| Folge 5: Wohlstand |
Wohl oder übel! Das Händehoch der Postmoderne.
Wohlstand ist die selbst bestimmte Idee, Konzeption und Realisierung eines gelungenen Lebens.
Adenauer benutzte für diese kollektive Betäubung einen sozialpolitischen Trick: Er koppelte die Renten an die Lohnentwicklung. Das Motto: Wohlstand heute - Wohlstand morgen. Der Anreiz, mit Leistung und Fleiß ein Vermögen im Hier und Jetzt zu scheffeln, wurde mit sozialer Absicherung im Alter belohnt. Das Versprechen wurde zur Volksdroge Nummer eins. Schnell war eine ganze Nation abhängig. Und wie Junkies eben denken: Nie mehr würde die Sonne des Wohlstands in der neuen Republik untergehen. Mittelklassewagen, Eigenheim, hohe Rente. Der Dreisprung des alten bundesrepublikanischen Wohlstandsmodells hielt Arbeits- und Lebensfreude fortdauernd hoch. Applaus, denn dieser lineare Pfad des Wohlstands überdauerte Jahrzehnte. Jede Bundesregierung hielt sich eng an Adenauers Versprechen und diente dem Volk als staatlicher Rückversicherer: Ihr schuftet, wir sichern ab. Der Offensivgeist der Deutschen wurde belohnt.
Es war fraglos eine große gesellschaftliche Leistung, das Wohlstandsspiel bis fast in die Gegenwart hinüberzuretten. Doch das Spiel hatte von Anfang an drei Haken, die sich jetzt unerbittlich zeigen. Erstens fragt sich der Fleißige irgendwann, ob ihm sein angehäufter Wohlstand jetzt ausreicht, um dolce vita zu feiern. In der Vorfreude weiß er noch nicht, dass er als unnützer Feudalbourgeois endet. Zweitens fragt sich der Fleißige irgendwann, warum und für was und wen er sich eigentlich abstrampelt. Er stellt die eigentliche Sinnfrage nach dem Wohlstand. Und drittens bemerkt der Fleißige irgendwann, dass Adenauer schon längst tot ist, sein Wohlstandstrick ausgeschissen hat und ein ganzes Volk nur mehr ein einziges Rückzugsgefecht führt. Diese Enkel Adenauers jammern nun um so mehr, weil sie ihren Wohlstand nicht mehr retten und konservieren können. Das Motto lautet jetzt: Kein Wohlstand heute - dafür kein Wohlstand morgen. Das ist eine neue Erfahrung, insbesondere für die Mittelschicht und den Mittelstand. Vielleicht schon bald mittellos.
Womit wir beim zentralen Problem des alten Wohlstandsspiels angelangt sind. Seine Grundkonstanten sind wie ein Radiergummi abgerieben. Was also tun? An den drei Haken zappeln derzeit drei Wohlstandsbürger. Der begüterte Steinreich verfrühstückt als Wohlhabender sein Vermögen oder das seiner Vorfahren, möglichst ohne oder nur wenig zu arbeiten, Motto: Nach mir die Sinnflut. Der behütete Gernreich frühstückt ein Käsebrötchen, arbeitet entweder tapfer und hofft auf den Wohlstand über Nacht, Motto: Jede Woche Lotto. Oder er arbeitet viel und versucht, ein Steinreich zu werden. Der hysterische Wenigerreich lernt früh, sein Weniger zu stückeln, um in den einzelnen Lebensabschnitten über die Runden zu kommen. Motto: Permanent Panik auf der Titanic.
Keine Frage: Das alte Wohlstandsspiel ist zum Wohl oder Übel-Spiel verkommen. Der Wohlstand ist das Hände-hoch der Postmoderne. Nur mehr mit vorgehaltener Pistole wird man die Leute auf Dauer zum alten Wohlstandsspiel zwingen können. Denn alle wissen oder ahnen es: Wohlstand zu erreichen, wird schwieriger. Ihn zu halten ebenfalls. So schwebt der alte Wohlstandsbegriff über Lebensentwürfen und Lebensträumen und lockt die Maden in den Speck. Wenn dann das Konto abgeräumt ist, fällt den Betroffenen auf, wie hohl diese Wohlstandsidee eigentlich schon immer war.
Vorbei, vorbei, vorbei. Wohlstand lässt sich nicht mehr nur am dicken Bankkonto, an der Zahl eigener Immobilien und Fernreisen ablesen. Mit dem Begütertsein des Bürgertums. Wohlstand hat vielmehr etwas mit Wohlbefinden, Wohlbehagen und Wohlergehen zu tun. Diese zu erreichen, hat wiederum etwas mit Vielfalt und Komplexität zu tun. Nehmen wir, um es besser zu verstehen, eine Kuh. Sie steht im günstigsten Fall auf der Weide, frisst Gras, kaut wieder und lässt Verdautes auf dem Acker zurück. Ihre Grundbedürfnisse sind leicht zu befriedigen. Die Kuh weiß, was ihr gut tut. Ein Leben lang. Fressen und Scheißen sorgen für das richtige Maß an Wohlbefinden, Wohlbehagen und Wohlergehen. Glückliche Kühe, sagt man, wenn man an einer Weide vorbeiradelt.
Der Mensch im ersten Lebensjahr tickt überwiegend ähnlich, wie Generationen von Müttern und Vätern auf Anfrage gerne bestätigen werden. Dann aber beginnt für jeden Erdling das Lernen, was gut für ihn ist. Aber dummerweise ein ganzes Leben dauert. Die Fragen des Lebens beginnen uns fortan mehr oder weniger heftig zu bedrängen. Was tut mir gut, was will ich werden, was nehme ich mir vor? Mit diesen Fragen grenzen wir uns von der Kuh ab. Denn nun feilen wir am Gelingen unseres Lebens. Wir selbst können und dürfen das so lange, wie uns keiner daran hindert.
