Wegbereiter der Ökonomisierung des Denkens.
Diese "Ökonomisierung des Denkens"
ist vielfach beklagt worden - einer, der sie entscheidend mit
vorangebracht hat, ist Herbert Giersch, der, so der Murmann
Verlag, "große Wirtschaftsweise der Bundesrepublik Deutschland".
Er hat die ökonomische Entwicklung des Landes von den
Wirtschaftswunderjahren bis in die Zeit der Globalisierung
begleitet und mitgestaltet. Herbert Giersch war 20 Jahre
Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, Mitglied des
Sachverständigenrates zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung, und er hat von Ludwig Erhard, Karl Schiller, Franz
Josef Strauß bis Helmut Schmidt eine ganze Generation von
Wirtschafts- und Finanzpolitikern beraten - oder mit ihnen
gestritten.
Er gilt überdies als Erfinder der "konzertierten Aktion"
sowie der "Standortdebatte" und hat schon früh die großen Themen
des ökonomischen Diskurses vorausgesehen. Neben seinen
wissenschaftlichen Publikationen war Giersch stets bemüht, als
Publizist einem breiteren Publikum ökonomische Sachverhalte
begreifbar zu machen; so schrieb er als Kolumnist für die
Wirtschaftswoche. Sein neues Buch vereint Aufsätze und
Kommentare aus fünf Jahrzehnten und gibt damit einen Überblick
über die wirtschaftliche Geschichte dieses Landes - verständlich,
pointiert und elegant geschrieben.
Selbstbedienung im Wirtschaftswunderland.
Früh hat Giersch auch auf die
Probleme hingewiesen, die dem Hochlohnland Bundesrepublik durch
die wachsende Konkurrenz aufstrebender Schwellenländer drohen.
"Wenn wir dem Wettbewerbsdruck aus den Aufholländern nicht - mit
technologischen Durchbrüchen - davoneilen, trifft die
Arbeitnehmer hierzulande eine notwendige Konsequenz: Einfache
Arbeit, die nicht in hochwertige Produkte eingeht, erleidet einen
Wertverlust." In der Perspektive relativer Preise ist die
Konsequenz Automatisierung, Produktionsverlagerung ins Ausland -
und als Resultat aus beidem: Arbeitslosigkeit.
So wird auch klar, wo die Feinde der offenen Gesellschaft
sitzen: Es sind die Verteidiger "sozialistischer Mentalität in
der sozialen Demokratie", allen voran die Gewerkschaften, deren
historisches Vermächtnis der kämpferische Ökonom eisklar
herausarbeitet: Selbstbedienung im Wirtschaftswunderland. Die
Konsequenz: "So gesehen zahlen die Arbeitslosen als Außenseiter
heute den Preis dafür, dass die Beschäftigten als 'Insider' sich
einen Reallohn erkämpft und gesichert haben, der zu hoch ist, um
mit Vollbeschäftigung vereinbar zu sein." Das kann man als
Kommentar zur aktuellen Mindestlohn-Debatte lesen - geschrieben
wurde es 1994.
Markt als Entdeckungsverfahren.
Die komparativen Lohnkosten sind
das Standardargument von Herbert Giersch, das auch im Mittelpunkt
seines aktuellen Aufsatzes zur Krise des Landes steht. Noch
einmal geißelt er die Mentalität der Besitzstandswahrer, die
glauben, "als Inhaber eines Rechts auf ein auskömmliches
Einkommen" an der Wirtschaftsgesellschaft teilzunehmen, und
hoffen, dass "die persönlichen Kosten des Strukturwandels, der
lästigen Flexibilität von anderen getragen werden". Sein
Vorschlag zur Lösung der Krise speist sich indes aus altem
Denken: dem Rückgriff auf den alten, rheinischen Korporatismus:
eine zwischen den Tarifpartnern vereinbarte Tariflohnpause, die
gelten solle, bis die Arbeitslosigkeit auf drei oder vier
Millionen zurückgegangen ist. Das ist gut gemeint, nur was sagen
Herr Bsirske und Herr Peters dazu?
Schade, dass Giersch nicht den anderen großen Pfad in
seinem Denken beschritten hat: den Pfad, der ins Unbekannte
führt, und der in der Tradition Schumpeters steht. Markt ist ein
Entdeckungsverfahren: Es geht um das "Aufdecken von
Marktchancen". Innovation schafft Wachstum. In diesem Sinne hat
Herbert Giersch schon 1983 die unternehmerische
Innovationsleistung in den Mittelpunkt der Ökonomie gerückt und
das letzte Viertel des Jahrhunderts "das Zeitalter Joseph A.
Schumpeters" genannt - später aber die Geltung dieser These auf
die USA eingeschränkt. Hat der alte Ökonom, wenn er auf
Korporatismus statt auf Innovation setzt, Deutschland ökonomisch
vielleicht schon abgeschrieben? Der letzte Satz seines Buches
jedenfalls verrät erlahmende Geduld mit diesem Land: "Warum
eigentlich zögern wir?"
Herbert Giersch:
Die offene Gesellschaft und ihre Wirtschaft.
Aufsätze und Kommentare aus fünf Jahrzehnten,
Murmann Verlag, Hamburg 2006,
381 Seiten, 34 Euro,
ISBN 3-938017-32-5
www.murmann-verlag.de
Winfried Kretschmer, Journalist und Autor, arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.
© changeX [25.04.2006] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.