Kritisch und neutral.
Die deutsche Geschichte ist vor
allem, aber nicht nur von Hitler ideologisch missbraucht worden.
Sie diente schon oft einer leicht anrüchigen Identitätsstiftung.
Von "preußischen Tugenden" und anderen Dingen, auf die sich
vielleicht stolz sein ließe, hält Wilhelm von Sternburg jedoch
rein gar nichts. Er nähert sich dem mit kritischem Blick und dem
Motto: "Geschichte ist janusköpfig. Sie hat immer zwei Seiten.
Verbrechen und menschliche Größe stehen eng beieinander." So
werden denn auch historische Persönlichkeiten von allen Seiten,
mit ihren Stärken und Schwächen, unter die Lupe genommen.
Zum Beispiel besagter "Hermann den Cherusker", der
vermeintlich den eisernen Durchhaltewillen der Deutschen
demonstrierte und ein protziges Denkmal im Teutoburger Wald
bekam, in Wirklichkeit aber Armin hieß, schlicht seine Interessen
verfolgte und bei Bedarf wie andere Germanenfürsten auch ganz
schnell die Seiten wechselte. Oder Luther, der intelligent und
mutig der katholischen Kirche trotzte, sich aber auch als
Judenhasser profilierte und sich in den Bauernkriegen gegen die
verzweifelten Menschen und auf die Seite der Obrigkeit stellte -
sein Mordaufruf kostete viele Bauern das Leben. Auch Bismarck, 27
Jahre lang mächtigste politische Figur in Deutschland und mit
einem enormen Nachruhm gesegnet, bekommt sein Fett weg: "Der neue
preußische Ministerpräsident wird die Krise bewältigen, drei
Kriege auslösen, das Reich einen und es gleichberechtigt neben
die anderen europäischen Großmächte stellen. Dies alles in einem
Zeitraum von knapp zehn Jahren. Dabei verwaltet er das neue
Kaiserreich und weist die sozialen und liberalen Kräfte, die sich
gegen die politische Entmündigung des Volkes wehren, mit vielen
parlamentarischen Tricks und harter Hand in ihre
Schranken."
Geschichte wird von Menschen gemacht.
Differenziert, fair und spannend
berichtet von Sternburg von der Massenhysterie, die das Deutsche
Reich beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs erfasste, von Hitlers
Herrschaft, die nahezu 50 Millionen Menschen das Leben kostete,
von Gleichschaltung, Terror und Aufrüstung im Dritten Reich.
Später vom Fall der Mauer und der Wiedervereinigung. Nach der
Wiedervereinigung kommt nicht mehr viel, der Zeit von 1998 bis
heute gönnt er nur noch eine Seite. Aber vielleicht ist das alles
auch noch zu frisch, um schon einen Platz in einem Geschichtsbuch
zu finden.
Wilhelm von Sternburg erzählt sehr viel von Menschen,
zahlreiche spannende Porträts bilden das Herzstück seines Buches.
Er berichtet über Herrscher, Künstler und Geschäftsleute; über
Jakob Fugger, Friedrich den Großen, Marx und Engels, Hildegard
von Bingen, Bach und Wagner, Willy Brandt und Rudi Dutschke.
Viele, auch wenig bekannte Details lassen diese Akteure lebendig
werden - so entsteht nach und nach ein großes, faszinierendes
Tableau der Geschichte.
Kein Jugendbuch.
Ein ausführliches Register
erleichtert es, sich all diese Menschen und Ereignisse zu
erschließen, wenn man nicht gleich das ganze Buch durcharbeiten
möchte. Leider enthält es keine Karten, dafür aber Illustrationen
der Künstlerin Silke Reimers; sie hat farbenprächtige Collagen
der deutschen Geschichte geschaffen.
Offiziell ist die
Geschichte der Deutschen eins der Jugendsachbücher, für
die der Campus Verlag inzwischen bekannt geworden ist. Doch nur
ältere Jugendliche, die sich ernsthaft für Geschichte begeistern,
werden sich an dieses sehr detailreich und ausführlich geratene
Werk wagen. Schon das Vorwort "Warum über Geschichte nachdenken?"
ist arg betulich geraten - von Sternburg, der lange Jahre als
Journalist gearbeitet hat und Chefredakteur beim Fernsehen des
Hessischen Rundfunks war, schreibt darin zwar
über Jugendliche, aber nicht
für sie. Stattdessen sollte man von Sternburgs Buch als
verständliche, ohne Vorwissen lesbare Einführung sehen, die im
Erwachsenenregal genauso gut oder sogar besser aufgehoben
ist.
Wilhelm von Sternburg:
Die Geschichte der Deutschen,
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2005,
304 Seiten, 19.90 Euro,
ISBN 3-593-37100-6
www.campus.de
Nina Hesse ist freie Mitarbeiterin von changeX.
© changeX Partnerforum [18.08.2005] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved>
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Zum Buch
Wilhelm von Sternburg: Die Geschichte der Deutschen. . Campus Verlag, Frankfurt/New York 1900, 304 Seiten, ISBN 3-593-37100-6
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