Selbstschöpfung gefragt
Patchworkidentitäten - ein Workshop der BMBF-Projekte NErVUM und ViCO.
Von Peter M. Steiner
Geradlinige Werdegänge sind passé, die Lebensläufe werden immer bunter. Aber ist das nun ein Stück zusätzliche Freiheit, eine gelungene Flexibilisierung oder eine hohe Belastung für diejenigen, deren Leben immer stärker fragmentiert wirkt? Zwei Projekte, die das Phänomen erforschen und seine menschengerechte Gestaltung unterstützen, geben Antworten und stellen neue Fragen.
"Wer Identität sagt, ist schon zerrissen." Dieser Satz des Arztes und Dichters Gottfried Benn deutet ein Lebensproblem an, das die Erfahrung zwischen Beruf und Kunst, zwischen alltäglichem Elend und persönlicher Reflexion in der Moderne thematisiert. Die Zerreißprobe für eine Biografie, die Benn zur Sprache bringt, ist in der von gesellschaftlichen Umwälzungen erster Größenordnung und von Kriegen geschüttelten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Allgemeinplatz. Die Zeit danach hat dagegen in Europa und insbesondere in Deutschland, wenn auch zunächst hauptsächlich nur im Westen, einen bis dahin beispiellosen Aufstieg zu allgemeinem Wohlstand und friedlichem Wachstum gebracht. Offenbar in einer Weise, dass sich in den Köpfen sehr vieler Menschen der Gedanke einer bruchlosen Erwerbsbiografie und abgesicherten Existenz nicht nur als Ideal, sondern als selbstverständlich erreichbares Ziel festzusetzen begann.
Doch nicht erst mit den auch in Deutschland deutlich spürbaren Auswirkungen der Globalisierung, mit einem Verfall traditioneller Werte und sich immer schneller auswirkenden Veränderungen in Handel und Industrie wird die Zahl derer, die in einem geregelten Arbeitsverhältnis ihre Lebensarbeitszeit verbringen (können), immer kleiner: "Einer von drei Beschäftigten in den USA hat mit seiner gegenwärtigen Beschäftigung weniger als ein Jahr in seiner aktuellen Firma verbracht. Zwei von drei Beschäftigten sind in ihren aktuellen Jobs weniger als fünf Jahre. Vor 20 Jahren waren in Großbritannien 80 Prozent der beruflichen Tätigkeiten vom Typus der 40 zu 40 (eine 40-Stunden-Woche über 40 Berufsjahre hinweg). Heute gehören gerade noch einmal 30 Prozent zu diesem Typus und ihr Anteil geht weiter zurück." Darauf wies Heiner Keupp in seinem Vortrag anlässlich des Workshops "Patchworkidentitäten - riskante Fragmentierung oder gelungene Flexibilisierung?" hin.
Die Frage, die Keupp mit diesen Fakten verbindet, ist, ob es inzwischen nicht als eine Kunst des Individuums angesehen werden muss, die Stücke einer zerrissenen Biografie zu einem Ganzen zusammenzufügen. Doch wo und wie erlernt man diese Kunst, wo und wie erhält man dafür Hilfestellung?

Hilfestellung bei der Weiterentwicklung.


Die vom BMBF im Rahmen des Programms "Innovative Arbeitsgestaltung" geförderten und an der Universität Dortmund angesiedelten Projekte NErVUM und ViCO haben zu diesem Fragenkomplex Ende Mai 2005 in Dortmund einen Workshop ausgerichtet. Beide Projekte verbindet das Forschungsobjekt der persönlichen Kompetenzentwicklung und wie man in den Zusammenhängen virtualisierter Arbeit, mit Computer und Internet als Hilfsmittel, Kompetenzen befördern kann. ViCO arbeitet unter der Projektleitung des Technikdidaktikers Bernd Ott an einem "Virtuellen Qualifizierungscoach", einer Software für die selbständigen oder weitgehend selbständig beschäftigten Mitarbeiter in virtuellen Unternehmen und Projekten, die sich über das Internet mit dieser Software jene Unterstützung holen können, die sie für jeweils aktuelle Anforderungen benötigen. Kompetenzentwicklung auch ohne Personalbüros großer Unternehmen und ohne Beratungsleistungen Dritter soll hier entstehen können. NErVUM, vollständig "Neue Erwerbsbiografien in virtuellen Unternehmen der Medienindustrie", unter der Projektleitung des Arbeitssoziologen Hartmut Neuendorff "will die menschengerechte Gestaltung brüchiger Erwerbsbiografien durch Instrumente der Personal- und Organisationsentwicklung unterstützen, die verschiedene Erwerbsformen als sich ergänzende Optionen innerhalb des Erwerbslebens definieren".

Woher kommen die Identitätsmuster?


