| Folge 2: Zukunft |
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Früher wurde Futurologie inszeniert wie Fernsehen: Der Bürger konnte sich zurücklehnen und spannende Unterhaltung konsumieren: mit Robotern, Heli-Rucksäcken und Urlaub auf dem Mond. Das Ganze folgenfrei. Heute ist das Futurum fest in der Hand von Apokalyptikern höheren Alters, die ihr eigenes Ableben mit dem Ende der Welt verwechseln. Sie vermiesen Kindern und Jugendlichen die Zukunft, weil sie selbst keine mehr haben. Und die Mächtigen freuen sich über jeden, der sich nicht einmischt.
Zukunft geschieht nicht, sie wird gestaltet. Von denen, die an sie glauben. Sie ist offener und unberechenbarer denn je, sie lädt ein als faszinierender Möglichkeitsraum. Wir entwickeln Szenarien, denken in Alternativen und auf Vorrat, betreiben einen Prozess permanenter kreativer Zerstörung. Mit den selbst auferlegten Beschränkungen in unseren Köpfen fangen wir an: Sie sind die wahren Grenzen des Wachstums. Mit Phantasie siegt die Zukunft über die Diktatur der Gegenwart.
Und dann kam doch alles ganz anders. Lang, lang ist die Liste des damals Undenkbaren und heute Wirklichen: In Schulen und Familien ist es verpönt, Kinder zu prügeln. Der Himmel über der Ruhr ist wieder blau, und in der Elbe kann man schwimmen. Der Sieg der Systeme wird nicht in einem Dritten Weltkrieg, sondern ganz unblutig vom Volk (Ost) entschieden, mit Pfarrern und Montagsdemonstranten als Hauptakteuren. Ein Staatsratsvorsitzender namens Honecker wandert ins Gefängnis, ein Häftling namens Havel wird Staatspräsident.
Frauen nehmen die Pille und Männer heiraten Männer. Und stell dir vor, im Fernsehen zeigen sie Pornos und keiner guckt mehr hin. Eine Frau führt die CDU, ein Schwarzer Südafrika. Bahn und Post, einst Säulen von Staat und Beamtentum, wurden privatisiert. Ein Ex-Sponti (ohne Abitur!) gilt als angesehener Außenminister Europas. Computer sind winziger als Streichholzschachteln. Man telefoniert frei sprechend im Gehen. Das Internet transportiert Informationen in Lichtgeschwindigkeit von Lennestadt nach Louisiana. Alles fließt, und alles ist anders.
Nicht nur Adenauer, sondern auch seine Berater und Strategen sowie 99 Prozent der Deutschen hätten heftig bestritten, all dies könne nur vier Dekaden später die Normalität ihrer Nation ausmachen. In ihrer Vorstellungswelt wären Visionen dieser Normalität völlig abwegig erschienen!
Die kleine Gedächtnisübung macht anschaulich, wie um Dimensionen anders die Welt in 50 Jahren aussehen kann, als wir sie uns heute vorstellen. Zudem ist die Lage der Zukunft seit der Nachkriegszeit noch weit unübersichtlicher geworden. Der Wandel in Wirtschaft, Gesellschaft und Technologie hat eine sich selbst beschleunigende Dynamik entwickelt, die Halbwertzeiten für plausible Voraussagen schrumpfen auf wenige Jahre. Nie war Zukunft unberechenbarer, nie war sie offener und weit gefächerter. Um der Diversität des Kommenden gerecht zu werden, müsste man eigentlich in der Mehrzahl reden: von Zukünften. Vor uns öffnet sich ein Möglichkeitsraum mit einer ungeahnten Zahl von Nischen, Pfaden und Gabelungen.
Erstaunlich bis erschreckend ist dagegen, wie angesichts dieses Reichtums an Möglichkeiten hierzulande über Zukunft nachgedacht wird. Nachkriegler, 60-Geborene und Generation Golf sind sich wunderbar einig: No Future! Was kommt, können wir nicht wissen, aber es kann garantiert nichts Gutes sein. Sie singen im Chor: Morgen-Land ist abgebrannt!
