Was heißt Führung und Entscheidung in einer Situation, in der die Erfahrungen der Vergangenheit kaum oder keine Orientierung für die Zukunft bieten? Diese Fragen bildeten den Ausgangspunkt eines Forschungsprojektes am MIT in Boston. Die Leitfrage: Lässt sich von einer im Entstehen begriffenen Zukunft lernen?
Lernen basiert traditionell auf den Erfahrungen der Vergangenheit. Ich handle, dann beobachte ich, was passiert, und basierend auf dieser Erfahrung passe ich meine nächsten Schritte an:
Handlung - Beobachtung - Reflexion - Plan - Handlung
In diesem Modell heißt Lernen, dass
sich Akteure mit vergangenen Erfahrungen auseinandersetzen und
darauf aufbauend in der Gegenwart handeln. Dieser Prozess ist
sinnvoll und wichtig.
Doch was, wenn die Erfahrungen der Vergangenheit in Bezug
auf gegenwärtige Herausforderungen nicht hilfreich sind? Was,
wenn die im Entstehen begriffene Zukunft sich so von der
Vergangenheit unterscheidet, dass die Erfahrungen der
Vergangenheit nicht weiterhelfen, ja sogar ein Hindernis
darstellen?
Runterladen von Mustern der Vergangenheit.
Peter Senge, Autor von
The Fifth Discipline: The Art & Practice of the Learning
Organization (1) beschreibt in einem Interview mit den
Autoren ein Beispiel aus der Automobilindustrie.
"1981 besuchte ein Team von Ingenieuren der Ford Motor
Company die Toyota-Werke, die 'Lean Production' eingeführt und
erfunden hatten. Obwohl die Ford-Ingenieure unmittelbaren Zugang
zum revolutionären neuen Produktionssystem hatten, waren sie
unfähig zu 'sehen', was vor ihnen stand. Die Reaktion der
Ingenieure war, dass sie glaubten, ihnen wäre etwas vorgeführt
worden und sie hätten nicht das 'echte' Werk gesehen, weil es
keine Zwischenlager et cetera gab. Dieses Beispiel illustriert,
wie schwierig es ist, unser Urteil zu suspendieren, selbst wenn
wir uns am Ort der größten Möglichkeit aufhalten."
Unsere Arbeit hat uns zu der Schlussfolgerung geführt, dass
die wichtigste Führungsaufgabe nicht ist, Ziele zu definieren
oder eine Zukunftsvision zu entwickeln. Wir glauben, dass es die
wichtigste Führungsaufgabe ist, den individuellen und gemeinsamen
Prozess des
Sehens der Realität zu initiieren und dahingehend zu
vertiefen, dass wir beginnen, entstehende Möglichkeitsräume
wahrzunehmen. Das gewohnheitsmäßige "Runterladen" von Mustern der
Vergangenheit behindert den Blick auf die vor uns liegende
Realität. Basieren Kommunikation oder Interaktion auf einem
gewohnheitsmäßigen Abspulen dieser Muster aus der Vergangenheit,
entstehen kollektive Verhaltens- und Denkmuster. Aus diesem
Abspulen heraus zu handeln heißt, in der alten Denkwelt gefangen
zu bleiben, ohne die Möglichkeit zu haben, die Mauern dieses
Gefängnisses zu überwinden. Innerhalb dieser Mauern sehen wir nur
die mentalen Konstrukte, die wir auf die Welt projizieren.
Der erste Schritt aus diesen Denkgewohnheiten hinaus ist
eine Begegnung mit dem spezifischen Kontext, in dem die Akteure
handeln. Immer häufiger begeben sich Unternehmen in den Kontext
der Kunden, Partner und Zulieferer hinein. Aus einem "über die
Kunden sprechen" wird ein "mit Kunden sprechen". Die
Erfahrungen der Kunden zu verstehen eröffnet das
Verständnis von unerschlossenen Potenzialen und Bedürfnissen.
