Die Wiederentdeckung der Langsamkeit
Living at Work-Serie | Folge 36 | - Franz Josef Radermacher über den Bumerangeffekt des technischen Fortschritts.
Vieles hat sich verändert in unserer Arbeitswelt, vieles ist aber auch erstaunlich gleich geblieben - denn unser biologisches Erbe können wir nicht verleugnen oder überlisten. Kreativität braucht nach wie vor Zeit. Um gute Arbeit zu leisten, benötigt ein Mensch nach wie vor zum Beispiel einen vernünftigen Tisch und Stuhl. Doch gerade solche einfachen Voraussetzungen sind heute nicht mehr selbstverständlich.
Die extreme Innovationsdynamik der
modernen Welt mit ihren enormen technischen Möglichkeiten
verändert die Art, wie wir leben und arbeiten. Es ergeben sich
immer wieder neue Möglichkeiten und manche sehen darin Potenziale
einer völligen Veränderung gegenüber heute - und setzen oft
euphorische Hoffnungen in diese Entwicklungen.
Meiner Ansicht nach werden wesentliche Dinge des Lebens
dennoch gleich bleiben. Vielfältige anthropologische Konstanten
haben letztlich zur Folge, dass vieles nicht viel anders ist als
früher. Manchmal ist das, was in Leben und Arbeit als ein
Fortschritt erscheint, sogar ein Rückschritt. Und auch die New
Economy, die Wissensgesellschaft, erwies sich schnell als nicht
so verschieden von dem, was vorher war. Wer anderes glaubte, hat
häufig viel Geld verloren.
Vieles ändert sich nicht.
Fragt man nach dem, was Menschen
tun, was sie in Arbeit und Leben versuchen, dann betrifft ein
wesentlicher Teil der anthropologischen Konstanten das
Leistungsvermögen des Körpers, die Gesundheit, die materielle
Robustheit. Im seelischen Bereich kommen Voraussetzungen hinzu
wie inneres Gleichgewicht, sich wohl zu fühlen, die Fähigkeit,
sich zu konzentrieren, längere Zeit an einem Projekt oder
Vorhaben zu arbeiten, zu verzichten, emotionale Befriedigungen
auf später zu verschieben und so weiter.
Jede konzentrierte Arbeit hängt entscheidend von der
Leistungsfähigkeit von Gehirn und Nervensystem ab. In vielen
Fällen ist eine gute, jahrelange Ausbildung die Voraussetzung.
Vieles dabei bedeutet Mühe und ist durch Technik nicht zu
erleichtern, sei es das Lernen von Vokabeln oder das Verstehen
mathematischer Theorien. Insgesamt muss ein enormes Wissen über
vielfältige Themenbereiche im Gehirn vernünftig abgelegt sein,
wenn erfolgreiche Arbeit das Ziel ist. Noch dazu muss jeder
Mensch sein Wissen permanent ergänzen, verbessern, an neue
Verhältnisse anpassen.
Auch in Zukunft wird sich Leben und Arbeit in einer
Wechselwirkung zwischen Menschen und Maschinen und im Kontext von
Konkurrenzverhältnissen abspielen. Wenn die Konkurrenz hart
arbeitet, sehr viel Zeit, Konzentration, Aufwand und beste
technische und andere Möglichkeiten in ihren Beiträgen
investiert, dann wird man selber, wenn man wirklich gut sein
will, Ähnliches leisten müssen. Geht es um Kreativität, um Neues,
um Ideen, dann wird man dafür auch in Zukunft Zeit brauchen und
das verbunden mit einem geeigneten Ambiente, das Ruhe und
Stimulanz beinhaltet. Man wird sich auch weiterhin für ein
Brainstorming an geeignete Orte zurückziehen und Tage in schönen
Villen an Seen oder in Klöstern zu verbringen suchen, die Ruhe
und Inspiration miteinander verbinden. Das richtige Raummaß, viel
Licht, ein weiter Blick, ein angenehmes Klima, ein vernünftiger
Rhythmus im Tagesablauf werden immer noch eine wichtige Rolle
spielen. Wer eine optimale Umgebung für Kreativität sucht, wird
auch in Zukunft Ablenkung, Störungen und Hektik meiden und auf
regelmäßige Mahlzeiten, Spaziergänge und Sport achten
müssen.
Engpass menschliches Bewusstsein.
Der entscheidende Engpass bei allen
nichttrivialen Arbeits- und Schaffensprozessen ist das
menschliche Bewusstsein. Es ist ein sehr enger, im
Durchsatzvolumen pro Zeiteinheit extrem begrenzter "Kanal", der
zu einem Zeitpunkt im Wesentlichen nur eine Sache
hochkonzentriert tun kann. Dieser braucht vorverarbeitete
Informationen, viele Beispiele, profitiert von der richtigen
Kombination zwischen regelhaft-symbolischen und mehr
ganzheitlich-holistisch-neuronalen Dimensionen des eigenen Tuns
und braucht vor allem eines - Zeit.