ViCO und NErVUM nutzten die Gelegenheit, in zwei verschiedenen Panels ihre Forschungsergebnisse zur Kompetenzentwicklung vorzutragen und mit den Fachleuten der "Patchworkidentität" zu diskutieren.
Als Hauptreferenten waren neben dem Sozialpsychologen Heiner Keupp von der Münchner Ludwigs-Maximilians-Universität die Soziologen Axel Bolder von der Universität Köln und der Arbeitspsychologe Ernst Hoff von der FU Berlin geladen. Keupp hat den Begriff der "Patchworkidentität" schon vor Jahren als Metapher dafür geprägt, dass die Brüche in der Identität, die für ein Leben aus der Erwerbstätigkeit gezogen wird, nicht unvermittelt nebeneinander stehen müssen, sondern miteinander verbunden, "genäht", werden können, so dass eine aus verschiedenen Flecken und dennoch kreativ zusammengesetzte Identität entsteht. Ausgehend von dem Problem aktueller gesellschaftlicher Umbrüche, die "ans 'Eingemachte' in der Ökonomie, in der Gesellschaft, in der Kultur, in den privaten Welten und auch an die Identität der Subjekte" gehen, stellt Keupp eklatante Folgen für Bildungsprozesse der Individuen fest. Und er fragt: "Woher kommen die Entwürfe für die jeweiligen Identitätsmuster? Gibt es gesellschaftlich vorgefertigte Schnittmuster, nach denen man sein eigenes Produkt fertigen kann? Gibt es Fertigpackungen mit allem erforderlichen Werkzeug und Material, das einem die Last der Selbstschöpfung ersparen kann?" Die Antwort, die Keupp auf diese Fragen bereithält, bedient sich, wie in Soziologie und Psychologie üblich geworden, aus dem Vokabular der Biologie: Nach dem Prinzip der Selbstorganisation sollen auch moderne und aktuelle soziale Phänomene wie Patchworkidentitäten verstanden werden. Der "Sinn des Lebens" liege insofern auch nicht darin, ihn aus vorgefertigten Modellen zu übernehmen, sondern es sei "Selbstschöpfung" gefragt.
Im Kontrast dazu betonte Axel Bolder den sozial-ethischen und politischen Gestaltungsrahmen für die Möglichkeit, Vorgaben für den Halt von Identitäten zu bieten, der durch Umwälzungen vielfältiger Art verloren zu gehen droht. Er meint daher, wenn es "unter der Prämisse des Sozialstaats", "um die Chance einer 'gelungenen' Identität" ginge, dann stünden "Fragen wie die Unterstützung der Entwicklung neuer Lebenslaufregimes und erwerbsbiografischer Gestaltungskompetenz auf der Tagesordnung" der Politik.
Ernst Hoff wiederum konzentrierte sich auf "die extrem arbeitszentrierte und entgrenzte Lebensgestaltung von jungen Gründern und Mitarbeitern in IT-'Start-ups', bei denen Arbeit und Freizeit, berufliche und private Ziele zu verschmelzen scheinen". Hoff wollte daran den seines Erachtens "prototypischen" Zielkonflikt im "Strukturwandel der Arbeit" aufzeigen, der - an sich ganz positiv - "zu erhöhter Reflexion persönlicher Lebensziele und zu Änderungen der Lebensgestaltung im Sinne einer Konfliktbewältigung führen" könne.

Belastung oder Freiheit?


Die Abschlussdiskussion mit Vertretern der Gewerkschaften und aus Unternehmen rührte noch einmal an die Grundfragen der Forschungsprojekte. Während ViCO für die Erstellung nachvollziehbarer Kompetenzprofile den Unterschied von (herkömmlichen) Berufsgruppen zur in sich uneinheitlichen Arbeitswirklichkeit in virtuellen Unternehmen betonen muss, stehen für NErVUM die Freiräume im Vordergrund, die der Einzelne für seine Lernprozesse schaffen müsse. Daraus könne letztlich die positive Gestaltung diskontinuierlicher Erwerbsbiografien gelingen. In der Arbeitswirklichkeit der Unternehmen werden Weiterbildungsprozesse eher auf unmittelbare Anforderungen beziehungsweise Projekte und Aufgaben bezogen. Die Gewerkschaften sehen daraus die Anforderung an sich gestellt, ergänzende, auch und vor allem individuelle Angebote machen zu können.
Die "reflexive Modernisierung" hält Einzug nicht nur in der Arbeitswelt, sondern ausgehend vom Bruch einer Identifikation von Arbeit und Leben in allen unseren Lebensvollzügen. "Wer Identität sagt, ist schon zerrissen", aber vielleicht sehen wir uns, anders als Gottfried Benn zu seiner Zeit, inzwischen in die Lage versetzt, das Patchwork unseres Lebens als "Normalität" zu betrachten. Ohne Zweifel können hier Bildungsprozesse, wie sie durch angewandte Forschungsprojekte wie ViCO und NErVUM angegangen werden, einen Beitrag leisten.

Peter M. Steiner ist einer der Gründer und wissenschaftlicher Vorstand von Global Lectures, einem Partner des Projekts ViCO.

Zu den Partnern von ViCO siehe
www.virtueller-coach.de
von NErVUM
www.nervum.de

Links zu weiteren Projekten des Forschungsschwerpunktes
"Innovative Arbeitsgestaltung - Zukunft der Arbeit":

InVirtO: www.invirto.de
@VirtU: www.atvirtu.de
AVAG projektwerk: www.projektwerk.de
vertikult: www.vertikult.de
KOVIUS: www.kovius.org
AERVICO: www.iaw.rwth-aachen.de/projekte/aervico
VirtoWeb: www.c-lab.de/virtoweb
Arbeit@VU: www.virtuelleunternehmen.com

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Peter M. Steiner

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