Gefangen im Sensornetz
Warum die neue "Smart Label"-Technologie gleichermaßen fasziniert und provoziert.
Sie gelten als vielversprechendes Tool, um die Lagerhaltungskosten der großen Handelskonzerne zu senken und die gesamte Prozesskette - von der Produktion der Waren bis ins Ladenregal und zum Konsumenten - zu optimieren: RFID-Tags oder auch Smart Labels. Bei aller Faszination verbergen sich dahinter allerdings auch Eingriffsmöglichkeiten in unser Leben, die nicht nur für uneingeschränkten Jubel sorgen.
Stellen Sie sich vor, es gäbe
etwas, was in der Lage wäre, uns unsere Wünsche und Bedürfnisse
quasi von den Augen abzulesen und sie - wie von Zauberhand - auch
noch zu erfüllen. Was sich durchaus verlockend, aber wenig
umsetzbar anhört, ist greifbarer, als wir meinen: Mittels der
"Radio Frequency Identification"-Technologie ist es heute bereits
möglich, komplette Warenflüsse zu automatisieren. Kein Handgriff
und kein Sichtkontakt sind mehr notwendig, wenn mittels
elektromagnetischer Wellen Produktdaten wie zum Beispiel Preis,
Hersteller, Mindesthaltbarkeitsdatum und Gewicht von Etiketten
abgelesen und weitergeleitet werden.
Einer der Vorreiter ist das weltweit fünftgrößte
Handelsunternehmen Metro, das ab November 2004 ein umfassendes
RFID-Projekt mit 100 Lieferanten, zehn Zentrallagern und rund 250
Märkten starten will. In ihrem "Extra Future Store" im
nordrhein-westfälischen Rheinberg hat Metro die RFID-Technik
bereits erfolgreich getestet.
Kritik an den "Schnüffelchips".
Klingt erst mal gut. Längst hat
sich aber auch schon Widerstand gegen die so genannten
"Schnüffelchips" formiert. So rief der Verein zur Förderung des
öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoeBud) jetzt
gemeinsam mit anderen Initiativen zu Protesten gegen die
unkontrollierte Einführung der RFID-Technologie auf. Die
Argumente der Gegner: Wenn nach und nach ein flächendeckendes
Netz entsteht, überall RFID-Lesegeräte auftauchen und die Chips
in Schuhen, Jacken, Kundenkarten, Autoschlüssel und vielen
anderen Alltagsgegenständen integriert sind, könne irgendwann
lückenlos erfasst werden, wer ich bin, was ich einkaufe und wohin
ich mich bewege. Klingt nach Big Brother.
Noch liegt diese Perspektive - schon aus technischen
Gründen - einige Jahre in der Zukunft. Aber versteht man RFID als
Basisinnovation, die sich mit anderen Technologien, wie
beispielsweise sich spontan vernetzenden Mini-Sensoren,
Lokalisierungstechnologien, Sprach- und Gestenerkennung und
smarten Endgeräten, nach und nach verknüpfen lässt, so ergeben
sich weit vielfältigere Konsequenzen als bloß die
Effizienzsteigerung in den Supply Chains der
Handelskonzerne.
Zukunftsszenario aus dem Logbuch.
Aber - wie fast immer bei der Einführung neuer Technologien - liegen in Bezug auf die Einsatzpotenziale "intelligenter", miteinander kommunizierender Alltagsgegenstände Chancen und Risiken, Sinn und Unsinn dicht beieinander. Dennoch wären folgendes Szenario und die dazugehörigen "Logbuch-Einträge" an einem (fast) ganz normalen Tag in der Zukunft durchaus vorstellbar:
11.23 Uhr
"Verlassen Sie sofort das Gebäude!" Die Arbeitsfläche
meines Schreibtischs blinkt abwechselnd rot und gelb. Der
Back-up-Modus verhindert, dass ich den gerade verabredeten Termin
für das vorverlegte Meeting heute Nachmittag noch in den Kalender
schreiben kann.