Schaut man zurück, fragt man, wo große Werke der
Weltgeschichte entstanden sind, schaut sich den Schreibtisch
Martin Luthers bei der Übersetzung der Bibel in Eisenach, den
Schreibtisch Albert Einsteins bei der Entwicklung der
Relativitätstheorie im Patentamt in Bern oder schaut sich das
Arbeitszimmer von Johann Sebastian Bach an, dann sind es wenige,
aber entscheidende Dinge, die man braucht, Dinge, die sich in der
Zeit kaum ändern, zum Beispiel einen vernünftigen Tisch mit einem
brauchbaren Stuhl. Das mag banal klingen. Aber an diesen Tischen
wurde die Welt verändert - mit geistiger Qualität, Konzentration,
Ausdauer. Daran sollte man nicht sparen.
Man wird fragen, was denn dann der Beitrag der Technik oder
des Neuen ist. Hat sich denn nichts geändert? Natürlich hat sich
viel geändert, natürlich geben die modernen Kommunikationsmittel
Möglichkeiten, mit Personen zu kommunizieren, die tausend
Kilometer weit weg sind und dank Mobilfunk können sie dann sagen,
dass sie sich gerade beim Jogging befinden. Früher hatte man zwar
keine Handys, aber dafür waren die wichtigsten Gesprächspartner
in überschaubarer Nähe. Man hatte möglicherweise keinen Computer,
aber dafür - zumindest als Professor - gute Unterstützung durch
Zuarbeiter, die einem das, was man brauchte, zielgerechter und in
besserer Qualität besorgen konnten, als ein Computer oder eine
Suchmaschine das bisher tun kann.
Auch heute hat derjenige, der gute Mitarbeiter und eine
exzellente Sekretärin besitzt, enorme Vorteile. Und wenn auch
eine Vielzahl von Kontakten, ein breites Netz von Beziehungen
einen großen Wert darstellen, gilt doch weiterhin, dass zu viel
Kommunikation weder zeitlich noch konzentrationsmäßig zu
verarbeiten ist und man zum Schluss keine Zeit mehr zum
vertieften Nachdenken hat. Anders ausgedrückt: Die Auswahl der
Kommunikationspartner, die Qualität des Austauschs und die
Priorisierung der Zeiteinsätze bleiben absolute Schlüsselthemen,
und "Lost in e-mail, lost in hyper space" sind Gefahren für das
eigene Leistungsvermögen, die es früher in dieser Form nicht
gab.
Hoch bezahlte Mitarbeiter ohne eigenen Schreibtisch.
Oft stellt sich der so genannte
Bumerangeffekt des technischen Fortschritts ein, der darin
besteht, dass das, was die Lösung sein könnte, so viele
Nebeneffekte nach sich zieht, dass die Situation anschließend mit
der neuen Lösung in manchem schwieriger ist als vorher. Oder
anders ausgedrückt: Zuweilen ist eine wirklich exzellente
kreative Leistung, ein Buch, ein Theaterstück, eine Symphonie
unter heutigen Bedingungen vielleicht schwieriger und nicht
einfacher herzustellen als früher. Die Situation wird besonders
merkwürdig, wenn Berater uns zu verkaufen versuchen, dass man
kein vernünftiges Büro mehr braucht, dass Unordnung schadet, dass
alles Wichtige auf einem Rechner liegen könne und es vollkommen
ausreicht, wenn man sich beim Besuch seiner Arbeitsstelle einen
Rollcontainer aus dem Lager holt, in dem alle Dinge drin sind,
die man hat oder braucht, und mit dem man dann an irgendeinem
freien Schreibtisch im Haus arbeitet.
Im Kern geht es dabei um Einsparungen. Wir können uns heute
als hoch bezahlte Experten teilweise nicht einmal mehr den Luxus
erlauben, der für gute kreative Arbeit über die letzten
Jahrhunderte immer selbstverständlich war: über ein eigenes
Zimmer zu verfügen, in dem wir die mit unserer Arbeit verbundenen
Dokumente und Objekte im Raum dreidimensional anordnen können.
Dieses Verteilen bedeutet, eine vernünftige Extension unseres
Gehirns mit vernünftiger Zugriffslogik nutzen und eine Vielzahl
von Materialien im schnellen Zugriff zu haben. Der Versuch, etwas
Ähnliches auf einem Bildschirm durch Abarbeiten von Listen zu
simulieren, ist von vornherein absurd und zum Scheitern
verurteilt. Macht es Sinn, hohe Gehälter für wertvolle
Mitarbeiter zu bezahlen, wenn es nicht einmal mehr zu einem Raum
für die eigenen Unterlagen reicht?
