschenden Momente zu. Entscheidend ist: Mit Komplexität umzugehen ist nach meiner Auffassung eine der wichtigsten Kompetenzen heutzutage. Der Umgang mit Komplexität ist gewissermaßen die zweite Fremdsprache, die jeder erlernen muss neben dem Englischen.
Zu dem Paradigmenwechsel gehört auch, zu begreifen, dass viele Dinge selbstorganisiert entstehen.
Dazu gehört schließlich ein Sowohl-als-auch-Denken. Nämlich zu begreifen, dass Dinge sowohl eine Ordnungsseite haben als auch eine Chaosseite. Da gibt es nun eine schöne Parallele. Nämlich das Bild von Joseph Beuys für Kreativität. Er fragt, was ein kreativer Prozess ist und was wir dafür brauchen. Seine Antwort: Wir brauchen zum einen ein Verständnis dafür, dass etwas chaotisch ist - und gleichzeitig haben wir zumindest die Vorstellung, in einen Zustand der Ordnung zu kommen. Wir brauchen also ein Verständnis von Chaos, aber auch von Ordnung. Beides ist wichtig.
Aber nicht im Sinne eines statischen Gegensatzes? Eher als dynamischer Prozess?
In Wirklichkeit ist es eher ein iterativer Prozess in einer kreativen Entwicklung. Solange wir uns nur auf der Seite der Ordnung aufhalten, scheinen wir auf der sicheren Seite zu sein. Überrascht uns etwas Unvorhergesehenes, wirken solche überraschenden Momente chaotisch in unserer Organisation, in unserem Leben. Wir haben das Gefühl, dass wir nicht damit umgehen können.
Die Schlussfolgerung: Integrieren wir das Chaotische in unser Denken, in unsere Handlungen, in unsere Köpfe, dann haben wir die Möglichkeit, kreativer mit der Welt umzugehen. Es ist ein starkes Denkbild für Innovationen, für Grenzüberschreitungen. Übrigens findet es sich in einem ganz anderen Kontext schon bei Adorno: "Aufgabe von Kunst ist es heute, Chaos in die Welt zu bringen", schreibt er in den Minima Moralia.
Dieses Sowohl-als-auch ist - neben dem Nichtwissen - eines der Grundelemente des Paradigmenwechsels dieser Übergangszeit - so hoffe ich jedenfalls. Daraus erwächst die Fähigkeit, mit Ordnung und mit Chaos umzugehen - und irgendwann vielleicht auch damit spielen zu können. Eine gewisse Souveränität zu entwickeln, mal hinüber auf die Chaosseite zu gehen und mal wieder auf die Ordnungsseite. Zumal uns das Chaos sonst eben unfreiwillig erwischt.
Sowohl-als-auch ist ein klassischer Topos neuen Denkens. Aber auch Gegensätze, Widersprüche und Brüche sind wichtig und fruchtbar. Wie geht das zusammen?
Die Grundform ist in beiden Fällen die gleiche. Klammer auf: Für mich sind Formen genauso wichtig wie Formeln. Klammer zu. Wir haben es zu tun mit Polen, Spannungsfeldern. Widersprüchen. Sowohl-als-auch sagt: Beide Seiten gehören zur Realität. Den Widerspruch zwischen beiden Seiten gilt es anzunehmen und produktiv zu machen.
Das herkömmliche Denken eliminiert den Widerspruch, indem es sich auf die eine oder die andere Seite schlägt: Du musst dich entscheiden. Rouge ou noir. Schwarz oder Weiß. Bist du dafür oder dagegen? Bist du für oder gegen die digitale Transformation, für oder gegen den technischen Fortschritt? Bist du für oder gegen die Segnungen, die wir, Alphabet, Amazon und Co., dir, der Welt, dem künftigen Verkehr, der Gesundheit, der Bildung et cetera bringen?
Also, bist du ein Optimist oder ein unverbesserlicher Pessimist?
Doch das sind archaische, unfruchtbare Entweder-oder-Raster. Es gilt vielmehr ganz genau hinzuschauen: das Positive, die Stärken, aber auch die Widersprüche in der Entwicklung wahrzunehmen, um zu sehen, wo und wie daraus etwas Fruchtbares entstehen kann. Denn wenn wir die Widersprüche nicht von Anfang an beachten, werden sie uns später nur Furchtbares bescheren.
Ganz kurz
Die erste Gesprächsschleife hat versucht, die Koordinaten eines neuen Denkens in unserer Zeit zu umreißen. Die fünf Kerngedanken: Das Nichtwissen im Wissen akzeptieren. Mit Komplexität umgehen lernen. Im Sowohl-als-auch denken - Chaos, aber auch Ordnung. Kontingenz akzeptieren: dass es meist anders kommt, als geplant. Und alles anders sein könnte. Und schließlich: Widersprüche annehmen und produktiv machen.
Zitate
"Das ist der erste Punkt: Wir leben in einer Übergangszeit. Der zweite Punkt ist, dass wir uns vergegenwärtigen, dass das Nichtwissen im Wissen so wichtig ist." Bernhard von Mutius über eine neue Aufklärung
"Es gilt, das Nichtwissen im Wissen zu akzeptieren. Nichtwissen bedeutet nicht Resignation, sondern Staunen, Entdecken und Erkennen." Bernhard von Mutius über eine neue Aufklärung
"Wir brauchen ein Verständnis von Chaos, aber auch von Ordnung. Beides ist wichtig." Bernhard von Mutius über eine neue Aufklärung
"Sowohl-als-auch sagt: Beide Seiten gehören zur Realität. Den Widerspruch zwischen beiden Seiten gilt es anzunehmen und produktiv zu machen." Bernhard von Mutius über eine neue Aufklärung
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Bernhard von MutiusBernhard von Mutius ist Sozialwissenschaftler und Philosoph, systemischer Berater und Führungscoach. Er ist Autor zahlreicher Publikationen über Erneuerungsprozesse in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Sein Hauptaugenmerk gilt der Entwicklung einer disziplinübergreifenden Denkkultur, die uns helfen könnte, mit den komplexen Prozessen unserer Zeit verständiger umzugehen. © Autorenfoto: Richard Pichler
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