Der "Prosument" greift ein
Living at Work-Serie | Folge 35 | - Frank T. Piller über die Zukunft individuell konfigurierter Produkte.
Jeden Tag das gleiche Dilemma in Supermärkten und Geschäften. Egal, ob Obst, Hemden, CD-Player - alles gleichgeschaltete Einheitswaren! Viele Konsumenten haben darauf keine Lust mehr. Sie warten nicht mehr, bis das Unternehmen selbst auf die Idee kommt, ihre Produkte auf ihre Bedürfnisse hin zu optimieren. Sie wollen die Konsumwelt ganz und gar aktiv mitgestalten - Stichwort "Mass Customization".
Die schöne, bunte Einkaufswelt
gerät ins Wanken. Aus der Masse der schutzbedürftigen Verbraucher
schälen sich allmählich gut informierte, selbstbewusste Kunden
heraus, die bestimmte Vorlieben und Wünsche hegen und viel
genauer hinschauen, welchen Gegenwert an Service und
Freundlichkeit sie für ihr Geld bekommen.
Für Unternehmen bedeutet das: Mit Standardprodukten ist
immer weniger Geschäft zu machen. Wer verkaufen will, muss
kundenindividuelle Produkte entwickeln - das aber ohne hohe
Preiszuschläge. Das heißt: Masse mit Klasse. Denn sonst sind wir
bei der Einzelfertigung, wie zum Beispiel beim Maßschuhmacher,
der individuelle Schuhe für 1.500 Euro herstellt. Was wir
brauchen, sind aber Schuhe für 150 bis 200 Euro mit optimaler
Passform und Tragekomfort.
Leider haben das viele Unternehmen immer noch nicht
begriffen. Nehmen wir die Buchindustrie: Viele Bücher gehen am
Geschmack der Leser vorbei, landen auf dem Ramschtisch oder
werden gleich geschreddert. Experten schätzen, dass im
Fachbuchbereich bis zu 50 Prozent aller in Europa gedruckten
Bücher direkt im Reißwolf landen. Oder ein anderes Beispiel: die
Bekleidungsbranche. Weil die Hersteller letztlich nicht wissen,
was die Kunden tragen wollen, landen Hosen, Röcke und T-Shirts
tütenweise auf den Deponien oder werden zu Spottpreisen
verramscht. Für den Verbraucher bedeutet das Frust. Er zahlt
einen überhöhten Preis, weil der Hersteller das Risiko, auf
seiner Ware sitzen zu bleiben, im Mittel auf den Kunden abwälzt.
Und er braucht Stunden, um sich durch die Warenberge zu wühlen,
die von Jahr zu Jahr höher werden.
Die Diversifizierung der Märkte und die Heterogenisierung
der Nachfrage haben in vielen Branchen zu ausufernden Sortimenten
mit unzähligen Produktvarianten geführt. Nicht nur die Kunden
sind damit überfordert. Auch die Unternehmen verlieren den Blick
fürs Wesentliche. Was sie mitunter brauchen, ist eine Strategie,
mit der sie individuell konfigurierbare Produkte und
Dienstleistungen herstellen können, ohne die Effizienz einer
Massenproduktion aufzugeben. Genau dies ist das Ziel von Mass
Customization.
Auf den Mehrwert kommt es an.
Mit einem neuen Buch habe ich
demonstriert, dass dies auch anders geht. Jeder Leser kann dort
ganz nach individuellem Informationsbedarf aus verschiedenen
Modulen und Fallstudien auswählen und sich so seine persönliche
Lektüre zusammenstellen. Warum sollen Leser ein ganzes Buch
kaufen, wenn sie sich nur für wenige Kapitel interessieren -
zumal es die notwendige Technik dafür schon lange gibt? Auch
können so ohne große Kosten viel mehr Informationen angeboten
werden - gedruckt wird nur, was auch gefällt. Leider sind die
meisten Verlage und der Buchhandel, einschließlich innovativer
Online-Händler, noch nicht darauf eingestellt. Deshalb musste ich
noch neben dem echten Individualbuch, das nur über das Internet
erhältlich ist, eine zweite Version schaffen: eine klassische
Buchhandelsfassung, die den kompletten Grundtext umfasst und über
einen Gutschein durch Zusatzkapitel nachträglich
individualisierbar ist.
