Doch gerade Jungen würde es gut tun, öfter mal die Nase in ein Buch zu stecken. In der Schule werden sie von den Mädchen überflügelt, auch an den Hochschulen sind sie inzwischen in der Minderzahl. In der Wissensgesellschaft, in der es mehr auf Sozialkompetenz und Bildung ankommt als auf Körperkraft, landen immer mehr Männer im Abseits. "Jungen fördern, Mädchen sind schon stark genug!", appelliert Müller-Walde denn auch eindringlich. Alarmiert davon, dass ihr Sohn nicht mehr lesen mochte, hat sie sich auf eine Suche nach den Ursachen der Leseunlust gemacht - in der schwierigen Altersgruppe der 13- bis 17-Jährigen, in der es die meisten Buchverweigerer gibt. Herausgekommen ist ein informatives, oft witziges und sehr praxistaugliches Buch für Eltern, Lehrer und alle, denen die Leseförderung am Herzen liegt.
Worthunger wecken - rechtzeitig.
Eins ist Katrin Müller-Walde bei
ihren Recherchen immer klarer geworden: "Es kostet Mühe, ein Kind
worthungrig werden zu lassen." Es ist nun mal anstrengend,
Zeichen zu entziffern und eine Welt im Kopf entstehen zu lassen.
Unser Gehirn ist dafür eigentlich nicht vorgesehen, deshalb muss
man sich das Lesen hart erarbeiten. Fernsehen oder Videospiele
verschaffen den gleichen Kick, nur schneller und einfacher. Das
Problem dabei ist, dass das Gehirn dadurch anders und längst
nicht so umfassend beansprucht und trainiert wird. Lesen erhöht
die Sprachkompetenz und fördert die Persönlichkeitsentwicklung -
vom Fernsehen hat das noch niemand behauptet.
Ein Teil der Antwort natürlich: fördern, fördern, fördern.
Ganz wichtig ist dabei der richtige Zeitpunkt. Für jede Fähigkeit
gibt es bestimmte Phasen, in denen man etwas besonders gut lernen
kann. Das "Sprachfenster" zum Beispiel, in dem ein Kind sich
mühelos seine eigene und andere Sprachen aneignet, schließt sich
zwischen dem fünften und dem achten Lebensjahr. Zwischen dem 13.
und dem 15. Lebensjahr geht dann das "Lesefenster" zu - meist für
immer. Wer sich in Toleranz üben und warten will, bis sich die
Ballerspiel-Phase des Sohns von alleine ausgewachsen hat und man
ihm Bücher schmackhaft machen kann, der verpasst eine wichtige
Chance. "Wer bis zur fünften Klasse das Lesen von Büchern in
seiner Freizeit nicht gelernt hat zu genießen, wird auf dem Weg
zur Leselust ohne Hilfe von außen kaum noch auskommen", gibt
Müller-Walde zu bedenken. "Jetzt zählt jeder Tag!"
Schule und Elternhaus, beide müssen dabei an einem Strang
ziehen. Im Moment sind sie vor allem damit beschäftigt, sich
gegenseitig Unfähigkeit zu attestieren - während der Nachwuchs
nach dem Motto "Streit ruhig weiter, ich seh derweil fern" mal
wieder vor der Glotze landet. Dabei können beide Seiten eine
Menge tun, wie Müller-Walde mit einer Fülle von Tipps, viele
davon aus den USA übernommen, demonstriert. Dazu zählen ganz
einfache Maßnahmen - zum Beispiel, im Unterricht nicht nur
fiktionale Literatur zu besprechen, sondern auch dem Sachbuch
einen Platz einzuräumen. Denn das wird von Jungen stärker genutzt
als von Mädchen.
Das "gute" Buch.
Der zweite Stolperstein auf dem Weg
zur Leselust ist das vermeintliche "gute Buch". Über dieses Thema
hat Katrin Müller-Walde viel zu sagen, und das wenigste davon
fällt schmeichelhaft aus für den Kanon der Klassiker. Wer seinen
Nachwuchs gleich zu Anfang mit pädagogisch wertvollen Werken
traktiert, der hat meistens verloren. Besonders die Bücher, die
in der Schule gelesen werden, sind eher dazu geeignet, Schülern
die Lust am Lesen zu vermiesen. Über die Bücher dagegen, die den
Jugendlichen selbst gefallen oder die sie cool finden, rümpfen
die Erwachsenen oft die Nase.
Kein Wunder - seit der Aufklärung teilt man hierzulande das
Lesen in "gutes" oder "schlechtes" ein, wobei unter dem "guten"
das schöngeistige, bildende Lesen schwer verdaulicher Bücher
verstanden wird. Lesen zum Spaß? Igitt. Lustvolles Fabulieren und
Geschichtenerzählen? In der deutschen Literaturtradition höchst
suspekt, das riecht geradezu nach Trivialroman und Kulturverfall.