Mehr Möglichkeiten für viele Menschen.
Es geht also bei der Frage nach
dem, was die neuen technischen Möglichkeiten bieten,
wahrscheinlich auch um etwas ganz anderes. Es geht darum, dass in
einer Welt von immer mehr Menschen, in denen insbesondere unter
Bedingungen des heutigen Marktmodells für die meisten kreativ
tätigen kein Supportumfeld, kein Assistenzumfeld, kein
Sekretariatsumfeld mehr vorgehalten werden kann, moderne
Maschinen wenigstens etwas von dem ermöglichen sollen, was früher
Menschen in entsprechenden Positionen verfügbar war.
Hierin liegt ein Element der Demokratisierung. Immer
größere Teile einer immer größeren Bevölkerung können eine immer
höhere Wertschöpfung erzielen. Genauso erlauben uns Licht,
Heizung, Sportgeräte im Haus heute, an den unmöglichsten Stellen
der Erde unter ungastlichsten klimatischen Bedingungen zu jeder
Tages- und Nachtzeit zu arbeiten, Sport zu treiben und in Form
von Bildern und Bildprojektionen zumindest eine Ahnung eines
oberitalienischen Sees zu bekommen. Dank der modernen
Verkehrstechnik können wir, die wir weltweit vernetzt arbeiten,
zumindest gelegentlich unsere Partner sehen und mit ihnen auch
physisch zusammenarbeiten, selbst wenn sie weit weg wohnen.
Anders ausgedrückt: Wir können heute Wertschöpfung, die
heute Internationalität benötigt, und selbst Liebesbeziehungen
über tausende Kilometer dank moderner Technik wenigstens so
gestalten, dass wir darin etwas von dem retten können, was früher
ein balanciertes Leben ausmachte. Wobei die Alternative vieler
gleichzeitiger, im Zeitumfang echter physischer Interaktionen,
allerdings extrem beschränkter Interaktionen, hinzukommt.
Unbestreitbar sind auch die weltweiten neuen Möglichkeiten dieser
Technik in den konkreten Arbeitsprozessen. Das Schreiben,
Überarbeiten, Korrigieren von großen Texten wird technisch in
erheblichem Umfang erleichtert. Dasselbe gilt für die Komposition
von Musikstücken und die Herstellung von Filmen. Also können
heute viele Menschen diese Tätigkeiten ausüben - und nicht nur
wenige Menschen, die durch Zugriff auf ein entsprechendes Umfeld
und einen entsprechenden Apparat dieses früher immer schon tun
konnten. In vielen Fällen besser als das heute ein
durchschnittlicher Akteur mit ausschließlich maschineller
Unterstützung kann. Mit der Vielzahl der Akteure verlagert sich
das Problem der auf diese Weise erzeugten Wirkung auf die Frage,
wie man sich in einer unüberschaubaren Konkurrenz anderer Akteure
bemerkbar macht. Dies gelingt wieder nur ganz wenigen, und auch
in dieser Hinsicht ist alles in etwa wie früher.
Die Wiederentdeckung der Langsamkeit.
Die zunehmende Intelligenz der
Maschine in der Zukunft wird diese technischen Dimensionen weiter
stärken. Es bleibt uns also die Hoffnung, dass sich manches
weiter verbessern wird. Auch wenn unser Körper, der nur eine
Sache pro Zeiteinheit richtig zu tun erlaubt, und das nur
langsam, die menschlichen Möglichkeiten auf Dauer limitiert.
Solange wir als Mensch noch gebraucht werden, also die Maschinen
nicht alles selbst machen, sind wir begrenzt durch unser
biologisches Erbe.
Diese biologische Seite braucht heute eher Verlangsamung
als mehr Beschleunigung. Damit wäre eine schöne neue Welt, auf
die wir zusteuern sollten, insbesondere eine solche, die uns über
vernünftige ökosoziale, globale Rahmenbedingungen der Ökonomie
erlaubt, wieder mehr auf ein menschliches Maß zurückzugehen. Also
Zeit zu haben, nachdenken zu dürfen, Kreativität auszuleben. Wenn
wir Rahmenbedingungen schaffen würden, die eine Wiederentdeckung
der Langsamkeit fördern, wäre das ein wirklicher
Fortschritt.
Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".
English version: PDF-File.
Franz Josef Radermacher, Mathematiker, Informatiker und Wirtschaftswissenschaftler, leitet das Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung (FAW).
Zum changeX-Partnerportrait: Koelnmesse GmbH.
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Vom 19. bis 23. Oktober 2004 |
© changeX Partnerforum [10.09.2004] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 10.09.2004. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.