Selbstverständlich

Selbstorganisation ist eine Frage von Mindset, Kompetenzen, Kultur und Struktur
Ein Essay von Andreas Zeuch

Selbstorganisation wird häufig nicht ausreichend klar von vorwiegend fremdorganisierten Systemen abgegrenzt. Und wird, ebenso häufig, vor allem mit Blick auf die Struktur behandelt. Doch so einfach ist es nicht, argumentiert unser Autor. Selbstorganisation lässt sich weder auf die Struktur oder Kultur der Organisation noch auf die Kompetenzen der Mitarbeitenden oder ihr Mindset alleine reduzieren. Das alles spielt (selbstverständlich) zusammen. Kurzum: Selbstorganisation ist eine Frage des Sowohl-als-auch.

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Selbstorganisation ist zurzeit nicht der Star unter den Buzzwords in der New-Work-Szene. Aber der Begriff muss immer wieder herhalten, denn die allmählich im Sinkflug befindlichen Konzepte Agilität oder die Teal Organization nach Frederic Laloux kommen ohne Selbstorganisation nur schwerlich aus. Ansonsten bräuchten deren Vertreterïnnen so etwas wie Partizipation oder gar eine Demokratisierung der Arbeitsverhältnisse, um ihre Ideen plausibel zu machen. Denn schließlich geht es im Kern immer darum, dass Entscheidungen nicht mehr alleine der tradierten Logik von oben-unten folgen und die Mitarbeitenden in Form von Anweisungen erreichen. Insofern muss Selbstorganisation immer wieder herhalten, wenn Unternehmen flexibler, schneller, agiler aufgestellt werden sollen. 

Häufig findet sich dabei die scheinbar provokante Aussage, dass Selbstorganisation gar nicht zu verhindern sei, in unausgesprochener Analogie zum watzlawickschen Paradigma, dass wir nicht nicht kommunizieren könnten. Soziale Systeme wären schließlich per se immer schon selbstorganisiert. Sie könnten schließlich gar nicht anders. Klingt erst mal aufrüttelnd. Ist es aber ganz und gar nicht, wenn mensch kurz nachdenkt. Dazu bedarf es keiner systemtheoretischen Tiefenbohrungen bei Luhmann, Willke oder anderen der altehrwürdigen Grandseigneurs (die Protagonisten sind bis heute hauptsächlich Männer, schade).


Definition: Die Frage, wer entscheidet …


Das Problem beginnt somit bei der Definition und dem grundlegenden Begriffsverständnis. Wenn Selbstorganisation beispielsweise als Fähigkeit eines Systems verstanden wird, aus sich selbst heraus stabile Muster der Interaktion zu erzeugen, dann ist der Begriff bis zur Unkenntlichkeit verwässert. Denn dann ist tatsächlich jedes soziale und soziotechnische System - Familien, Vereine, Organisationen … - selbstorganisiert. Und zwar deshalb, weil erstens die Akteurïnnen dieser sozialen Systeme die verschiedenen, mannigfaltigen Interaktionen zwangsläufig zumindest auch selber hervorbringen. 

Zweitens geht aus dieser Definition nicht hervor, welche Interaktionen genau gemeint sind. Reden wir über formale oder informelle Interaktionen? Beides wird immer Teil von sozialen Systemen sein, die in irgendeiner Weise formalisiert sind - also all diejenigen, die eine gesellschaftsrechtliche Form annehmen, egal ob es sich um Personen- oder Kapitalgesellschaften, Körperschaften öffentlichen Rechts oder (eingetragene) Vereine handelt. Und beides ist per se immer durch das soziale System im Ganzen selbstorganisiert. Die zentrale Frage lautet also: Wer genau erzeugt welche stabilen Interaktionen und deren Muster? 

