Womit wir beim Thema sind: Wie kann man heilige Kühe umsiedeln oder wie funktioniert gesellschaftlicher oder kultureller Wandel, ohne dass gleich der Niedergang des Abend- beziehungsweise Morgenlandes ausgerufen wird? Die beiden Trainer und Managementberater Elke Schlehuber und Rainer Molzahn haben vier Jahre lang gegrübelt und jetzt ein Buch vorgelegt, das den Finger nicht nur in hiesige Wunden legt, sondern gleichzeitig auch Vorschläge macht, wie wir den Wandel in allen Teilen von Wirtschaft und Gesellschaft fördern können. Denn heilige Kühe tummeln sich auch in Deutschland "in Form von Tabus, ungeschriebenen Gesetze, unausgesprochenen Überzeugungen und Einstellungen, die im stillen Konsens das System beherrschen. Sie wirken oft lähmend, wenn sie als Götzen des Status quo auftreten, den niemand ungestraft in Frage stellen darf."
Bewusstseinsspaltung zwischen öffentlich und privat.
Dieser Status quo ist der
unumschränkte Herrscher des öffentlichen Lebens. Hier regieren
Beamte, Politiker und angeschlossene Verstärker (Rechtsanwälte,
Steuerberater, Lehrer, Journalisten und noch viele mehr). Sie
achten darauf, dass die heiligen Kühe und Götzen geschützt
bleiben. Was in den öffentlichen Räumen entschieden wird, geht
hingegen Zivilisten oder Privatbürgern wenig bis nichts an.
Kulturelle Kompetenz, also die "Fähigkeit, die Dynamik, die sich
im öffentlichen Raum eines Systems abspielt, bewusst zu machen
und die Auseinandersetzung mit heiligen Kühen einzufordern", ist
nicht gewünscht. Das Volk, so die Autoren, wird in einer
kollektiven Bewusstseinsspaltung zwischen öffentlich und privat
gehalten, damit kein Raunen und Rumoren aufkommt.
Blöd ist nur, dass diese Denkfigur ausgespielt und in der
Globalisierung sich das Spielfeld grundlegend geändert hat.
Heilige Kühe gibt es dort kaum mehr. Durch die weltweite
Vernetzung ist jeder nur einen Click vom anderen entfernt. Das
Private feiert im Internet gegenwärtig eine nicht enden wollende
Siegesserie. YouTube und Konsorten sammeln Millionen Beispiele
privater Alltagskultur. Videos, Audios, Bilder, Texte, Grafiken
überschwemmen die Welt und zerbröseln die alte Machthierarchie
zwischen öffentlich und privat. Jeder ist öffentlich! Kulturelle
Vielfalt wird sichtbar. Die Netzlogik ist grausam für das alte
Denken, denn "man muss nicht mehr zum selben Zeitpunkt an einem
Ort sein, um zusammenzuarbeiten". Die Folge: "Das, was wir tun,
wirkt sich in weit entfernten Gegenden aus und multipliziert sich
im weltweit verzweigten Netz der Informationskanäle."
Multipolarität ist einer der neuen kulturellen Eckpfeiler
in der Globalisierung. Ist Deutschland darauf vorbereitet? Die
Antwort: Nein. Denn hierzulande herrscht bis heute die Matrix der
Bipolarität. Entweder, oder! "Erlaubt und erwünscht sind in der
öffentlichen Sphäre Sachlichkeit, Objektivität, Eindeutigkeit,
Regelorientierung und schlussfolgerndes Denken. Alles andere ist
Teil der privaten Sphäre, kann also im öffentlichen Raum nicht
ohne Gefahr geäußert werden."
Anders ausgedrückt: Im öffentlichen Raum regieren
Sachthemen, Sachkonflikte, Regeln und formale Abläufe. Das Motto:
Alles unter Kontrolle! Im privaten Raum stehen Beziehungen,
Gefühle, Ängste und Einsamkeit im Blickpunkt. Mit der
dramatischen Folge, dass diese und dadurch immer mehr Menschen
nicht mehr sichtbar sind: Arbeitslose, Migranten oder andere
Minderheiten können ein Lied davon singen. Ihre Stimmen werden
nicht mehr gehört, "weil sie zu verletzlich, unfertig, subjektiv
und überhaupt sozial unerwünscht sind". Viele Menschen kommen im
öffentlichen Raum einfach nicht mehr vor. Noch schlimmer: Als
statistische Größe werden sie ohne Unterlass gedemütigt.
