Stürmer ist auf der Suche nach den langen Entwicklungslinien, die über die weltpolitische Aktualität hinaus das Wesen einer Epoche kennzeichnen. Nicht umsonst bezieht er sich auf Jakob Burckhardt, den bekannten Kunsthistoriker des 19. Jahrhunderts, wenn er schreibt: "In der Krise unserer Zeit geht es darum, die langen Wellen der Geschichte zu erkennen, woher sie kommen und was sie mit sich tragen und wohin." Wie der Basler Historiker will er das Historische zum Lehrmeister für die Deutung der Zukunft machen. "Nur wer die Geschichte kennt, kann verstehen, was die Zukunft bringen wird", lautet die Maxime des Autors.
Im Zeitalter des "Un-".
Tatsächlich gewinnt in seinem Buch
die jüngere Geschichte der Welt eine ungeheure Plastizität. Die
Kriege der Nachkriegszeit, die Ölkrise, der Fall des Eisernen
Vorhangs, der Zusammenbruch der Sowjetunion und der
kommunistischen Staaten Osteuropas zeigen sich als Vorboten jener
noch viel gravierenderen Verwerfungen, mit denen wir uns heute
konfrontiert sehen. Das "Gleichgewicht des Schreckens", das die
Menschen einst in seinen Bann schlug, erscheint aus heutiger
Sicht als eine Phase weltpolitischer Stabilität, in der eben die
Fähigkeit zum atomaren Zweitschlag einen Einsatz der nuklearen
Schreckenswaffen verhinderte, der heute wieder in den Bereich des
Möglichen gerückt ist. Auf die Bipolarität des Kalten Krieges
folgte die Weltunordnung, auf die Stabilität des nuklearen
Kräftegleichgewichts das Zeitalter des "Un-":
"Ungleichzeitigkeit, Ungleichgewicht, Unregierbarkeit werden mehr
und mehr zur Signatur der Epoche, und keine Weltordnung hat mehr
die Macht wie vordem die bipolar-nukleare, die Kräfte einzubinden
und zu disziplinieren."
Erst heute tritt die neue Dimension des Schreckens klar
hervor; nach dem Ende des Kalten Krieges im Jahr 1990 blieb sie
ein Jahrzehnt lang "verborgen hinter einem Vorhang aus
Zweideutigkeit, Wunschdenken und selbst gewählter Schwäche".
Unterdessen aber hört man, so Stürmer, "den Hufschlag der
apokalyptischen Reiter der Postmoderne: Massenvernichtungswaffen,
Terror, Chaosstaaten und Cyberwar in jeder Kombination".
Der Ernstfall ist immer und überall.
Das sind drastische Worte, aber
Stürmer geht es darum, den Vorhang gefälliger Beschwichtigung zu
zerreißen. "Kalte Analyse, gefolgt von mutiger Entschlossenheit
sind geboten, und dazu gehört zuerst und vor allem begriffliche
Klarheit." Es geht darum, den Ernstfall denken zu lernen - und zu
begreifen, dass in Zeiten der Asymmetrie dieser Ernstfall immer
und überall lauert. Und weil das so ist, kann passives Warten in
die Katastrophe führen, warnt der Autor. Die Konsequenz, die er
aus der drohenden, der "möglichen Wendung ins Apokalyptische"
zieht, bedient sich nicht umsonst des Schlüsselbegriffs aus der
neuen amerikanischen Sicherheitsdoktrin: Aus der neuen Lage
entsteht, so Stürmer, die "grimmige Logik der politischen
Prävention, ja der militärischen Präemption". Denn auf dem Spiel
steht unsere, die westlich-aufgeklärte Art zu leben.
Stürmers grimmige Konsequenz führt in das Zentrum der
politischen Kontroverse um den Irak-Krieg und Amerikas "Krieg
gegen den Terror" im Allgemeinen. Auf politisch vermintem Gelände
indes macht sich Stürmers klare Analyse angreifbar. So macht es
sich der Autor doch zu leicht, wenn er das lange Scheitern des
Irak-Krieges allein mit einem Mangel an "boots on the ground",
also an kämpfenden Truppen, erklären will und auch an der
Begründung dieses Krieges keinen Zweifel aufkommen lässt. Das
würde er vermutlich als Ausdruck falschen Appeasements werten. So
beschreibt das Buch eine Weltsicht, die stark von der
US-amerikanischen Perspektive geprägt ist. Damit stellt sich die
entscheidende Frage gar nicht: Ob nicht eine Welt ohne zentrale
Weltordnung, ohne grimmige Hegemonialmacht, eine Welt, die von
der Vielfalt der Kulturen und Sichtweisen lebt, ein Modell für
die Zukunft sein könnte. Und eine Alternative zur Apokalypse.
Dennoch: Stürmers Thesen muss man sich stellen.
Winfried Kretschmer ist leitender Redakteur und Co-Geschäftsführer bei changeX.
Michael Stürmer:
Welt ohne Weltordnung.
Wer wird die Erde erben?,
Murmann Verlag, Hamburg 2006,
256 Seiten, 22.50 Euro,
ISBN 3-938017-61-9
www.Murmann-Verlag.de
© changeX Partnerforum [27.10.2006] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.