Was es wirklich heißt, sich in einen Kontext zu begeben, um
die Fähigkeit des Hinsehens auszubilden, beschrieb in einem
unserer Interviews der Kognitionswissenschaftler Francisco Varela
mit dem Beispiel eines eher grausamen Experimentes mit jungen
Katzen. (2) Neugeborene Katzen brauchen ein paar Tage, bevor sie
ihre Augen öffnen. In diesem Experiment wurden die neugeborenen
Katzen in Zweierpaaren zusammengebracht, jeweils eine in einem
kleinen rollbaren Käfig und die andere mit normaler
Bewegungsfreiheit. Die Katze im Käfig war mit ihrem Rollkäfig an
das bewegliche Kätzchen angehängt. Das Ergebnis dieses
Experiments war, dass die Katze mit normaler Bewegungsfreiheit
ganz normal sehen lernte, die jeweils andere mit der
eingeschränkten Bewegungsfreiheit jedoch nicht. Varelas Schluss
aus diesem Experiment: Wahrnehmung ist nicht passiv. Wahrnehmung
ist eine Aktivität, die wir mit unserem ganzen Körper in die Welt
bringen.
Prinzip der blinden Katze.
In der Welt von Organisationen
befinden wir uns zu oft in der Rolle des Kätzchens, das seiner
Eigenbewegung beraubt ist. Anstatt selbst in die Welt zu gehen
und mit unseren eigenen Augen und Sinnen das Neue sehen zu
lernen, lagern wir das wichtigste Element im Innovationsprozess
an externe Berater und Organisationen aus. Diese Berater kommen
dann als Experten zurück in unsere Organisationen und "erklären"
uns, was wir falsch machen und wie andere es viel besser machen,
als wir es tun.
90 Prozent der heutigen Bildungs- und Trainingsformen sowie
des Wissens- und Veränderungsmanagements basieren auf dem Prinzip
der blinden Katze: Wir trennen die Lernenden und Handelnden von
den primären Wahrnehmungswelten, von der konkreten
Sinneserfahrung, von dem lebendigen Kontext ab. Wir lagern die
Wahrnehmung an Externe, Experten oder Trainer aus, die dann das
so gewonnene Wissen in die betreffende Organisation downloaden,
runterladen.
Für einfache Probleme kann das durchaus zielführend sein.
Je größer jedoch die Komplexität einer Situation, desto wichtiger
ist es, die direkte Wahrnehmung und die Aktivierung der Sinne
nicht auszulagern, sondern die Nähe zum lebendigen Kontext aktiv
zu suchen und so strategische Veränderungen und Entwicklungen
frühzeitig wahrzunehmen. Ohne direkte Verbindung zum Kontext
einer Situation geht es uns wie der blinden Katze: Wir können das
Neue nicht spüren, nicht sehen.
Jede Information, die unserer Annahme von der Wirklichkeit
widerspricht, ist Rohmaterial für das Neue. Wo in Institutionen
und Organisationen findet ein bewusstes Innehalten der
gewohnheitsmäßigen Urteilsroutinen statt? Die meisten Gesprächs-
und Handlungsmuster basieren darauf, wohlbekannte Meinungen und
Sichtweisen abzuspulen.
Lernen von einer im Entstehen begriffenen Zukunft.
Um zu verstehen, wie sich
gewohnheitsmäßige Routinen durchbrechen lassen und Individuen und
Gruppen von
einer im Entstehen begriffenen Zukunft lernen können,
haben wir am MIT in Boston ein mehrjähriges Forschungsprojekt
durchgeführt. Dieses Projekt umfasst eine Interviewstudie mit
Praktikern und Wissenschaftlern im Bereich Management und
Innovation sowie die Begleitung von Veränderungsprozesses in
Organisationen und Teams. (3)
Das Ergebnis dieser Arbeit ist ein Prozess, den wir den
U-Prozess oder Presencing genannt haben. Presencing verbindet die
Begriffe
Presence und
Sensing und beschreibt die Fähigkeit,
Zukunftsmöglichkeiten zu erspüren und in die Gegenwart zu
bringen.
Der erste Schritt zur Formulierung des U-Prozesses war die
Erkenntnis, dass Veränderungsprozesse auf verschiedenen Ebenen
stattfinden.
Abbildung 1: Vier Ebenen von Lernen und Veränderung
Erste Ebene: Problem -
Reaktion
Das Runterladen von vergangenen Mustern ist die häufigste
Reaktion in Krisenzeiten oder wenn deutlich wird, dass eine
Veränderung notwendig ist. Die Herausforderung oder das Problem
produziert eine Reaktion. Dieses reaktive Handeln kann sinnvoll
sein, beispielsweise in Notsituationen, in denen ein schnelles
Handeln wichtig ist. Die Reaktion basiert auf den Erfahrungen der
Vergangenheit.