Dabei werden die formalen Interaktionen nur in einem relativ groben Rahmen gesellschaftsrechtlich vorgegeben, so wie die Notwendigkeit einer Geschäftsführung oder eines Vorstands. Wie viele formal-fixierte hierarchische Ebenen aufgebaut werden, wird durch die Organisation selbst entschieden. Allerdings erfolgt diese Konstruktion in der Masse der Organisationen durch das Topmanagement und wird aus Sicht der Untergebenen fremdorganisiert vorgegeben. Damit ist gerade die formale Struktur einer Organisation keineswegs selbstorganisiert. Die Mitarbeitenden entscheiden nicht selbst, ob in ihrer Abteilung eine weitere Hierarchieebene eingezogen oder eine bestehende abgebaut werden soll. Sie sind meist ausgeschlossen aus der Meta-Entscheidung, wer zukünftig Entscheidungen trifft. Schließlich haben die meisten Mitarbeitenden normalerweise nur sehr begrenzte Entscheidungsbefugnisse im Bereich der operativen Partizipation, also der Gestaltung von Arbeitszeit, Arbeitsort, Arbeitsmitteln, gegebenenfalls der eigenen Arbeitsprozesse. 

Die informellen Interaktionen können aus guten Gründen nicht rechtlich reguliert sein, weil sie ohnehin nur selbstorganisiert entstehen, aufrechterhalten und wieder eingestellt werden können. Denn sie sind eine Folge der jeweiligen individuellen Werte, Präferenzen, Verhaltensweisen und Kompetenzen der Mitarbeitenden. Ob ich gerne mit den Kollegïnnen gemeinsam mittags essen gehe oder nicht, ist meine Angelegenheit; ob du gerne in der Kaffeeküche einen Plausch hältst oder nach Feierabend mit den Kollegïnnen noch ein Bier trinkst, ist deine Entscheidung. Diese informellen Interaktionen sagen aber nur wenig bis nichts über die formelle Selbstorganisation einer Organisation aus. Aus bestimmten Mustern informeller Interaktionen können wir nicht kausal und zwingend ein bestimmtes Maß formeller Selbstorganisation ableiten. 

Das entscheidende Kriterium für Selbstorganisation ist deshalb nicht, ob ein soziales System stabile Muster der Interaktion erzeugt. Viel fundamentaler und spezifischer ist die Frage, wer wann welche Entscheidungsbefugnisse hat. Denn jeder Interaktion und erst recht jeder Bildung von stabilen Interaktionsmustern geht eine Entscheidung voraus, oftmals auch mehrere. Somit liegt in meiner Definition von Selbstorganisation der Fokus auf der Entscheidungsfindung: 

Organisationale Selbstorganisation meint, dass Entscheidungen einschließlich der Entscheidungen über Strukturen (Organisationsmodelle) und Methoden dezentral ohne formal-hierarchische Wege dort getroffen werden, wo sie anfallen. 

Wenn also beispielsweise Mitarbeitende eines Supportservices einen Kunden, eine Kundin in der Leitung haben, der aus für sie nachvollziehbaren Gründen extrem verärgert ist, stellt sich die Frage, ob sie situativ über eine Kulanzleistung oder derartiges entscheiden dürfen. Von Selbstorganisation würden wir in diesem konkreten Fall nur sprechen, wenn diese Mitarbeitenden genau diese Entscheidungsbefugnis haben. Wenn sie diese Frage an ihre Vorgesetzten weiterleiten müssen ("Warten Sie bitte einen Augenblick, ich kontaktiere kurz meinen Vorgesetzten"), dann liegt zwar ein aus dem System erzeugtes stabiles Interaktionsmuster vor, die Entscheidung aber darf nicht selbstorganisiert gefällt werden. Und dass dem so ist, wurde nach meiner Erfahrung in den allermeisten Fällen wiederum nicht durch diese Support-Mitarbeitenden entschieden. Gemäß dem hier diskutierten Verständnis müsste es sich aber trotzdem um Selbstorganisation handeln, da dieses Interaktionsmuster nicht von außen rechtlich vorgeschrieben, sondern durch das System als abstrakte Entität selbst erzeugt wurde. Deshalb ist es unabdinglich, von Anfang an eine möglichst trennscharfe Definition zu nutzen, um derartig unterschiedliche Umgangsweisen nicht in denselben Topf zu werfen. 