"Feuer im vierten Stock! Verlassen Sie sofort das Gebäude!"
Einige Kollegen haben sich schon aufgemacht. Ich gehe auch. Der
Fahrstuhl hat sich abgeschaltet. Im Treppenhaus kommen uns drei
Feuerwehrleute mit Atemschutzausrüstung entgegen. Draußen ist es
heiß.
Ein Feuerwehrmann liest die Daten aus dem
Hausmanagementsystem aus, das alle Bewegungen im Haus
dokumentiert. "Aus dem vierten ist noch keiner raus!", ruft er
seinen Kollegen zu. "Vielleicht ist der Ausgang versperrt!
Gebäudestruktur ist noch stabil!"
11.46 Uhr
Der Spuk ist vorbei. Die starke Sonneneinstrahlung hatte
einen falschen Alarm ausgelöst. Die in den Stahlbeton
eingegossenen Temperaturfühler spielten daraufhin verrückt und
meldeten, dass eine ganze Wand in Flammen stehe. Am Ende genügte
etwas Wasser aus dem Feuerwehrschlauch, um sie wieder abzukühlen.
Ich gehe zurück ins Büro. Beeile mich, um noch einen der
ruhigeren Desks am Fenster zu bekommen. Als auf der
Schreibtischoberfläche endlich der Kalender erscheint, sehe ich,
dass der Projektleiter schon das Meeting für den Nachmittag
eingetragen hat. Der sitzt im vierten Stock und wusste, dass es
nicht brennt ...
Ich ziehe mir die virtuelle Kiste mit den Bildern ran und
verteile ihren Inhalt auf der ganzen Schreibtischfläche. Die
Präsentation für das Meeting muss noch fertig werden. Das "Feuer"
hat mich die Mittagspause gekostet.
15.06 Uhr
Ich halte meine Präsentation: "Rückblick: Entwicklung der
Radio Frequency-Technologie".
"Als wir 2004 damit anfingen, massenhaft RFID-Tags in
unsere Waren zu integrieren, geschah das hauptsächlich, um die
unternehmensinternen Prozesse zu optimieren. Der erste
eindrucksvolle Erfolg war die Reduktion der Lagerhaltungskosten
um 20 Prozent.
2005 kamen erste Probleme auf. Die Akzeptanz der Kunden
gegenüber der Technologie war äußerst gering, weil diese keinen
direkten Nutzen für sich sahen. Es gelang uns nicht zu
kommunizieren, dass wir nur durch die smarten Labels in der Lage
waren, die großzügigen Rabatt-Angebote der vorangegangenen Jahre
aufrechtzuerhalten. Zusätzlich wurde von skeptischen
Datenschützern massiv Stimmung gegen die 'Kundenkontrollchips'
gemacht, den De-Aktivatoren wurde nicht getraut. Viele
Wettbewerber gaben aus diesen Gründen die Technologie wieder auf.
Erst als wir 2007 den Nutzen der RFID-Tags über unsere Supply
Chain und das Einkaufserlebnis des Kunden hinaus erweiterten,
setzte der wahre Smart Systems-Boom ein. Die Schaffung von
erheblichen Mehrwerten für unsere Kunden und für uns war die
Folge. Wer kann sich heute noch vorstellen, auch nur auf die
elektronisch gesteuerte Vorratshaltung zu Hause zu verzichten?
Früher haben wir Schränke, Küchengeräte, Computer und
Lebensmittel verkauft. Heute verkaufen wir intelligente
Komplettlösungen: die Rezeptdatenbank für den Computer, der weiß,
was der Kunde an Vorräten in den Schränken hat und dem Herd die
optimale Temperatur vorgibt, die Waschmaschine, die sich weigert,
den roten Wollpullover mit den weißen Hemden zu waschen.