Zweite Ebene: Veränderung von
Routinen, Strukturen, Prozessen
Ein reaktives Handeln ist nicht nachhaltig, da die Ursachen
oder tiefer liegenden Ebenen der Herausforderung außer Acht
gelassen werden und die Handlung selbst nur eine Reaktion auf
eine äußerliche Veränderung darstellt. Handeln auf Ebene zwei -
Restrukturieren - geht über ein reaktives Handeln hinaus und
schließt die Veränderung von zugrunde liegenden Strukturen und
Prozessen mit ein. Dies können beispielsweise Arbeitsabläufe,
Routinen oder Kommunikationsprozesse sein. Diese Veränderung von
Strukturen und Prozessen verändert zukünftige Abläufe, die dann
auf diesen neuen Prozessen basieren.
Ein Beispiel für die Veränderung von Prozessen sind die
Reengineering-Ideen der 90er-Jahre. Laut einer Studie von Strebel
sind jedoch etwa 70 Prozent dieser
Business-Reengineering-Prozesse gescheitert. (4) Ein Grund liegt
darin, dass es einen Veränderungsbedarf gibt, der mit einer
Anpassung von Prozessen und Strukturen nicht erfüllt ist.
Dritte Ebene: Veränderung des
Denkens
Strukturen und Prozesse zu verändern ist sinnvoll, jedoch
erlaubt es Organisationen oder Teams nicht, mit neuen,
zukünftigen Herausforderungen umzugehen. Chris Argyris, Professor
in Harvard, und Donald Schön, Professor am MIT, schlagen vor,
zwischen Single-Loop-Lernen und Double-Loop-Lernen zu
unterscheiden. Single-Loop-Lernen bedeutet, dass wir unsere
Handlungen anpassen. Damit bewegen wir uns auf Ebene zwei.
Double-Loop-Lernen schließt ein Nachdenken über unsere Annahmen
und Grundperspektiven, die unserem Handeln zugrunde liegen, mit
ein.
Dieses Lernen, das eine Reflexion von zugrunde liegenden
Annahmen mit einschließt, bildet die dritte Ebene der
Lernprozesse. Die Akteure werden sich der Annahmen bewusst, auf
denen ihr Handeln basiert. Annahmen können beispielsweise die
Gründe sein, die zur Entstehung von Arbeitsabläufen oder
Kommunikationsformen geführt haben. Ebene drei heißt, dass der
Handelnde die Annahmen, auf denen sein Handeln beruht, anschaut
und sie gegebenenfalls ändert oder an eine geänderte Situation
anpasst.
Vierte Ebene: Lernen von einer im
Entstehen begriffenen Zukunft
In unseren Interviews mit Unternehmern und Innovatoren
wurde noch eine weitere Ebene des Lernens sichtbar. Diese Ebene
bezieht sich auf die Wahrnehmung von Zukunftsmöglichkeiten. Im
Rahmen unseres Interviewprojektes sprachen wir unter anderem mit
W. Brian Arthur, dem Gründer des Economics Department am Santa Fe
Institute. Brian Arthur wurde für seine Veröffentlichungen über
die Entstehung und Veränderung von Hightechmärkten bekannt. Seit
den 70er-Jahren galt das ursprüngliche Xerox PARC Team als eines
der erfolgreichsten Forschungs- und Entwicklungsteams der letzten
Jahrzehnte. Hier ist beispielsweise die Benutzeroberfläche
entwickelt worden, die heute auf fast jedem Desktop zu finden
ist, wie auch die Maus. Die Ironie ist, dass Xerox aus diesen
bahnbrechenden Ideen kein Kapital schlagen konnte, sondern dass
andere Organisationen diese Ideen aufgriffen und
weiterentwickelten.
"Um in Hightechmärkten zu gewinnen", sagte Arthur, "ist es
notwendig, die Muster zu erkennen, die diese Märkte bestimmen."
Laut Arthur gibt es zwei verschiedene Ebenen der Erkenntnis. "Es
gibt zwei Wege, etwas zu verstehen oder zu erkennen. Die
allgemein diskutierte Erkenntnisform ist der rationale Verstand.
Aber es gibt noch eine tiefere Ebene. Ich nenne diese tiefere
Ebene ein inneres oder intuitives Wissen."
Arthur fuhr fort: "Was, wenn Apple sich zum Beispiel
entschließen würde, einen ehemaligen CEO von Pepsi-Cola
einzustellen? Diese Person würde eine bestimmte Form von Wissen
mitbringen: beispielsweise Kosten runter, Qualität hoch oder wie
auch immer sein Mantra lautet. Und es würde nicht funktionieren.