Auf dem großen Markt der Miesmacher sind die unterschiedlichsten Spielarten von Apokalypse im Angebot. Ausbruch regionaler Atomkriege, Verkehrskollaps auf Straße, Schiene und in der Luft, eine gigantische Inflation, die alle Ersparnisse auffrisst, AIDS oder Ebola, wahlweise endgültige Verdummung und Verrohung der Kinder, schmelzende Pole und aussterbende Arten, Al Quaida nimmt die Welt in Geiselhaft - für jeden Geschmack ist ein Doomsday-Drehbuch dabei. Angesichts des wüsten Treibens in den Feuilletons fragt man sich: Warum eigentlich lässt eine der reichsten Gesellschaften der Welt alle Hoffnung fahren? Wieso formulieren unsere Großdenker und -dichter nur dann in Bestform, wenn sie den sichereren Untergang in düstersten Varianten beschreiben? Woher diese Lust am Frust?
Die Antwort findet sich irgendwo zwischen Psycho- und Pathologie. Zum einen gilt in Deutschland nur derjenige als seriöser Intellektueller, wer seine Thesen mit Tristesse tränkt. Schwermut ist angesehener als der Mut, Dinge anzupacken. Zum anderen beruhigen gut situierte Bildungsbürger ihr schlechtes Gewissen, in dem sie in Endzeitvisionen schwelgen. Sie empfinden ein diffuses Unwohlsein angesichts der real existierenden Widersprüche in dieser Welt, zwischen Arm und Reich, zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen Privilegierten und an den Rand Gedrängten. Diese Klüfte dürfte es ihren Sozialphantasien nach eigentlich nicht geben; es gibt sie aber trotzdem, und noch dazu wissen sich diese Kulturkritiker, Lautsprecher und Vordichter auf der Sonnenseite und damit, in ihrer kruden Sicht, auf der falschen. Ergo erfinden sie sich eine Düsterzukunft, die für ausgleichende Gerechtigkeit sorgt. Die Apokalypse, so ihre Religion des nackten Grauens, wird keine Unterschiede machen, bedroht alle Menschen, fungiert als der finale Gleichmacher. Das entlastet die Seele sinn-gequälter Spießer. Angesichts der zu erwartenden Desaster muss er sich dann auch keinen Kopf mehr machen wegen der irdischer Ungerechtigkeiten im Allgemeinen und des Schwarzgeldes in der Schweiz im Besonderen. Die Katastrophe als Katharsis.
Deshalb auch verkünden sie alle paar Tage das Ende von irgendwas. Das Ende der Mobilität. Des Buches. Europas. Oder gleich: das Ende der Geschichte. Sie hätten so gerne das letzte Wort!
Beschwörten sie das große Finale nur in geschlossenen Zirkeln, ginge das ja noch als spleeniges Hobby verbitterter alter Männer durch. Man würde verstehen und lächeln. Leider haben es die end-geilen Intellektuellen jedoch geschafft, die Meinungshoheit in den Medien und in den Köpfen der Menschen zu erringen. Wortmächtig haben sie erreicht, dass eine Mehrheit der Bevölkerung GLAUBT, die einzige REALISTISCHE Sicht sei die PESSIMISTISCHE. An jedem Jahreswechsel beispielsweise messen Meinungsforscher die Erwartungen der Bundesbürger für die kommenden zwölf Monate, und jedes Mal protokollieren sie: Die Deutschen sehen sich und ihr Land den Bach weiter runter gehen. Die Volksseele dümpelt in Dauerdepression.