In anderen Branchen, allen voran die Bekleidungs- und
Möbelindustrie, ist Mass Customization bereits gängiger. Doch es
ist heute klar, dass das Konzept kein Allheilmittel ist. Ein
Blick auf First Mover wie GetCustom, Custom Foot, Creo
Interactive oder Xaaz genügt. Sie existieren nicht mehr, weil sie
selbstverliebt Individualität verkauft haben, ohne wirklichen
Mehrwert zu bieten. Auch Procter & Gamble ist noch nicht da,
wo es hinwollte, obwohl sich das Unternehmen vor Einführung
seiner Kosmetiklinie "Reflect" umfassend informierte: Sind Frauen
an hochwertigen Kosmetika, die sie je nach Hauttyp und
Pflegebedürfnis zusammenstellen können, interessiert? Die Antwort
lautete natürlich ja. Nun ist das Produkt drei Jahre auf dem
Markt. Doch die anvisierten Zahlen konnten nicht erreicht werden.
Ganz anders aber die Münchner Schuhfirma Selve. Gründerin Claudia
Kieserling kann sich vor Aufträgen nicht retten. Der reale
Betrieb hat die Erwartungen weit übertroffen. Mehr als die Hälfte
aller Erstkunden kaufen bei Abholung der ersten Bestellung
bereits ein weiteres Paar - ein Wert, den jeder Branchenexperte
in der Schuhindustrie nie für möglich gehalten hätte. Doch bei
Selve stimmen Produkt und Service: Die Kundinnen bekommen für 170
bis 220 Euro einen echten hochmodischen Schuh nach Maß, und dies
in einer Einkaufsatmosphäre, die zugleich exklusiv als auch sehr
serviceorientiert ist. Selve kennt deshalb auch keine
Schlussverkäufe, Rabatte, Preiskämpfe oder große Umtauschaktionen
- und kann so die Individualität zum vergleichbaren Preis eines
Massenproduktes anbieten.
Die neuen Kunden fordern Produkte, die ihren Bedürfnissen
entsprechen. Aber sie bezahlen nicht für Individualität per se,
sondern letztlich nur für eine Leistung, die unmittelbaren Nutzen
stiftet. Denn die neuen Kunden wollen nicht anders sein, sie
wollen sich einer Gruppe anschließen, dazugehören. Lands'End hat
das begriffen und bietet für US-Kunden, denen die Hosen und Jeans
von der Stange nicht passen, eine maßgeschneiderte Version an
(für nur zehn Euro Aufpreis). Deswegen heißt Mass Customization
ebenfalls, auch klassische Massenprodukte individuell anzupassen
- wenn es nötig sein sollte.
Bloß keine drei Millionen Varianten!
Hinzu kommt: Der Kunde sucht einen
kompetenten Partner. Einen Anbieter, von dem er überzeugt ist, in
besten Händen zu sein. Der ihn ernst nimmt und auf seine Wünsche
eingeht. Deswegen ist und bleibt das Kerngeschäft eines
Unternehmens in erster Linie die Vermittlung von Kompetenz und
Wissen. Bestes Beispiel: Dolzer. Die vielen Tausend Kunden halten
dem Maßkonfektionär nicht die Treue, weil sie mittels eines
Internet-Konfigurators ihre Lieblingshemden entwerfen können.
Sondern weil der Name Dolzer seit Jahrzehnten für Qualität und
Service steht.
Es macht keinen Sinn, "drei Trillionen Billionen"
Produktvarianten aus dem Boden zu stampfen, wie es der
Schuhhersteller Customatix versucht, damit der Kunde das Gefühl
hat: Wow, dieser Sneaker ist einzigartig, diese Pumps gibt es nur
einmal! Natürlich gibt es Avantgardisten, die ein ganz besonderes
Muster wollen, eine ganz besondere Form. Doch die Mehrheit will
ein Standardprodukt, das passt. Und das man nicht erst zum
Schuhmacher oder Schneider zum Weiten bringen muss.