Kurzum: Selbstorganisation betrifft die Entscheidungen.


Mindset: Setzt Selbstorganisation eine bestimmte Denkweise voraus?


Naheliegenderweise kommt irgendwann die Frage nach einem passenden Mindset auf. Aber das wird mittlerweile offenbar kritisch hinterfragt: Braucht Selbstorganisation wirklich eine bestimmte Denkweise und innere Haltung? Darauf folgt nicht selten die New-Work-kritische Wendung: Das Mindset-Denken unterstelle, dass Mitarbeitende das "richtige" Mindset noch nicht hätten - und deshalb gar behandlungsbedürftig wären. So scheinbar kritisch das daherkommt, so falsch ist es sachlich. 

Erstens: Braucht Selbstorganisation bestimmte Denkweisen und innere Haltungen? Wir können und sollten den englischen Begriff Mindset, der im Deutschen nur mit den beiden Begriffen Denkweise und innere Haltung angemessen übersetzt werden kann, in diesen beiden Bedeutungen unter die Lupe nehmen. 

(a) Denkweise: Keine Frage - Selbstorganisation setzt eine bestimmte Denkweise voraus. Denn Menschen folgen nicht einer rein linear-kausalen Logik. Und was heißt das für die Denkweise? Wer weiterhin an linear-kausalen Denkmodellen festhalten will, wird erhebliche Schwierigkeiten mit Selbstorganisation bekommen. Soziale Systeme sind, so klein sie auch sein mögen, immer komplexe Systeme. Denn wir Menschen sind keine trivialen Maschinen, bei denen der Output mit Sicherheit vorhersagbar ist, sobald wir den Input kennen. So sind wir selbst manchmal über unsere eigenen Reaktionen überrascht. Weil wir eben nicht Frau oder Herr im eigenen Haus sind. Und das mit dem Faktor 10, 100, 1000 oder 10.000 Mitarbeitende multipliziert, zeigt die systemisch-vernetzte Komplexität einer Organisation. 

(b) Innere Haltung: Auch hier ist die Lage recht eindeutig. Es braucht zwar keine "richtige" Haltung für gelingende Selbstorganisation, aber eine passende sehr wohl. Der von mir geschätzte ehemalige Siemens-Mitarbeiter Ronny Großjohann hat basierend auf seinen reichhaltigen Erfahrungen als Project Lead Factory Planning einen Aspekt der inneren Haltung wunderbar auf den Punkt gebracht: "Solange das Ego größer ist als die Idee des Projekts, gibt es keine Selbstorganisation." Das gilt zwar auch in traditionell top-down organisierten Organisationen, aber noch viel mehr für gelungene Selbstorganisation. Denn der Kommunikationsaufwand verhält sich proportional zum Freiheitsgrad: Je mehr die einzelnen Personen, Gruppen, Teams selber entscheiden dürfen, desto mehr müssen sie genau darüber kommunizieren, anstatt einfach das eigene Ego durchzudrücken. Selbstorganisation erhöht den Kommunikationsaufwand über Interaktionen, Prozesse, Strukturen, Spielregeln et cetera. Und das müssen die Betroffenen wollen. 

Insofern reicht es nicht, nur das Organisationsmodell zu ändern oder Scrum einzuführen und zu glauben (oder zu behaupten), dass das für Selbstorganisation ausreiche. Es gibt sehr wohl und immer wieder einen Bedarf an individueller Transformation, um die organisationale Transformation zu ermöglichen. Das beginnt übrigens in der Führungsspitze. Wenn der patriarchale Geschäftsführer als unternehmerisches Urgestein der Auffassung ist, Unternehmen seien keine demokratische Veranstaltung, dann ist das eine innere Haltung, was sonst? Und solange die so ist, wird es keine Selbstorganisation, geschweige denn Unternehmensdemokratie geben. Diese Haltung betrifft genauso alle Mitarbeitenden, die sich immer wieder fragen müssen, ob sie so arbeiten wollen. 