Wohlstand bedeutet also zuerst, dass jedem sein Leben gelingen mag. Und zwar auf seine eigene, ganz spezielle Art und Weise. Nehmen wir, um es besser zu verstehen, noch ein Schwein dazu. Es ist dem Menschen sehr ähnlich. Als Jungtier ist es bewegungsfreudig, im Alter ehe träge. Es braucht viel Auslauf und Abkühlung, und es ist fremdenfeindlich. Trifft es einen Fremden, kann dieser übel malträtiert und gebissen werden. Keiner aber fragt ein Schwein, ob es sich auf den von der EU zugelassenen 0,7 Quadratmeter in der Schweinezucht wohl fühlt. Wir wissen es: Tut es nicht. Keinem Schwein gelingt mehr ein gutes Leben. Arme Schweine, sagt man, wenn man so eine Mastmaschine betritt.
Es würde manchem natürlich zu weit gehen, unsere Gesellschaft mit einer Schweinezucht zu vergleichen. Auch wenn wir unsere Schulkinder auf 0,7 Quadratmeter großen Holzstühlen aufs Leben vorbereiten. Auch wenn wir jeden Abend drei Stunden auf unserem 0,7 Quadratmeter großen Fernsehsessel vor der Glotze hocken. Es geht vielmehr darum, ob wir überhaupt selbst bestimmt tun können, was für uns gut ist. Sprich: Unser individuelles Bedürfnisprofil entdecken. Wohlstand bedeutet nämlich auch, diese, unsere eigenen Bedürfnisse zu entdecken sowie unsere eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Von einer derart freien Gesellschaft sind wir genau so weit entfernt wie ein glückliches Schwein von einer armen Kuh.
Wohlstand ist überdies auch die Freiheit, über seine Zeit so zu verfügen, wie man will. Das kann sehr unterschiedliche Züge annehmen. Nehmen wir beispielsweise zwei Büromenschen: Person A jagt von einer Besprechung zur nächsten. Kurze Mittagspause. Am Abend der erste Blick auf die Uhr. "Oh, schon 17 Uhr. Die Zeit ist wie im Fluge vergangen." Person B hatte in der gleichen Zeit kaum etwas zu tun, hat sehnsüchtig die Mittagspause herbeigesehnt und die Sekunden gezählt, dass er um 17 Uhr nach Hause gehen kann. Beide haben gleich viel Zeit verbraucht, aber unterschiedlich wahrgenommen. A hat etwas Interessantes erlebt, die Zeit verging rasch. B hat nichts erlebt, die Zeit wurde ihm ewig lang. In der Psychologie bezeichnet man dies als subjektives Zeitparadoxon: Ist die erfahrene Zeit kurzweilig, wird die Zeit der Erinnerung lang, ist sie dagegen langweilig, schrumpft die Erinnerungszeit.
Wohlstand bedeutet, kurzweilig Zeit zu verbringen und sich daran lange zu erinnern. Betrachten wir in diesem Zusammenhang den schlimmsten Zeitdieb moderner Gesellschaften: das Fernsehen. Es macht blöd, weil das, was wir dort wahrnehmen, nichts mit unserem Leben zu tun hat. Vor der Glotze vergeht die Zeit im Fluge, ohne etwas zu hinterlassen. Trotzdem schauen die Deutschen immer länger fern. Sie sehen teilnahmslos zu, wie eine bescheuerte Sache nach der anderen passiert. Dabei ist der Aus-Knopf nahe. Und Wohlstand ist, ihn zu drücken.
Es würde manchem natürlich zu weit gehen, unsere Gesellschaft mit einer Verblödungskultur zu vergleichen. Auch wenn wir mittlerweile täglich 3,5 Stunden vor dem Fernseher hocken. Auch wenn wir im Job in Meetings herumsitzen, die das Immergleiche immer fort wiederholen. Es geht vielmehr darum, ob wir uns überhaupt frei entfalten können. Sprich: Uns selbst entdecken können, um zu wissen, was für uns gut ist.
Womit wir beim letzten Wohlstandsfaktor angelangt sind: dem Lebenstempo. Jeder sucht sich das Tempo, das er will. Denn wie intensiv man leben und arbeiten will, geht nur einen selbst etwas an. Eine freie Gesellschaft muss auf allen Geschwindigkeitsstufen sinnvolle Möglichkeitsräume anbieten, in denen man sich entfalten kann. Davon sind wir Kilometer entfernt. Langsamkeit darf hierzulande nur der entdecken, dem Wohlstand und Reichtum flankierend zur Seite stehen. Und Schnelligkeit wird noch immer voreilig mit Erfolg und Flexibilität gleichgesetzt. Oft genug sitzt man dann in Lebensentwürfen fest, die man vorher nie und nimmer führen wollte. Das falsche Leben.
Womit wir alle Bausteine einer Neudefinition von Wohlstand beisammen haben. Wohlstand ist die selbst bestimmte Idee, Konzeption und Realisierung eines gelungenen Lebens. Die Vielfalt, die man dabei entdeckt, geht weit über die soziale Reichtumsverteilung hinaus. Vielfalt wahrnehmen und sich lange daran erinnern zu können, ist mehr wert als jedes Schmerzensgeld am ersten jedes Monats.
changeX 29.10.2004. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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