Aber nun versuche dir vorzustellen, ein Steve Jobs käme - jemand,
der von einem Problem zurücktreten und anders denken kann. Als
Steve Jobs zu Apple zurückkam, war das Internet in seinen
Anfängen. Niemand konnte absehen, was diese Entwicklung bedeuten
würde. Schau ihn dir heute an: Er schaffte den Turnaround bei
Apple." Arthur führte dies weiter aus: "Erstklassige
Wissenschaftler arbeiten genauso. Die guten, aber nicht
erstklassigen Wissenschaftler können existierende Bezugssysteme
nehmen und sie auf irgendeine Situation anwenden. Die
Erstklassigen treten einen Schritt zurück und lassen eine Idee
oder einen Bezugsrahmen entstehen. Meine Erfahrung", so Arthur,
"ist, dass diese Wissenschaftler nicht mehr Intelligenz besitzen
als die guten Wissenschaftler, aber sie haben diese andere
Fähigkeit und das macht den ganzen Unterschied aus." (5)
Diese Fähigkeiten beschreiben wir als
Lernen von einer im Entstehen begriffenen Zukunft.
Offensichtlich ist es nicht für jedes Problem nötig, diese
vierte Ebene des Lernens mit einzubeziehen. Entscheidend ist
jedoch, dass Organisationen oder Teams diese Fähigkeit entwickeln
und je nach Situation und Problemstellung sowie je nach
Komplexität des Problems auf diese vierte Ebene von Lernen
zugreifen zu können.
Es gibt umfangreichen Arbeiten dazu, welche Lernprozesse
für die Ebenen zwei und drei notwendig sind und wie sie in
Unternehmen eingeführt werden können. Der Umgang mit
Herausforderungen, die nicht auf den Ebenen zwei und drei, also
nicht durch eine Reflexion der Vergangenheit beantwortet werden
können, ist der Kern der Theorie U. Er beschreibt die Fähigkeit,
von einer im Entstehen begriffenen Zukunft aus zu lernen.
Presencing bezeichnet die Fähigkeit einzelner Menschen oder
Gemeinschaften, sich direkt mit ihrer höchsten zukünftigen
Möglichkeit zu verbinden und von dort aus unmittelbar zu handeln.
Von einer zukünftigen Möglichkeit heraus zu handeln heißt, von
einer authentischen Präsenz des Augenblicks her zu handeln - aus
dem Jetzt.
Wissen lebt.
Ein Beispiel, das diese
verschiedenen Ebenen von Veränderungsprozessen illustriert, sind
Entwicklungen im Bereich von Wissensmanagement. In der ersten
Phase im Wissensmanagement lag der Fokus auf explizitem Wissen
(Know-how). Explizites Wissen ist Informationswissen, das in
Tabellen und E-Mails zusammengefasst und weitergegeben werden
kann. Beispielsweise wenn Manager die Leistung eines
Produktionsprozesses kalkulieren, handelt es sich um explizites
Wissen.
In der ersten Phase des Wissensmanagements lag der Fokus
auf Informationstechnologie, auf Datenbanken, die das Wissen
speichern. Einige Jahre (und mehrere Milliarden Dollar) später
wurde deutlich, dass Informationstechnologie nur ein Teil im
größeren Ganzen ist. Den Verantwortlichen wurde bald klar, dass
die Herausforderung darin liegt, über das Informationsmanagement
hinweg zum Wissensmanagement zu kommen.
In dieser zweiten Phase lag ein wesentlicher Fokus auf der
Verbesserung der
Prozessqualität. Ein Beispiel ist Total Quality Management
(TQM). Im TQM wird eine andere Form von Wissen wichtig, das
implizite oder "verkörperte" Wissen, das einfach "gewusst" wird
und jeden Tag in den täglichen Handlungen angewendet wird.
Doch diesem alltäglichen Handlungswissen ist noch eine
weitere Form von Wissen vorgelagert. Diese Form von Wissen ist
unabdingbar, wenn es um die Erzeugung von Innovationen geht. Dies
ist die dritte Phase von Wissensmanagement.
Michael Burtha von Johnson & Johnson, Inc. beschreibt
diese verschiedenen Phasen von Wissensmanagement von explizit zu
implizit. In unserem Interview betont Michael Burtha, dass die
wahre Herausforderung darin liegt, Räume zu schaffen, wo
komplexes Wissen ausgetauscht werden kann, und dass dieser
Austausch über Funktionsbereiche, Unternehmensteile und auch
Organisationen hinweg stattfindet. Aus dieser Warte betrachtet
ist Wissen nicht "ein Ding", sondern "etwas Lebendiges", das in
konkrete Arbeits- und Kommunikationspraktiken eingebunden ist.