Zweitens: Der Begriff der "Behandlungsbedürftigkeit" bedeutet eine völlig unangemessene Interpretation des Mindsets als pathologisch. Das ist grober Unfug, ich kenne niemanden, der das behauptet. Aber ein Mindset kann sehr wohl passend und funktional sein - oder eben nicht. Es hat aber im Allgemeinen keinen Krankheitswert, der eine Behandlungsbedürftigkeit erfordern würde. Gleichzeitig ist es offensichtlich, dass Arbeit an sich nicht mit jeder beliebigen Denkweise und inneren Haltung - New-Work-Sprech: Mindset - erfolgreich zu bewerkstelligen ist. Egal, ob Arbeit top-down oder selbstorganisiert erledigt wird, braucht es dazu doch immer ein paar grundsätzliche Eigenschaften, wie Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit, sich selbst nicht über das Ganze stellen, Solidarität et cetera. Auf dem Weg zur praktizierten Selbstorganisation kommen darüber hinaus noch weitere Aspekte hinzu, wie zum Beispiel die oben erwähnte systemische Denkweise und die damit verbundene Demut, dass wir soziale oder soziotechnische Systeme nicht wie ein Uhrwerk konstruieren, bauen und kontrollieren können. Dazu gehört auch die Haltung, dass Vielfalt nicht nur herausfordernd ist, sondern auch wertvoll sein kann. Unter anderem, weil sie überhaupt erst kollektive Intelligenz ermöglicht, die wiederum ein wichtiger Bestandteil selbstorganisierter Entscheidungsprozesse ist; oder dass Widerstand ebenso wertvoll sein kann, und zwar als Seismografenfunktion, wie beim Systemischen Konsensieren. Denn Widerstände vergrößern die Wahrscheinlichkeit, dass nichts Wesentliches übersehen wird. 

Kurzum: Es ist keineswegs egal, mit welchem Mindset die Mitarbeitenden unterwegs sind.


Kompetenzen: auch eine Frage des Könnens


Es ist nicht damit getan, Selbstorganisation auszurufen und der Belegschaft ihre neuen Pflichten (sic!) zur Selbst- und Mitbestimmung vor die Füße zu kippen. Selbstorganisation ist nicht nur eine Frage des Wollens - das wie erläutert maßgeblich mit dem Mindset zusammenhängt -, sondern auch eine Frage des Könnens. Gelungene Selbstorganisation verlangt unter anderem ein hohes Maß an Selbstreflexion auf verschiedenen Ebenen: bei den einzelnen Personen, in den sozialen Subsystemen wie Teams und in der gesamten Organisation. Deshalb inkludiere ich diesen Aspekt in unsere Definition: 

Selbstorganisation setzt damit eine Ermächtigung der Mitarbeitenden sowohl hinsichtlich der inhaltlichen wie formalen Kompetenzen voraus. Die Mitarbeitenden müssen entscheiden können und dürfen. 

Wenn sich eine Organisation transformieren will, kommt sie nicht an der Frage nach verschiedenen Kompetenzen vorbei. Und die sind nicht selbstverständlich vorhanden. Denn die meisten von uns haben sie auf ihrem Bildungsweg nicht gelernt. Wenn zum Beispiel Führung nicht mehr fix an eine Stelle gebunden ist, sondern dynamisch wechselt, wenn also die Akteure einer Organisation nicht mehr starr Mitarbeiterïn oder Führungskraft sind, sondern mal das eine, mal das andere, dann setzt das die Kompetenz voraus, diesen Wechsel ohne Dünkel leicht vollziehen zu können. Über diese Kompetenz eines Oszillierens zwischen Führen und Folgen wird ohnehin viel zu wenig nachgedacht und diskutiert. Darüber hinaus brauchen wir noch einige andere Kompetenzen, wie Unsicherheits- oder Ambiguitätstoleranz, einen souveränen Umgang mit Nichtwissen, methodische Kompetenz mit Gruppenentscheidungsverfahren oder agilen Frameworks wie Scrum und dergleichen mehr. 