Wie konnte das trotz der erheblichen Bedenken in Sachen
Datensicherheit möglich sein? Der Clou war, dass man die
De-Aktivatoren so modifizierte, dass sie die smarten Labels nicht
mehr nutzlos machten, sondern einfach mit einem
kundenspezifischen Code verschlüsselten. So konnten die
entsprechenden Systeme beim Kunden weiterhin auf die nützlichen
Informationen der Tags zugreifen, ohne dass dies auch Dritten
möglich war.
RFID wandelte sich von der Problemtechnologie zum
Wegbereiter für eine neue Technikfreundlichkeit der Kunden. In
ihrem Kielwasser haben sich weitere neue Technologien rasant
entwickeln können. Man denke nur an die perfektionierten
'Location Based Services' der Mobilfunkbranche in Kooperation mit
Einzelhändlern, Städten und Großunternehmen wie der Bahn. Oder
die Body-Area-Networks, welche das effiziente, aber
menschenwürdige Monitoring von hilfs- und pflegebedürftigen
Menschen ermöglichten, ohne sie aus ihrem gewohnten Umfeld
herausreißen zu müssen, und die inzwischen weit über ihre
ursprüngliche Funktion hinaus eingesetzt werden.
RFIDs waren lange umstritten. Heute sind sie nicht mehr
wegzudenken. Sie stellen die Basis des 'Internets der smarten
Dinge' dar - einem 'Internet on Demand', zwar mit niedriger
Bandbreite, aber auch mit höchster Verfügbarkeit."
18.09 Uhr
Ab nach Hause. Beim Verlassen der Firma meldet mein
Portable: "Die Linie U12 ist aufgrund eines technischen Defekts
für den Rest des Tages gesperrt." Das bedeutet einen Umweg von
einer halben Stunde mit der Bahn. Ich buche den nächsten Zug und
laufe Richtung Bahnhof.
Es ist immer noch heiß. Unterwegs halte ich an einer
Eisbude an. Im Bahnhof angekommen, lotst mich mein Portable zu
Gleis 4 in den Abschnitt C, in welchem mein Wagen halten wird.
Noch zwei Minuten.
Im Zug versuche ich, die personalisierte Werbung, die mich
von der Rückseite meines Vordersitzes anblökt, zu ignorieren. Wie
kommt es, dass ich seit neuestem auch Werbung für Haftcreme und
Kreuzfahrten über mich ergehen lassen muss? Das passiert wohl,
wenn man für die Eltern einige Besorgungen gemacht hat ...
18.54 Uhr
Ich schließe erschöpft die Wohnungstür hinter mir. Die
Wände meines Wohnzimmers leuchten in sanften Blautönen. Aus den
Lautsprecherboxen rauscht das Meer. Die Telefonanlage stellt sich
gar nicht erst an und das Messaging-System teilt nur kurz mit,
dass ich fünf neue Sprachnachrichten habe. Seit ich in diese
stimmungssensitive Wohnung gezogen bin, kann ich deutlich besser
entspannen.
Trotz des Eises spüre ich die fehlende Mittagspause und das
ausgefallene Mittagessen. Mein FoodManager, den ich gewöhnlich
erst abends einschalte, macht mir Vorschläge für verschiedene
Salate. Nachdem ich die Einstellungen auf "Hauptmahlzeit"
verändert habe, erklärt er mir, dass ich mit den vorhandenen
Vorräten 17 verschiedene Gerichte kochen könnte und dass mir für
23 weitere nur ein oder zwei weniger wichtige Zutaten fehlen.
Dass ich doch Spaghetti mit Tomatensoße esse, ist meine Schuld
...
Smarte Tools lotsen durchs Leben.