Wissen ohne Kontext ist kein Wissen; es ist nur Information.
Wissen, so Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi in ihrem Buch
The Knowledge-Creating Company, ist ein "situativer
lebendiger Prozess, der sich in einer spiralförmigen Bewegung
zwischen explizitem und implizitem Wissen und zwischen
Individuen, Teams und Organisationen entwickelt". (6)
Diese Definition von Wissen als einem lebendigen Prozess
wurde in den 90er-Jahren mit offenen Armen aufgenommen. In den
späten 90ern und den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts fand
ein weiterer Wandel statt: ein Wandel, der mit den Quellen von
Innovation und von Veränderungsprozessen zu tun hat.
Ausgangspunkt für diesen Wandel war die Frage, wie ein Umgang mit
Turbulenzen und umbruchartigen Veränderungen aussehen kann und
wie entstehende Zukunftsmöglichkeiten frühzeitig wahrgenommen und
ergriffen werden können. Wie lassen sich die Quellen des "noch
nicht verkörperten" Wissens erschließen? (7)
Diese aktuellste Phase spiegelt sich in Nonakas Schriften
im Konzept der
phronesis, das praktische Wissen, und dem Konzept des
ba, das japanische Wort für "Ort", was den physischen,
sozialen und mentalen Kontext von Wissensentstehung beschreibt.
Ba ist, sagt Nonaka, "Kontext in Bewegung". Wir nennen
diese Form von Wissen "noch nicht verkörpertes" ("not yet
embodied") oder "selbsttranszendierendes" Wissen. (8)
Im Kern argumentiert Nonaka, dass Wissensentstehung nicht
gemanagt werden kann, sondern dass lediglich Bedingungen
geschaffen werden können, die Wissensentstehung fördern. Warum?
Weil Wissen lebendig ist. Anstatt Wissen zu managen und
kontrollieren, so Nonaka, müssen wir die Bedingungen schaffen,
die alle drei Aspekte von Wissensmanagement hervortreten lassen:
die Informationstechnologie, einen Wissensgenerierungsprozess und
die Orte, die dieser Art der Arbeit förderlich sind.
Die vier Ebenen beschreiben vier verschiedene Tiefen von
Veränderung. Die offene Frage ist: Welcher Prozess führt durch
diese Ebenen?
Der U-Prozess: Presencing.
"Angenommen", sagte Brian Arthur,
"ich springe mit einem Fallschirm über Silicon Valley ab.
Plötzlich bin ich mit einer komplizierten, dynamischen Situation
konfrontiert und meine Aufgabe ist, sie zu verstehen. Was würde
ich tun? Ich würde beobachten und beobachten und wieder
beobachten, dann würde ich mich zurückziehen. Mit etwas Glück
könnte ich dann einen inneren Ort in mir finden, an dem ich
verstehe, was als Nächstes zu tun ist. Ein innerer Ort, an dem
ich mich mit meinem durch die Beobachtungen entstandenen Wissen
verbinden kann." Arthur fuhr fort: "Ich würde diesen Prozess wie
folgt beschreiben: Du wartest und wartest und lässt deine
Erfahrung mit der Situation verbinden. In gewisser Weise gibt es
kein Entscheiden. Das, was zu tun ist, wird offensichtlich. Du
kannst es nicht beschleunigen. Viel hängt davon ab, woher du
innerlich kommst und wer du bist, als Mensch. Hieraus ergeben
sich viele Implikationen für das Management. Was ich meine, ist,
dass das, was zählt, davon abhängt, was in dir selber lebt, woher
du tief drinnen in dir selbst kommst."
Arthurs Beschreibung korrespondiert mit den Ergebnissen
unseres Forschungsprojekts. Führungskräfte und Handelnde müssen
sich mit ihrem blinden Fleck auseinandersetzen, das heißt dem
inneren Ort, der den Ausgangspunkt von Handlung darstellt.
Die folgende Abbildung fasst die drei Grundbewegungen des
U-Prozesses zusammen.