Kultur: passend oder nicht?


Besonders überraschend ist es, wenn in der Auseinandersetzung um Selbstorganisation der Begriff der Kultur nicht auftaucht, speziell der Organisations- oder Unternehmenskultur. Klar, dieser Terminus ist ein Komplexbegriff und füllt ganze Bibliotheken. Es wurde darüber schon unglaublich viel nachgedacht und geschrieben. Aber Selbstorganisation entwickeln, etablieren, entfesseln (oder wie auch immer), ohne die Bedeutung der Kultur zu reflektieren, ist befremdlich. Wichtig ist hier: Kultur als komplexes, nicht linear-kausal gestaltbares Phänomen ist äußerst schwierig zu beeinflussen. Wir können keine einfachen Rezepte anwenden, keine Best Practices, keine Blaupausen. Wir können die Ergebnisse nicht von den Interventionen ableiten. Das ist aber noch lange kein Grund, Kultur im Kontext von Transformation und Selbstorganisation außen vor zu lassen, sie nicht zu reflektieren und miteinzubeziehen. 

Dabei ist die Kultur ein zirkulär-multikausales, dynamisches Phänomen, das durch die organisationale Struktur, deren vorgegebene Verhaltensanweisungen (Entscheidungsregeln!) und die tatsächlich gelebten Verhaltensweisen aktiv jeden Tag neu erzeugt wird. Von der Kultur hängt es ab, ob Selbstorganisation gelingt. Und manche Kulturen machen Selbstorganisation schwierig. Eine "Kultur der Angst", von der wir manches Mal lesen oder hören, dürfte wenig geeignet sein für gelungene Selbstorganisation - wenn also Mitarbeitende von heute auf morgen auf einmal selber entscheiden sollen und damit zwangsläufig Fehler machen, die zuvor deren Vorgesetzte zu verantworten hatten. Oder eine autistische Clickworker-Kultur, in der die Mitarbeitenden einfach nur vor sich hincoden und -brasseln, ohne das Ganze im Blick zu haben und ein Gefühl dafür zu entwickeln. Oder eine Hochleistungskultur, die nach dem ungeschriebenen Gesetz von up or out funktioniert, potenziert ihre Probleme im Kontext von Selbstorganisation, die ohnehin anfällig ist für Selbstausbeutung. 

Es ist also nicht damit getan, agile Methoden und/oder Frameworks einzuführen, Mitarbeitende zu agilen Coaches ausbilden zu lassen oder eine Hierarchieebene zu entfernen, wenn der Vorstand weiterhin ausschließlich auf die Gewinnmaximierung abzielt. Wenn er das nur lang genug gemacht hat, wird dies ein Teil der Unternehmenskultur geworden sein. Wer aber Selbstorganisation will, muss seiner Belegschaft auch eine gewisse Freiheit zugestehen, zu entscheiden, ob die gesamte Ausrichtung des Unternehmens für sie oder ihn noch sinnvoll ist (Sinnkopplung). Und wenn die Antwort negativ ausfällt, gibt es drei Optionen: (a) Die Mitarbeitenden sind eingeladen, den Unternehmenszweck mitzugestalten. Wenn nicht, müssen sie für sich entscheiden, ob sie unter diesen Bedingungen (b) weiterarbeiten (vermutlich mit Dienst nach Vorschrift) oder (c) ob sie gehen und sich einen anderen Arbeitgeber suchen. Insofern stellt sich neben dem Mindset auch die Frage einer passenden Kultur. Es gibt selbstredend nicht nur die eine richtige Organisationskultur, die Selbstorganisation möglich macht und fördert. Aber es gibt definitiv solche, die jeden ernsthaften Versuch zur Selbstorganisation von Anfang an konterkarieren.


