"'Corporate' verweist auf den größeren Zusammenhang, die Verbundenheit, den Komplex und seine integrale Systematik", erklärt Hans Reitz, Gründer und Creative und Executive Director der Agentur. Insgesamt 73 solcher "Korporatismen" hat er zusammengetragen. Beispielsweise "corporate hijacking", eine Wortschöpfung von Naomi Klein, Autorin von No Logo. Sie ziele auf die "Entführung" politischer Macht ab. Denn Unternehmen und Konzerne zählten inzwischen zu den stärksten und de facto mächtigsten politischen Kräften. Und schreckten vor der Anwendung ihrer politischen Macht nicht zurück - ohne allerdings demokratische, also politische Legitimation vorweisen zu müssen. Oder der "corporate raider", "jene Instanz, die eine feindliche Übernahme zu initiieren versucht, indem sie die mehrheitlichen Geschäftsanteile auf dem Wertpapiermarkt oder direkt von den Mehrheitsaktionären erwirbt", so der Wortlaut im Lexikon. Natürlich fehlt auch nicht jener Begriff, der den Anstoß zu der Idee geliefert hat: "corporate social responsibility", die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen, die begrifflich klar vom "corporate sponsorship" geschieden ist. Somit präsentiert sich das Lexikon auf dem Stand der Debatte.
Ich bin zwei Bücher.
Mehr noch: Mit ihrem Lexikon liefert die Agentur circ selbst
ein Beispiel einer "corporate"-Strategie, nicht nur das
notwendige Vokabular dazu. 73 Begriffe in zwei Sprachen, das sind
nicht nur 146 Begriffe, auch nicht zwei Bücher, sondern ein
Ganzes. Man kann das Buch drehen und wenden, wie man will: Ein
Oben und Unten gibt es nicht. Man kann es von beiden Seiten
lesen, auf Englisch oder Deutsch. Doch ist es eins, ein Lexikon.
Das demonstriert, wie man im Kleinen die Idee des Ganzen
verwirklicht. Und es demonstriert zugleich die Funktion der Form:
Einheit herzustellen. Wegen seiner ungewöhnlichen Gestaltung ist
das Buch auch für den Wettbewerb "Gute Gestaltung 08" nominiert.
Zu Recht: Es ist einfach schön! Für die Agentur ein Kriterium mit
hohem Stellenwert. Denn "Menschen spüren, dass der Sinn für das
Schöne hilft, das Richtige zu erkennen".
Doch was ist schön? "Es ist eine alte Rede, dass sich über
den Geschmack nicht streiten lässt; indes streitet man doch
darüber, ja über nichts mehr als den Geschmack; es muss sich also
doch darüber streiten lassen." So interpretierte Gustav Theodor
Fechner dieses bis heute bekannte Problem und entwickelte 1876 in
seiner
Vorschule der Aesthetik ein Prinzip des Schönen: die
"Einheit in der Mannigfaltigkeit". Das bedeutet, dass wir
beispielsweise ein Bild als schön empfinden, wenn es uns gelingt,
eine Einheit unter den mannigfaltigen Elementen eines Bildes
herzustellen. Absolut ist dieses Prinzip keineswegs. Gültigkeit
hat es aber noch immer. Und es lässt sich auf
"corporate"-Strategien übertragen, die das gleiche Ziel
verfolgen: aus Unternehmensteilen und -bereichen ein Ganzes zu
formen. Zufall?
Corporate Wiki.
So ungewöhnlich wie die Aufmachung dieses Buches ist auch die dahinter stehende Idee. Einmal ist das Buch bewusst auf Unvollständigkeit angelegt: Die edition I eines Publikationsvorhabens, von dem niemand weiß, wohin es führen wird. Ein Fragment, ein beliebiger Ausschnitt aus einer nicht definierten Gesamtheit. Zum anderen ist das Buch nur ein Appetizer; es soll dazu anregen, sich an einem Projekt im Internet zu beteiligen. Hier mutiert das Lexikon medienkonform zum Wiki, zu einem Mitmach-Projekt, offen für alle Interessierten. "Für uns ist das Buch ein Instrument, um die Leute dazu zu bringen, sich an dem Internet-Projekt zu beteiligen", sagt Michael Leroudier, Geschäftsführer der Agentur circ. Unter www.corporate-lexikon.de stehen dort alle Corporate-Begriffe des Buches in einer irritierend rotierenden Begriffswolke bereit und warten auf den Klick des Users, der jede Definition bewerten, kommentieren und auch neue Begriffe vorschlagen kann. "Wir stellen das Lexikon als Diskussionsgrundlage ins Netz", sagt Leroudier. Das Ergebnis des Wiki-Prozesses fließt dann in die edition II ein, die nicht nur in Deutsch und Englisch, sondern auch in chinesischer und indischer Sprache erscheinen soll. Für die Gestaltung hat die Agentur bereits den renommierten Designer Roger Pfund gewonnen. Die Gestaltung verspricht wieder ungewöhnlich zu werden. Leroudier verrät nicht zu viel: "Es wird kein Buch, sondern eher ein Objekt sein, das aber lesbar ist." Sicher aber ein Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Und einfach schön.
Florian Michl ist freier Mitarbeiter bei changeX.
Hans Reitz:
circ corporate lexikon : edition I |
von corporate bullshit zu corporate culture.
circ corporate experience gmbh & co kg ,
Wiesbaden 2007, 2 x 140 Seiten in Doppelbindung.
www.corporate-lexikon.de
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Fax: +49 (0) 6 11.9 86 82- 57
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