Der Protagonist erlebt eine Welt,
in der RFIDs alltäglich sind. Adaptive Systeme gehen dezent auf
die Bedürfnisse und Gewohnheiten ihrer Nutzer ein: Das
Hausmanagementsystem, das dazu dient, Bürokommunikation zu
vereinfachen und Katastrophen zu verhindern. In die
Gebäudestruktur eingebaute Sensoren, die es erlauben, jederzeit
umfassende Diagnosen über den Gebäudezustand zu erstellen. Der
Schreibtisch mit interaktiver Oberfläche, der den
Desktop-Computer verdrängt hat und erkennt, wer an ihm arbeitet.
Das Handy, das beim Verlassen der Firma schon weiß, welchen Weg
sein Besitzer wahrscheinlich einschlagen wird, ihn auf eventuelle
Hindernisse hinweist und Alternativen vorschlägt. Das smarte, ins
Handy integrierte Bahnticket, das den Kunden im Bahnhof an die
richtige Stelle lotst. Die Wohnung, die sich stimmungssensitiv
mittels Body-Area-Network, LED-Tapeten und weiteren integrierten
Technologien dezent auf ihren Bewohner einstellt ...
Die Dichte der technischen Innovationen im vorliegenden
Szenario überzeichnet die tatsächliche Entwicklung. So kann man
sich die Frage stellen, ob die beschriebene Welt nicht vollkommen
"übertechnisiert" ist und ob der Nutzer die Vielzahl an smarten
Tools als Unterstützung im Alltag oder eher, wie im Fall der
unerwünschten Werbung, als Belastung erleben wird. Weniger ist
hier eventuell mehr.
Eine intelligente Umgebung darf ein gewisses Maß an
Komplexität nicht überschreiten. Sie muss dem Nutzer das Leben
tatsächlich angenehmer machen und darf ihn nicht überfordern.
Nicht das technisch Machbare, sondern das vom Kunden Gewünschte
muss als Richtschnur für so genanntes "Pervasive" oder auch
"Ubiquitous Computing" im Alltag gelten. Die Möglichkeiten und
Grenzen des beschriebenen technischen Kosmos sollten - in
Interaktion mit dem potenziellen User - in Szenarien vorgedacht
und im Vorfeld erprobt werden. Insbesondere in Bereichen wie dem
Haushalt, wo Produktlebenszyklen relativ lang sind, wird sich
erst mit der Zeit zeigen, ob ein hoher Vernetzungsgrad
tatsächlich akzeptiert wird. Die bisher eher ernüchternden
Erfahrungen mit "Smart Homes" zeigen deutlich die
Anfangsschwierigkeiten in diesem Bereich.
Analysen in der Mülltonne.
Häusliche Arzneischränke, die
selbsttätig die Haltbarkeit von Medikamenten überprüfen, oder
Mülltonnen, die ihren Inhalt auf Recyclingfähigkeit hin
analysieren, können durchaus nützlich sein. Wenn smarte Produkte
allerdings selbsttätig, unbemerkt und unautorisiert Daten über
ihren Nutzer sammeln und diese beispielsweise an
Versicherungsträger oder für unerwünschtes One-to-one-Marketing
weitergeben, wenn sich der Mensch von der Allgegenwart der
Sensornetze gegängelt fühlt, weil er nichts mehr selbst tun und
entscheiden darf, dann ist die Beziehung zwischen Technik und
Anwender zu Recht gestört.
Die Potenziale der neuen Technik sind zweifellos
faszinierend. Es wäre schade, wenn das Vertrauen und die
erwartungsvolle Neugier ihrer künftigen Anwender leichtfertig von
ihren Entwicklern und Anbietern verspielt werden würden. Das
Beispiel Metro kann hier als Lehrstück gelten: Nachdem bekannt
wurde, dass der Handelskonzern heimlich RFID-Chips in rund 10.000
Kundenkarten eingebaut hatte, musste er diese als Reaktion auf
Proteste von Datenschützern wieder einstampfen.
Marc Müller-Stoffels und Beate Schulz-Montag sind Mitarbeiter der Z_punkt GmbH The Foresight Company.
Zum changeX-Partnerportrait: Z_ punkt GmbH The Foresight Company.
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