Struktur: die Frage der Leitdifferenz


Vielleicht ist die organisationale Struktur das offensichtlichste Merkmal von Selbstorganisation. Das Symbol schlechthin für Fremdorganisation ist das Organigramm der klassischen Aufbauorganisation, verdichtet darstellbar als Dreieck. Entscheidungen fließen von oben nach unten, das Berichtswesen funktioniert von unten nach oben. Die tayloristische Trennung von Denken und Handeln, von Planen und Ausführen findet ihren geronnenen Ausdruck in der Struktur der Organisation. Dabei gibt es noch eine gewisse Bandbreite im Maß an Fremd- und Selbstorganisation. Eine klassische Aufbauorganisation bedeutet nicht zwangsweise Mikromanagement. Wie im aktuell wieder diskutierten Harzburger Modell oder bei dessen Verwandtem, dem Management by Objectives (1), können die Führungskräfte das Wie der Zielerreichung delegieren, sie sollen es sogar. Allerdings ist diese Form der Selbstorganisation ausgesprochen begrenzt. Denn die Ziele werden nach wie vor top-down vorgegeben. Was erreicht werden soll und gar warum, steht nicht zur Debatte. 

Bezüglich der Struktur geht es um eine entscheidende Frage: Was ist die Leitdifferenz der Organisation? Diesen Begriff verstehe ich im Sinne Luhmanns: "Leitdifferenzen sind Unterscheidungen, die die Informationsverarbeitungsmöglichkeiten der Theorie [oder des Systems] steuern." (2) In der traditionellen Aufbauorganisation lautet die Leitdifferenz: oben-unten (wie eben schon dargestellt: Entscheidungen fließen von oben nach unten, Berichte von unten nach oben). Bei alternativen Modellen besteht die Leitdifferenz indes in innen-außen. Sie werden häufig in Kreisstrukturen abgebildet. Leitend ist nicht die Unterscheidung oben/unten (trefflich operationalisiert in Ober sticht Unter), sondern die Frage, wie die Organisation am besten auf ihr Umfeld reagieren kann. Insofern macht es Sinn, dass selbstorganisierte Organisationen ihre Kontaktfläche zur Außenwelt vergrößern, indem sie diejenigen Mitarbeitenden, die in regelmäßigem, direktem Kontakt zur Umwelt stehen (also zu Kundinnen, Zulieferunternehmen, Journalistinnen, Finanzbeamten …) einen maximal möglichen Entscheidungsspielraum verschaffen, wie oben am Beispiel von Supportmitarbeitenden dargestellt. 

Insofern ist die Struktur ein zentraler Aspekt von Selbstorganisation. Und so ist es nicht verwunderlich, dass ein geklontes Organisationsmodell wie Holacracy gerne im Sinne von seinem vorgeblichen und dreisten "Erfinder" Brian Robertson als Betriebssystem missverstanden und in Organisationen hochgeladen wird. (3) Dann, so die traurige Hoffnung, kommen wir schon automatisch zur Selbstorganisation. Denn dann gebe es keine Stellen und Funktionen mehr, sondern Rollen. Und die sind schön getrennt von den Personen ("Role versus Soul"). In diesem Sinn soll das alte Betriebssystem wie bei Computern einfach mit einem neuen überschrieben werden. Das aber funktioniert nicht (warum, das habe ich in dem verlinkten Beitrag schon erläutert und wiederhole es jetzt nicht, denn darum geht es hier nicht). Was hier aber sehr wohl hingehört: Der Erfolg, den Robertson mit diesem blödsinnigen Versprechen feiern konnte. Denn es bedient die verständliche, aber naive Sehnsucht nach einfachen, am besten noch skalierbaren strukturellen Lösungen, die als Blaupause überall mehr oder minder identisch eingesetzt werden können. Ein Betriebssystem für alle.