Schlehubers und Molzahns Fazit ist diesbezüglich
ernüchternd: "So bekommen die öffentlichen Diskussionen, deren
Zeugen und Adressaten wir sind, zunehmend etwas Gespenstisches
und ritualhaft Erstarrtes, ein teilweise absurdes
Marionettentheater, das immer weniger mit der Wirklichkeit
übereinstimmt, die wir mit unserem gesunden Menschenverstand
wahrnehmen."
Positionen statt Relationen.
Diese Erstarrung setzt sich nahtlos
in der Politik fort. Die Entscheidungsprozesse dauern ewig und es
kommt nichts dabei heraus. Wie auch, es geht nur mehr um
Positionen und nicht um Relationen. Überdies herrscht allgemeine
Ratlosigkeit darüber, womit die alten Positionen zu ersetzen
sind. Beispiele gibt es zuhauf: Ladenöffnungszeiten, Dosenpfand,
Transrapid, Zuwanderungsgesetz, Gesundheitsreform. Jeden Tag
reproduziert sich der öffentliche Raum mit einer Lethargie und
Beziehungslosigkeit, die zum Himmel stinkt. Und wenn dann alles
im Dickicht von Checks und Balances festsitzt, wartet für einen
der Akteure ein langer Rechtsweg darauf, beschritten zu werden.
Wer weiß schon, dass die Anzahl der Richter in Deutschland der in
den USA entspricht. Allein in Hamburg gibt es mehr Richter als in
ganz Großbritannien.
Die Orientierungslosigkeit auf allen Ebenen hat fatale
Folgen, denn wir wissen als Einzelne oft auch nicht mehr, was wir
tun. Gefangen im Terror der Sachzwänge! Als Kunde wollen wir
beispielsweise billig einkaufen, obwohl wir dadurch unseren
eigenen Arbeitsplatz, der ins kostengünstigere Ausland abwandert,
gefährden. Als Manager bauen wir Kraftwerke in fernen Ländern,
obwohl wir damit wissentlich zur globalen Erwärmung beitragen.
Kognitive Dissonanz allerorten! Wir kommen einfach aus der
negativen Rückkoppelungsschleife nicht mehr heraus: Die Systeme
rasen im Blindflug durch die Gegenwart. An Bord versuchen die
Passagiere, den Anweisungen des Bordpersonals Folge zu leisten.
Beispiel Unternehmen: Quantitatives Wachstum ist dort die
heiligste aller Kühe. Der Grundsatz: Egal wie, am Ende des
Geschäftsjahres ist nur ein Umsatzplus erlaubt. Wenn nicht,
werden Soll-Ist-Vergleiche gezogen, neue Ziele definiert,
Arbeitsgruppen gebildet, Projekte aufgesetzt, wird Aktivität
bewiesen. Es geht einzig und alleine um die Sache. Besser gesagt,
um eine sachliche, bessere Lösung. Mit dem Ziel, die heilige Kuh
weiter zu mästen. Schlehuber und Molzahn empfehlen, diesbezüglich
im Duden nachzuschlagen. Sachlich bedeutet "nicht von Gefühlen
oder Vorurteilen bestimmt; nüchtern; ohne Gefühlsbeteiligung; nur
auf den in Frage stehenden Sachzusammenhang bezogen; objektiv; in
der Sache begründet; von der Sache her; ein sachlicher
Unterschied; etwas ist richtig, falsch". Menschen kommen nicht
mehr vor. Maschinensoldaten regieren die Sachzwänge. Zutritt
verboten!
Sprache ist übrigens noch in anderer Hinsicht ein
untrüglicher Zeuge. Das heutige Managerdeutsch verzichtet nämlich
weitgehend auf (bewegliche, aktive) Verben und hebt, so oft es
kann, die (bleiernen, passiven) Substantive auf den Thron. In
jedem Projektpapier finden sich mittlerweile Sätze wie:
"Flexibilität und Kundenorientierung sind von oberster
Priorität." Oder: "Nachhaltigkeit und Verantwortung sind zentrale
Unternehmenswerte." Die meisten Mitarbeiter lachen sich seit
Jahren ob dieses Unsinns inhaltsleerer Floskeln schlapp.