Müller-Waldes Ansatz ist: "Erst kommt die Lust, dann die
Bildung." Es ist herzerwärmend, wie sie sich für
alle Bücher in die Bresche wirft. Ihr Tipp ist:
Bildungsbürgerliche Maßstäbe über Bord werfen, beherzt zum
Herrn der Ringe oder zu
Play Zone greifen und so beim Nachwuchs mit positiven
Erlebnissen erst mal die Lust am Lesen wecken. Ist die fest
etabliert, dann wagt er sich auch an schwierigere Werke und ist
nicht mehr so leicht abzuschrecken. Erwischt jedoch der
Leseneuling ein paarmal Bücher, die ihm nicht gefallen, lässt das
Leseinteresse schnell wieder nach. Es muss mit den richtigen
Büchern immer wieder neu angefacht werden.
Das coole Buch.
Aber welche Bücher machen Jungen
wirklich Spaß? Die meisten Eltern stehen ratlos vor dem Wust der
Neuerscheinungen - und greifen dann doch wieder zu manchmal schon
etwas angestaubten Klassikern, die sie aus ihrer eigenen Kindheit
kennen. Deswegen besteht fast die Hälfte von Müller-Waldes Buch
aus 50 Buchtipps, die sie aus einer Umfrage unter lesenden Jungen
herausdestilliert hat. Hier finden sich Bücher, die einen
"reinziehen", die spannend oder lustig sind und einen nicht
loslassen, bis man die letzte Seite gelesen hat. Die süchtig
machen auf das nächste Buch, auf die nächste Geschichte. "Hohe"
Literatur sucht man hier vergebens, dafür findet man hier Bücher,
die von Gleichaltrigen empfohlen werden - was besonders für Jungs
ein ganz wichtiges Kriterium ist. Sind diese Bücher dann auch
noch düster, drastisch und abstoßend, dann umso besser.
Der Hit unter Jugendlichen sind die irrsinnig witzigen
Bert-Bände von Jacobsson und Olsson, aber auch Klassiker
wie Michael Ende sind noch nicht abgemeldet. Gern gelesen wird
aber auch Fantasy wie Nicholsons
Windsänger oder der
Herr der Ringe, Science-Fiction wie das Kultbuch
Per Anhalter durch die Galaxis oder
Spannend-zeitgeschichtliches wie Klaus Kordons
Krokodil im Nacken. Jedes Buch bewertet Müller-Walde nach
Spannung, Humor, Action, Tiefe und Leselevel, dann gibt's einen
ausführlichen Kommentar dazu. Schon ihre Zusammenfassungen der
Handlung machen Lust darauf, in die Bücher, die man noch nicht
kennt, hineinzuschmökern. Sogar die Reaktionen der männlichen
Testleser auf Cover oder Klappentext bezieht die Autorin mit ein,
damit es gar nicht erst zur Enttäuschung kommt oder man auf
Abwehrreaktionen vorbereitet ist, wenn man den entsprechenden
Titel daheim anschleppt.
Kein erhobener Zeigefinger.
Die 14- bis 15-Jährigen lesen dann
schon Bücher wie Gordons
Medicus, lassen sich von Michael Crichton mitreißen und
von Grisham vorübergehend in einen Gerichtssaal versetzen. Auch
Dieter Bohlen befindet sich unter den Lesetipps - man kann sich
den Aufschrei der Bildungsbürger förmlich vorstellen. Doch wer
reingelesen hat, weiß, dass Bohlen erfrischend direkt erzählt und
dass keineswegs das Abendland untergeht, wenn man sich von seinen
aberwitzigen Anekdoten aus der Musikbranche unterhalten lässt.
Erfreulich, wie Katrin Müller-Walde es schafft, bei ihren
Tipps fast völlig auf den erhobenen Zeigefinger zu verzichten.
Einzig mit Stephen King konnte sie sich nicht recht anfreunden,
sie tut ihn nach der Lektüre von
Cujo mit spitzen Fingern ab. Dass er ein geschickter
Geschichtenerzähler ist, der sein Handwerk versteht und schon
viele Klassiker wie
Shining hervorgebracht hat, müssen die Kids eben selbst
herausfinden.
Wichtig ist, aus dieser Liste - und den Regalen von
Bibliothek und Buchhandlung - das herauszusuchen, was zu den
Interessen des Kindes passt. Das geht oft nur, wenn man es erst
mal selbst liest, statt blindlings Empfehlungen von
Buchhändlerinnen zu folgen.
"Haben Sie sich erst einmal eingelassen auf das Abenteuer
'Ich lese auch die Bücher meiner Kinder', werden Sie Texte und
Bücher finden, die wie ein Schlüssel ins Schloss passen",
verspricht Katrin Müller-Walde.
Bei ihr jedenfalls hat es funktioniert. Ihr Sohn, der
inzwischen in die elfte Klasse geht, liest wieder.
Nina Hesse ist freie Mitarbeiterin von changeX.
Katrin Müller-Walde:
Warum Jungen nicht mehr lesen und wie wir das ändern können.
Mit 50 Lesetipps von Jungs für Jungs,
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2005,
239 Seiten, 19.90 Euro
ISBN 3-593-37582-6
www.campus.de
© changeX Partnerforum [09.06.2005] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Katrin Müller-Walde: Warum Jungen nicht mehr lesen und wie wir das ändern können. . Mit 50 Lesetipps von Jungs für Jungs. . Campus Verlag, Frankfurt/New York 1900, 239 Seiten, ISBN 3-593-37582-6
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