Bestes Beispiel: adidas. Seit Jahren passt das Unternehmen
seine Sportschuhe bereits für Profis individuell an. Nun bietet
es diesen Service für 150 Euro auch dem ambitionierten
Freizeitsportler an. Nicht nur, um sich von potenziellen
Wettbewerbern zu unterscheiden und den Kunden einen Superservice
zu bieten. Sondern weil adidas dadurch - wie Procter &
Gamble, Lego oder Lands'End im Übrigen auch - über seine Kunden
wichtige Informationen erhält. Trendforschung leicht gemacht: Die
Informationen über die individuellen Kunden sind wichtiger Input
für die Absatzplanung und für den Entwurf neuer Produkte - auch
im Massensegment.
Aber nicht nur Big Player können mit Mass Customization
Geld verdienen. Es gibt auch kleine, relativ unbekannte
Unternehmen, die mit Mass Customization erfolgreich sind. Zum
Beispiel der ostdeutsche Möbelhersteller InVIDO. Mit Hilfe eines
CAD-Programms am heimischen PC können Kunden individuelle Möbel
entwerfen und innerhalb weniger Wochen zu einem günstigen Preis
fertigen lassen. Oder Bivolino aus Belgien: Allein mit Hemden
nach Maß aus dem Internet und einem super Kundenservice hat sich
das Unternehmen eine feste Stellung in Europa erobert.
Erfind's doch einfach selbst!
Clevere Unternehmen integrieren
ihre Kunden allerdings noch weiter gehend in die Wertschöpfung,
als sie nur Produkte selbst zusammenstellen zu lassen. Sie
erklären ihre Kunden zu echten "Prosumenten" - ein Kunstwort aus
Produzent und Konsument -, um mit ihrer aktiven Hilfe
erfolgreiche Produkte von morgen zu kreieren. Dieses Prinzip
nenne ich Open Innovation, angelehnt an die Open-Source-Bewegung,
wo seit vielen Jahren Software zum Nutzen aller allein durch die
Nutzer selbst (und nicht durch ein großes Unternehmen) entwickelt
wird. Was den Konsumgüterbereich angeht, stehen wir damit noch am
Anfang. Doch es gibt vielversprechende Ansätze. Beispielsweise
Sony: Die Software für die PlayStation wird nicht nur von
Spiele-Profis entwickelt. Viele Tools kommen direkt von den
Kunden, die ihre Ideen über eine eigens installierte Website
einbringen. Oder die Lego-Community LUGNET. Dort treffen sich
Lego-Fans, um mit Hilfe einer speziellen CAD-Software neue
Kreationen zu entwickeln.
"Wenn du etwas richtig willst, mach es selbst" - ich denke,
dass es dieser Leitsatz ist, der die Lead User antreibt, sich zu
engagieren. Sie wollen nicht warten, bis das Unternehmen selbst
auf die Idee kommt, ihre Produkte zu optimieren. Und sie wollen
die Konsumwelt, in der sie leben, aktiv mitgestalten. Ein Wunsch,
den noch nicht viele Kunden hegen. Die meisten geben sich heute
nach wie vor mit dem zufrieden, was ihnen vorgesetzt wird und
kaufen Produkte, die nicht zu 100 Prozent ihren Bedürfnissen
entsprechen. Ganz einfach, weil sie gar nichts anderes gewohnt
sind, als Kompromisse einzugehen. Auch deswegen wird Mass
Customization für die meisten Unternehmen erstmal ein Add-on
bleiben, wenn auch ein sehr effektives.
Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".
English version: PDF-File.
Frank T. Piller, Dozent an der Technischen Universität München und Lehrbeauftragter an etlichen internationalen Hochschulen, gilt als einer der Experten in Sachen Mass Customization, CRM und Personalisierungsstrategien. Sein neuestes Buch Mass Customization und Kundenintegration. Neue Wege zum innovativen Produkt ist im Symposion Verlag erschienen.
Zum changeX-Partnerportrait: Koelnmesse GmbH.
www.orgatec.de
Vom 19. bis 23. Oktober 2004 |
© changeX Partnerforum [03.09.2004] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 03.09.2004. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.