Gute Beziehungen pflegen.
Das Ende vom bipolaren Spiel: Wie
Menschen wirklich leben, arbeiten und wirtschaften wollen, wird
als überflüssiger Beziehungskram in den privaten Raum
abgeschoben. Beziehungsmanagement und -arbeit sind jedoch der
nährstoffreiche Humus, aus dem die systemischen Agenturen
herauswachsen. Das fängt in Kindergarten und Schule an. Anstatt
uns zu fragen, wie wir mit Kindern und Jugendlichen umgehen
wollen, damit aus ihnen selbstbewusste und freie Menschen werden,
kasernieren und drangsalieren wir sie in Drillanstalten. Und es
geht weiter in der Arbeitswelt. Anstatt uns zu fragen, wie wir
selbständige Wirtschaftsbürger bei freier Selbstentfaltung werden
können, zwingen wir die Menschen dazu, ihre wahren Fähigkeiten
ein Leben lang zu verbergen und zu verleugnen.
Fazit: Wirtschaft und Gesellschaft heißt in erster Linie,
gute Beziehungen zu Menschen zu pflegen. Und eben nicht mehr
länger Machterhalt, Misstrauen, Kontrolle und Objektivität
aufrechtzuerhalten - nur um des Sachzwangs willen. In vielen
Unternehmen und Organisationen hat diese mühsame, aber erfüllende
Beziehungs- und Kommunikationsarbeit schon begonnen.
Schlehuber und Molzahn haben hierfür außergewöhnlich
kompetente Grundlagenarbeit geleistet. Und sie haben bewiesen,
dass kulturelle Kompetenz jeden Tag neu erarbeitet werden kann.
Dafür müssen Menschen in erster Linie wieder sichtbar werden.
Hier beginnt der eigentliche Wandel in Wirtschaft und
Gesellschaft. Stimmt! Wir sollten uns nicht die Entscheidung
abjagen lassen, wie wir morgen leben, arbeiten und wirtschaften
wollen. Die beiden Autoren schlagen deshalb ein "großes
öffentliches Palaver über unsere gesellschaftlichen Beziehungen"
vor. In der Tat: Der öffentliche Raum könnte in diesem Sinne
privatisiert werden.
Peter Felixberger ist Geschäftsführer von changeX und Koordinator von Culture Counts.
Elke Schlehuber / Rainer Molzahn:
Die heiligen Kühe und die Wölfe des Wandels.
Warum wir ohne kulturelle Kompetenz nicht mit Veränderungen
klarkommen,
GABAL Verlag, Offenbach 2007,
418 Seiten, 29.90 Euro,
ISBN 978-3-89749-666-8
www.gabal-verlag.de
www.schlehuber-molzahn.de
© changeX [22.03.2007] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 22.03.2007. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Ausgewählte Beiträge zum Thema
Die Wissensgesellschaft eröffnet den Menschen ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten - ein Essay von Michael Gleich und Winfried Kretschmer. zum Essay
Das Pinguin-Prinzip. Wie Veränderung zum Erfolg führt - das neue Buch von John Kotter und Holger Rathgeber. zur Rezension
Es gibt immer eine Alternative - das neue Buch von Ute Hélène von Reibnitz. zur Rezension
Wie wir beweglich und lebendig bleiben - ein Essay von Ralf G. Nemeczek. zum Essay
Zum Buch
Elke Schlehuber / Rainer Molzahn: Die heiligen Kühe und die Wölfe des Wandels. Warum wir ohne kulturelle Kompetenz nicht mit Veränderungen klarkommen.. GABAL Verlag, Offenbach 1900, 418 Seiten, ISBN 978-3-89749-666-8
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
Autor
Peter FelixbergerPeter Felixberger ist Publizist, Buchautor und Medienentwickler.
weitere Artikel des Autors
System Error – Ulrich Thielemanns Kritik der freien Marktwirtschaft. zur Rezension
Uwe Jean Heusers Ratschläge: Was aus Deutschland werden soll. zur Rezension
Horst W. Opaschowskis Plädoyer für einen erweiterten Wohlstandsbegriff: Wohlstand neu denken! zur Rezension