Abkehr von ökonomischer Rationalität.
Doch lassen wir die ökonomischen
Aspekte des Rentenstreits einmal beiseite. Sie werden in den
Medien derzeit ohnehin eingehend und differenziert beleuchtet,
und die Position der qualifizierten Ökonomen hierzu ist
hinreichend eindeutig. Unterstellen wir sogar einmal, es sei
ökonomisch irrelevant, ob die Renten nun um drei Prozent steigen
oder nicht, und der Staat könne sich trotz seines
Verschuldungsniveaus in vierstelliger Milliardenhöhe auch noch
eine Rentengarantie und damit eine weitere Erhöhung des größten
Postens im Staatshaushalt leisten. Selbst dann wären die
aktuellen politischen Beschlüsse unverantwortbar. Denn viel
wichtiger als die Frage, ob es denn nun vielleicht ein Prozent
weniger oder mehr sein soll, kann oder darf, ist die Frage der
ordnungspolitischen Stringenz: Im Kern bedeuten Rentengarantie
und Außerkraftsetzung von Rentenformel nichts anderes als die
Abkehr von ökonomischer Rationalität und die
Politisierung der Rentenfindung. Und dies ist - vollkommen
unabhängig von allen durchaus verständlichen sozialen Erwägungen
- ein ordnungspolitischer Sündenfall.
Letzterer steht keineswegs allein. Durchaus vergleichbar
ist die Situation bezüglich der Mindestlohndiskussion. Kein
einziger anständiger Mensch würde den Betroffenen einen
Mindestlohn von 7,50 Euro, 8,50 Euro oder auch zehn oder zwölf
Euro missgönnen. Doch auch hier stehen ökonomische
Wirkungszusammenhänge - noch dazu im Kontext globaler
Wettbewerbszwänge - und soziales Empfinden in einem deutlichen
Spannungsfeld. Es sei an dieser Stelle erneut auf die Aufzählung
der relevanten ökonomischen Argumente verzichtet. Und es sei
wiederum angenommen, das sozial Gewünschte sei auch wirklich
wirtschaftlich darstellbar, ohne dass die, denen man vorgeblich
helfen will, am Ende (etwa durch Arbeitsplatzverlust oder
verhinderten Arbeitsplatzgewinn) am meisten unter den Folgen
potenzieller gesetzlicher Festlegungen zu leiden hätten. Aus
ordnungspolitischer Sicht ist auch der Mindestlohn ein
Sündenfall, denn er bedeutet nichts anderes als die
Politisierung der Lohnfindung (und ist zugleich - ob zu
Recht oder zu Unrecht - ein deutliches Symbol für einen Mangel an
gewerkschaftlicher Kraft).
Noch deutlicher wird der Verlust und Verfall an
ordnungspolitischer Stringenz und Vernunft am Beispiel des
Deutschlandfonds. Das, was dimensional in etwa "Holzmann mal
1.000" entspricht, bedeutet schlussendlich nichts anderes als die
Politisierung des Wettbewerbs. Der Staat macht sich selbst
zum Herrn über Leben und Tod - zum Glück nicht im Hinblick auf
Menschen, durchaus aber in Bezug auf Unternehmen und
Unternehmensschicksale. Wer als Unternehmen im Einzelfall (mit
Staatshilfe zumindest temporär) "überleben" darf und wer (ohne
Staatsunterstützung unternehmerisch sofort) "sterben" muss, wird
nicht mehr vom Wettbewerb und von den Kunden (beziehungsweise dem
Insolvenzrecht) entschieden, sondern vom allmächtigen Staat. Die
Politisierung von Wettbewerb jedoch bedeutet letztlich die
Verschiebung der Wettbewerbsfunktion auf die staatliche
Administration und Bürokratie - die mit dem Wettbewerb naturgemäß
nur begrenzte Erfahrung hat und dadurch logischerweise von ihm
auch nur ein begrenztes Verständnis haben kann. In der gelebten
Realität bedeutet diese Verschiebung sogar eine potenzielle
Verantwortungsübertragung an Gremien außerhalb angemessener
demokratischer Transparenz und Kontrolle.
Parteieninteresse anstelle ökonomischer Vernunft.
Rentengarantie, Mindestlohn und Deutschlandfonds in Summe reflektieren eine dramatisch und beängstigend zunehmende Politisierung der Ökonomie. Und das wiederum heißt nach aller gewonnenen Lebenserfahrung nichts anderes als Entlanghangeln an Gemengelagen sowie Fokussierung auf wahltaktische Überlegungen und Parteieninteresse anstelle ökonomischer Vernunft und faktenbasierter Entscheidungsfindung. Glaubt ein einziger Mensch allen Ernstes, dass wir damit den Belegschaften krisengeschüttelter Unternehmen, den Erwerbstätigen im Niedriglohnbereich oder den Rentnern wirklich helfen? Denen von heute, denen von morgen oder etwa denen des Jahres 2050?
Utz Claassen ist Topmanager, Unternehmensberater, Unternehmer, Wissenschaftler und Buchautor. Bis 2007 war er Vorstandsvorsitzender der EnBW Energie Baden-Württemberg AG. Er ist Honorarprofessor am Institut für Controlling der Leibniz Universität Hannover und Professor für Innovative Unternehmensführung, Risikomanagement und Wissensmanagement an der GISMA Business School. Sein neues Buch Wir Geisterfahrer ist bei Murmann erschienen.
Utz Claassen kommentiert regelmäßig
die aktuellen Entwicklungen in Politik und Wirtschaft unter
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