Abbildung 2: Die drei Grundbewegungen des U-Prozesses
Dieser dreiphasige Prozess erlaubt
Individuen und Gruppen, die tieferen Ebenen von Wissen zu
aktivieren: Erstens hinschauen, hinschauen, hinschauen, zweitens
verbinde dich mit dem, was in dir als Wissen entsteht, und
drittens handele unmittelbar aus der Anwesenheit dieser tieferen
Anschauung. Diese drei Bewegungen beschreiben die Flugperspektive
auf diesen Prozess. Die Herausforderung ist, diesen Prozess
genauer zu beschreiben und die Schwellen und Umbruchpunkte in
diesem Prozess zu benennen. Diese Frage war der Ausgangspunkt für
verschiedene Interviews mit dem Kognitionsforscher Francisco
Varela.
Viele Jahre lang hatte Varela an einem Buch namens
On Becoming Aware ("Aufmerksam werden") gearbeitet. (9) Er
stellte darin die Frage: "Kann dieser Kernprozess als Fähigkeit
kultiviert werden?" Varela identifiziert drei Gesten des
Aufmerksamwerdens:
- das Innehalten (Suspension),
- das Umwenden (Redirection) und
- das Loslassen (Letting-go).
Varela beschrieb den Prozess der
drei Gesten als etwas, was im Erfahrungsbereich vieler Menschen
liegt - aber: "Ebenso wie ein Läufer trainieren muss, um ein
Marathonläufer zu werden, braucht ein Verstehen und ein Meistern
dieses Prozesses Zeit und Coaching."
Varela erklärte: "Mit Innehalten meine ich das Beenden von
Gewohnheitsmustern. In der buddhistischen Meditation platzierst
du deinen Hintern auf ein Kissen und bleibst auf einer Ebene
oberhalb deiner gewöhnlichen Beschäftigung. Du schaust aus einer
eher überblickenden Perspektive." Varela fuhr fort: "Sinn und
Zweck der ganzen Sache ist natürlich, dass du es erträgst, dass
nach der Suspensionsphase nichts passiert. Innehalten ist eine
eigenartige Sache. Dabeibleiben, dranbleiben ist wirklich der
Knackpunkt, um den es geht." (10)
Dann erläuterte er seine zweite und dritte Geste: umwenden
und loslassen. Beim Umwenden (Redirection) geht es darum, die
Aufmerksamkeit von einem "Äußeren" zu einem "Inneren" umzulenken,
sodass die Aufmerksamkeit hin zum Ursprungsort der inneren
Prozesse gelenkt wird und nicht hin zum Objekt. Die dritte Geste,
das Loslassen, sollte mit Feingefühl passieren, betonte Varela.
In seinem Buch mit Natalie Depraz und Pierre Vermersch wird die
dritte Geste als "unsere Erfahrung zu akzeptieren" beschrieben.
(11)
Diese drei Gesten oder Umschlagpunkte korrespondieren mit
unseren Erfahrungen in der Arbeit mit Veränderungs- und
Lernprozessen. Varela sprach von tiefen Strukturen der
Aufmerksamkeit, die langsam entstehen, während wir den Prozess
des Gewahrwerdens durchlaufen: Gewohnheitsbedingte Urteile werden
aufgegeben, bei der Beobachtung von Phänomenen wird plötzlich
unsere eigene Rolle wahrnehmbar und schließlich verwandelt sich
die Struktur der Aufmerksamkeit abermals, wenn wir uns von alten
Identitäten und Zielen verabschieden und etwas Neues entstehen
lassen - mit einer
im Entstehen begriffenen und von der Zukunft her wirksamen
Intention.
Wenn ein Prozess gut läuft, dann ist ein Punkt erreicht, an
dem gemeinsam zu einem tieferen Ort der Stille gegangen werden
kann. An diesem Punkt ist es möglich, das Alte loszulassen und
nach der zukünftigen Möglichkeit zu fragen. Diese drei Schritte
beschreiben die Umschlagpunkte oder Schwellen auf der linken
Seite des U-Prozesses. Die folgende Abbildung fasst den Weg auf
der linken Seite des U-Prozesses zusammen.
Abbildung 3: Die linke Seite des U-Prozesses
Wenn der Weg auf der linken Seite des U Varelas Kernprozess des Aufmerksamwerdens veranschaulicht, was erwartet uns dann auf der rechten Seite des U? Die Aufmerksamkeit auf der linken Seite liegt auf dem "Öffnungsprozess", auf der rechten Seite richtet sich die Aufmerksamkeit auf den Prozess des gemeinsamen Handelns. Damit beschreibt die rechte Seite eine ganz andere Dimension eines kollektiven kreativen Prozesses. Sie hat etwas mit der Absicht zu tun, das Neue oder die zukünftige Möglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen. Wie kommt das Neue in die Welt?
Die Erkundung der rechten Seite des U.