Das penetrante Unken von Grufties, die den eigenen Abgang mit dem Ende der Welt verwechseln, zeigt leider Wirkung auch bei den wahren Zukunftsmenschen, bei Kindern und Jugendlichen. Gestraft mit mutlosen Eltern und Lehrern und mit Politikern, die schon lange nichts mehr wirklich bewegt haben, rechnen Heranwachsende nur noch mit dem Schlimmsten: kein Ausbildungsplatz, kein Job, keine Rente, und selbst wenn, dann kommt eines Tages eine große Depression und rafft alles Ersparte hinweg. Zukunftsmusik? Irgendwo zwischen Blues und Death Metal. Zeitreisen nach vorne? Höchstens als Horrortrip.
Wir rufen euch zu: Lasst euch die Zukunft nicht von Leuten vermiesen, die selbst keine mehr haben!
Wie eingangs der kurze Bericht aus fünf Jahrzehnten gezeigt hat, kann das Unerwartete durchaus als Lichtgestalt in euer Leben treten. Es gibt Fortschritte in die richtige Richtung, Wendungen zum Besseren, überraschende Abgänge von Bösewichten. Zufälle können, man glaubt es kaum, tatsächlich positiv wirken. Wir Deutsche sollten nicht den Geist, der stets verneint, sondern stattdessen einen neuen Gründergeist kultivieren. Das Projekt Zivilisation läuft weiter, ganz sicher, und dazu brauchen wir Zuversicht, kritische Köpfe, gute Ideen, Menschen, die mit anpacken. Das ist Demokratie, nach vorne gedacht, ist eine Einladung, sich einzumischen, wenn die Weichen gestellt werden. Zukunft geschieht nicht, sie wird gemacht. Von denen, die an sie glauben.
Emanzipation heißt ja nichts anderes, als Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Sich nicht einem vermeintlichen Schicksal überlassen. Aber genau das passierte in den 50er und 60er Jahren. Futurologen traten auf und verkündeten im Brustton der Überzeugung: So, und genau so, wird alles kommen. Und das Publikum lehnte sich zurück in die Sessel, griff sich eine Tüte Chips und schaute Zukunft, wie es sonst in die Glotze schaute: Man erwartete "spannende Unterhaltung". Und die wurde auch geboten. Im Kino des Kommenden bewegten sich die Menschen mit Heli-Rucksäcken zwischen Hochhausschluchten unter riesigen Glaskuppeln, Roboter machten die große Wäsche, man träumte auf Bestellung, baute Sandburgen auf dem Mond und hatte Sex mit Außerirdischen. Das Leben - eine einzige Odyssee durch Unendlichkeiten. Mit dem eigenen Alltag hatte das alles nichts zu tun.
Der Kater kam in den 70er Jahren. Ölpreisschock. Seveso. Grenzen des Wachstums. Ein Stummer Frühling wird ausgerufen, ohne Amsel, Drossel, Fink und Star. Die hochfliegenden Visionen stürzten ab wie Tontauben. Trotzdem überlebte die Profession der Propheten. Mehr noch, sie erlebte sogar einen Boom. Ihr Credo lautete, man müsse die Zeitläufte eben genauer berechnen und die Gesetze analysieren, nach denen sich Zukunft aus Gegenwart ergibt. Unternehmen richteten Think Tanks ein, eine Art Feuchtbiotop für Vordenker, Regierungen gründeten Institute, auf Kongressen feierte die Disziplin sich und die neue Zuwendung der Öffentlichkeit. Futurologie galt fortan als die Wissenschaft der exakten Voraussage, ihre Protagonisten als die modernen Seher. Computer wurden mit Formeln und Modellen gefüttert, Trends hochgerechnet, Entwicklungslinien von gestern ins Morgen verlängert.
Jeder weiß, wie kläglich all diese Orakel der Neuzeit scheiterten. Was sie voraussagten, ist nicht eingetreten, und was eingetreten ist, haben sie nicht voraus gesagt. Statt linearer Trends stehen wir fassungslos vor chaotischen, gebrochenen und sich aufschaukelnden Entwicklungen. Zufälle, Brüche, Friktionen allenthalben. Die jüngste Geschichte verlief wie ein Kindergeburtstag: voller Überraschungen. Das hat zumindest in einer Hinsicht etwas Positives bewirkt: Die Propheten sind äußerst bescheiden geworden. Mittlerweile wagen seriöse Prognostiker nur noch kurzfristige Vorhersagen, mit einer maximalen Reichweite von drei bis fünf Jahren. Hinter dieser Zeitlinie, so haben sie gelernt, beginnt das Reich der Nichtlinearität.