Eine Frage des Sowohl-als-auch


Alles in allem lässt sich festhalten: Oftmals sind aber Definitionen nicht ausreichend trennscharf zu vorwiegend fremdorganisierten Systemen. Wir brauchen also erstens funktionale Definitionen, um angemessen und differenziert über Selbstorganisation zu reden. Zweitens ist Selbstorganisation niemals eine Frage von "entweder dies oder das", sondern vielmehr von einem systemisch gedachten Sowohl-als-auch. Natürlich ist Selbstorganisation auch eine Frage des Mindsets. Sie lässt sich aber weder darauf noch auf die Kompetenzen der Mitarbeitenden noch auf die Kultur oder Struktur alleine reduzieren. Und es macht keinen Sinn, über Selbstorganisation zu reden oder sie gar einführen zu wollen, ohne auch die je vorhandene Kultur zu beobachten und zu reflektieren. 

Es macht aber sehr wohl Sinn, Selbstorganisation über das bisherige Verständnis hinaus in Richtung Unternehmensdemokratie weiterzudenken und weiterzuentwickeln. Denn Selbstorganisation kann prima missbraucht werden, um letztlich nur noch mehr Leistung aus den Mitarbeiterïnnen herauszupressen. Schließlich beinhaltet der Begriff mit seiner naturwissenschaftlichen Färbung keinen klaren Wertekanon wie die Demokratie. 


Literatur 

(1) Stefan Kühl: Gehorsam macht frei, in: Sozialtheoristen, 29. März 2021: gehorsam-macht-frei  

(2) Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1987, Suhrkamp Verlag, Seite 19 

(3) Andreas Zeuch: "Holacracy. Vom Scheitern eines Betriebssystems" im Blog unternehmensdemokraten (2016) holacracy-vom-scheitern-eines-betriebssystems  

(4) Andreas Zeuch: "Sowohl-als-Auch statt Entweder-Oder" im Blog unternehmensdemokraten (2020) sowohl-als-auch-statt-entweder-oder  


Zitate


"Das entscheidende Kriterium für Selbstorganisation ist deshalb nicht, ob ein soziales System stabile Muster der Interaktion erzeugt. Viel fundamentaler und spezifischer ist die Frage, wer wann welche Entscheidungsbefugnisse hat." Andreas Zeuch: Selbstverständlich. Ein Essay über Selbstorganisation

"Keine Frage - Selbstorganisation setzt eine bestimmte Denkweise voraus." Andreas Zeuch: Selbstverständlich. Ein Essay über Selbstorganisation

"Ein Mindset kann sehr wohl passend und funktional sein - oder eben nicht." Andreas Zeuch: Selbstverständlich, Ein Essay über Selbstorganisation

"Es ist keineswegs egal, mit welchem Mindset die Mitarbeitenden unterwegs sind." Andreas Zeuch: Selbstverständlich. Ein Essay über Selbstorganisation

"Selbstorganisation ist nicht nur eine Frage des Wollens - das maßgeblich mit dem Mindset zusammenhängt -, sondern auch eine Frage des Könnens. Gelungene Selbstorganisation verlangt unter anderem ein hohes Maß an Selbstreflexion auf verschiedenen Ebenen: bei den einzelnen Personen, in den sozialen Subsystemen wie Teams und in der gesamten Organisation." Andreas Zeuch: Selbstverständlich. Ein Essay über Selbstorganisation

"Von der Kultur hängt es ab, ob Selbstorganisation gelingt." Andreas Zeuch: Selbstverständlich. Ein Essay über Selbstorganisation

"Natürlich ist Selbstorganisation auch eine Frage des Mindsets. Sie lässt sich aber weder darauf noch auf die Kompetenzen der Mitarbeitenden noch auf die Kultur oder Struktur alleine reduzieren." Andreas Zeuch: Selbstverständlich. Ein Essay über Selbstorganisation

 

changeX 10.07.2021. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Autor

Andreas Zeuch
Zeuch

Dr. Andreas Zeuch ist Gründer und Partner der unternehmens-demokraten. Das Berliner Unternehmen begleitet Menschen und Organisationen auf dem Weg zu mehr und besserer Partizipation. Zeuch veröffentlicht regelmäßig Artikel, Blogbeiträge und Bücher zum Themenfeld Unternehmensdemokratie und Selbstorganisation. Zuletzt erschienen: Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten bei Murmann, Hamburg 2015.

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