Der Prozess entlang der linken
Seite des U bis zu dem tiefsten Punkt führt durch die
Erkenntnisräume des Runterladens (Downloading), Hinschauens
(Seeing), Hinspürens (Sensing) bis zum tiefsten Punkt des
Anwesendwerdens (Presencing). Um zu diesen tiefer liegenden
Erkenntnisräumen zu gelangen, müssen die Schwellen überquert
werden, die Varela in seiner Arbeit identifiziert hat: erstens
das Innehalten (Suspension), zweitens das Umwenden (Redirection)
und drittens das Loslassen (Letting-go).
In unserer Arbeit wurde deutlich, dass der Weg aus dem U
heraus hinein in das Handeln Parallelen zu dem Prozess in das U
hinein aufzeigt: Die Schwelle des
Loslassens (auf dem Weg hinunter) wird zu einer Schwelle
des
Entstehenlassens (auf dem Weg hinauf). Das Entstehenlassen
führt zu einem Moment, an dem die am tiefsten Punkt des
U-Prozesses entstandene Intention und Vision sich verdichten
kann. Die Schwelle des
Umwendens, das heißt die Wendung nach innen (auf dem Weg
hinunter), wird zu einer Schwelle des
Hervorbringens, das heißt einer Wendung nach außen in der
Erprobung konkreter Prototypen (auf dem Weg hinauf). An der
Schwelle des
Innehaltens verwandelt sich das Innehalten von
Gewohnheiten und Routinen (auf dem Weg nach unten) in die
Schwelle des
Verkörperns (auf dem Weg nach oben). Verkörpern ist die
Schwelle, an der das Neue mittels Handlungen, Infrastrukturen und
Praxis seine Form bekommt.
Abbildung 4: Der U-Prozess
In unserer Arbeit mit Innovations- und Veränderungsprozessen haben wir oft beobachtet, wie diese Schwellen überquert werden:
- Runterladen: Muster der Vergangenheit wiederholen sich - die Welt wird aus den Augen des gewohnheitsmäßigen Denkens betrachtet.
- Hinschauen: Ein mitgebrachtes Urteil loslassen und die Realität mit frischem Blick betrachten - das beobachtete System wird als von dem Beobachter getrennt wahrgenommen.
- Hinspüren: Sich mit dem Feld verbinden, eintauchen und die Situation aus dem Ganzen heraus betrachten - die Grenze zwischen Beobachter und dem Beobachteten verschwimmt, das System nimmt sich selber wahr.
- Anwesend werden: Sich mit dem Quellort - dem inneren Ort der Stille - verbinden, von dem aus die im Entstehen begriffene Zukunft wahrnehmbar werden kann.
- Verdichten der Vision und Intention - Kristallisieren und Bewusstmachen der Intention und Vision, die aus der Verbindung zu diesem tieferen Quellort entsteht.
- Erproben des Neuen in Prototypen, in denen die Zukunft durch praktisches Tun gemeinsam erkundet und entwickelt wird.
- Das Neue praktisch anwenden und institutionell verkörpern: Das Neue beispielsweise durch Infrastrukturen und Alltagspraktiken in eine Form bringen.
Diese sieben kognitiven Räume lassen sich mit sieben unterschiedlichen Räumen eines Hauses vergleichen. Jeder Raum repräsentiert eine Qualität von Aufmerksamkeit. Werden nur wenige dieser Räume benutzt (häufiger die Räume auf den oberen Ebenen), kann das in den anderen Räumen liegende Potenzial nicht realisiert werden.
Theorie U: Von der entstehenden Zukunft her führen.
In Innovations- und
Veränderungsprojekten haben wir beobachtet, dass viele erfahrene
Führungskräfte diese tieferen Ebenen des U aus ihrer eigenen
Erfahrung her kannten, jedoch viele Organisationen, Institutionen
und größeren Systeme fast ausschließlich auf Ebene eins oder zwei
operierten. Warum? Wir glauben, dass eine Führungstechnologie,
die diese unteren Ebenen zugänglich macht, fehlt. Ohne diese
Kapazität bleiben Prozesse in den Strukturen der Vergangenheit
stecken.
Ein solcher Prozess, der es den Akteuren erlaubt, die
tieferen Ebenen von Wissen zu aktivieren und zu nutzen, basiert
auf vier verschiedenen
Feldstrukturen der Aufmerksamkeit: Jede Ebene des Lernens
und Wissens basiert auf einer spezifischen Qualität von
Aufmerksamkeit, die wir Feldstruktur der Aufmerksamkeit nennen.