Statt vorgeblich realistische Prognosen zu erfinden, beschäftigen sie sich inzwischen auf weitaus kreativere Weise mit der Zukunft. Das Zauberwort lautet Szenario. Bei dieser Technik zeichnet man zusammen hängende Bilder der Welt in zehn bis 20 Jahren und denkt dabei in Alternativen: Szenario A kann eintreten, wenn ..., Szenario B ist wahrscheinlich, wenn nicht ... Mit der Angabe von Bedingungen kommen wir unserem Ziel näher, Zukunft als einen Prozess zu begreifen, der seine Impulse aus der Gegenwart erhält. Wir können ihn nicht im Detail steuern, aber wir können einen Rahmen festlegen, die grobe Richtung, Werte und Ziele angeben. Außerdem kommen wir mit dem Kunstgriff des Szenarios raus aus der passiven Haltung von Fernseh-Konsumenten, und werden aktiv in Rollenspielen, in denen alternative Verläufe des Künftigen geprobt werden. Früher hatte sich Futurologie damit lächerlich gemacht, ihre hochfliegenden Voraussagen so voller Ernst zu präsentieren. So paradox es klingt: Erst seit die Futurologen das Spielerische entdecken, sind sie ernst zu nehmen.
Das macht weit mehr Spaß als die bierernsten Hochrechnungen von Pseudowissenschaftlern. Unter der Prämisse, plausible Lebenswelten in Gedanken durchzuspielen, kommen auch Träume und Visionen wieder zu ihrem Recht. Einfallsreichtum ist gefragt, radikale Wünsche, mutige Skripte, die mit den Worten beginnen: "Und dann kam alles ganz anders ..." Unsere Herausforderung besteht darin, auf Vorrat zu denken. Auf deutsch hat das Wort "utopisch" einen negativen Beigeschmack, im Sinne von "unmöglich". Ganz anders auf englisch, wo "utopian" als hoffnungsvoll und Vision vom Besseren verstanden wird. Da können wir mal von den Angeln und Sachsen lernen.
Zukunft ist genau wie diese Websites, die nie fertig werden, stets "under construction" - und das ist gut und spannend so. Ein Prozess kreativer Zerstörung, in dessen Verlauf wir Szenarien stets neu entwerfen, modellieren und bei Bedarf wieder verwerfen. Wir reißen Grenzen nieder, vor allem die in unseren Köpfen, die darin bestehen, nur das eines Tages für möglich zu halten, was wir uns heute schon ausmalen können. Aber wirklich neu kann nur sein, was wir nicht vorhersehen können. Sonst wäre es nicht neu. Aus dem gleichen Grund können wir heute nicht wissen, was wir eines Tages wissen werden. Für die Menschheit werden sich eine Reihe neuer Probleme auftun. Aber wir vertrauen darauf, dass uns Zukunftsaktivisten - eine buntscheckige Gruppe von Erfindern, beseelten Unternehmern, engagierten Bürgern und konstruktiven Denkern - im Gegenzug einiges zu ihrer Lösung einfallen wird. Wir überlassen das Feld nicht denjenigen, die sich schon immer die Hände gerieben haben, wenn möglichst viele Menschen ihrem Treiben tatenlos zusehen. Deshalb gestalten wir mit. Statt uns von imaginierten Katastrophen lähmen zu lassen, beflügelt uns der Blick auf die sich noch eröffnenden Chancen. Wir stellen uns das Kommende als etwas vor, das wir uns nicht vorstellen können. Mit Phantasie siegt die Zukunft über die Diktatur der Gegenwart.
changeX 08.10.2004. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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