Jede Handlung, ob individuell oder gemeinschaftlich, basiert auf
einer dieser Aufmerksamkeitsstrukturen. Äußerlich scheinbar
gleiche Aktivitäten (wie beispielsweise Zuhören) können in der
Praxis abhängig von der Feldstruktur der Aufmerksamkeit, durch
die eine bestimmte Handlung in die Welt kommt, radikal
unterschiedliche Ergebnisse produzieren. Dies ist die verborgene
Dimension unseres gemeinsamen sozialen Prozesses. Diese Dimension
ist vielleicht nicht einfach oder sofort verständlich, aber sie
ist unserer Forschung nach der wichtigste Hebel für eine
nachhaltige Veränderung und damit das wichtigste
Führungswerkzeug, insbesondere in Situationen, in denen die
Erfahrungen der Vergangenheit wenig Hilfestellung bieten, oder in
Krisensituationen, die Innovationen fordern.
Claus Otto Scharmer ist Senior
Lecturer am Massachusetts Institute of Technology und Gründer des
Presencing Institute in Cambridge. Er berät globale Unternehmen,
internationale Institutionen und Nichtregierungsorganisationen
(NGOs) in den USA, Europa, Afrika und Asien. Er ist Autor des
Buches
Theorie U: Von der Zukunft her führen. Presencing als soziale
Technik, das im Carl-Auer-Verlag erschienen ist.
Katrin Käufer lehrt und forscht seit
1998 an der MIT Sloan School of Management sowie am Community
Innovators Lab (CoLab) am MIT Department of Urban Studies and
Planning. Sie ist Gründungsmitglied und Forschungsdirektorin des
Presencing Institute.
Claus Otto Scharmer:
Theorie U - Von der Zukunft her führen.
Presencing als soziale Technik.
Carl Auer Verlag,
Heidelberg 2009,
494 Seiten, 49 Euro.
ISBN: 978-3-89670-679-9
www.carl-auer.de
www.presencing.com
www.theoryU.com
www.ottoscharmer.com
Quellen
- Peter Senge ( 1990): The Fifth Discipline: The Art and Practice of the Learning Organization. New York.
- Interview with Franciso Varela (2000/2005), originally published in Wild Duck Review, Vol. VI No.1 on "The End of Human Nature?"
- www.presencing.com, www.theoryU.com
- Paul Strebel (1996): Why do Employees resist Change? Boston, MA.
- www.dialogonleadership.org/docs/Arthur-1999.pdf
- Ikujiro Nonaka / Hirotaka Takeuchi (1995): The Knowledge Creating Company, Oxford.
- Claus Otto Scharmer (2000): "Self-Transcending Knowledge: Organizing Around Emerging Realities". Organizational Science, 33, no. 3, 14-29.
- Siehe Ikujiro Nonaka und Noboru Konno (1998): "The Concept of Ba: Building a Foundation for Knowledge Creation". California Management Review, 50, no. 3: 40-54; Ikujiro Nonaka / Ryoko Toyama / Noboru Konno (2000): "SECI, Ba and Leadership: A Unified Model of Dynamic Knowledge Creation". Long Range Planning, 33, no 1; Georg von Krogh ( 2000): Enabling Knowledge Creation: How to Unlock the Mystery of Tacit Knowledge and Realease the Power of Innovation. Oxford.
- Herausgegeben mit Natalie Depraz und Pierre Vermersch, 2003, Amsterdam.
- www.dialogonleadership.org/interviews/Varela.shtml
- Natalie Depraz / Francisco Varela / Pierre Vermersch (2003): The Gesture of Awareness, an Account of Its Structural Dynamics. In Investigating Phenomenological Consciousness: New Methodologies and Maps. Edited by Max Velmans, Amsterdam, S. 25.
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Claus Otto Scharmer: Theorie U - Von der Zukunft her führen. Presencing als soziale Technik. Carl Auer Verlag, Heidelberg 2009, 494 Seiten, ISBN 978-3-89670-679-9
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Autorin
Katrin Käuferweitere Artikel der Autorin
Wie man lernt, von der Zukunft her zu führen - der Essay von Claus Otto Scharmer und Katrin Käufer als Audio [30:52 min]. zum Audio
Autor
Otto C. Scharmerweitere Artikel des Autors
Wie man lernt, von der Zukunft her zu führen - der Essay von Claus Otto Scharmer und Katrin Käufer als Audio [30:52 min]. zum Audio