Die Gesetze der Netze
Living at Work-Serie | Folge 4 | - Zwölf Inspirationen von Michael Gleich.
Netze verbinden vielfältigste Knoten zu einem einheitlichen Ganzen, balancieren Chaos und Ordnung aus, organisieren Win-Win-Beziehungen und halten Attacken von außen besser stand als jedes hierarchische System. Aber in Netzwerken zu arbeiten und zu denken will gelernt sein.
Netze haben dem Planeten Erde mächtig die Luft rausgelassen. Innerhalb von 100 Jahren ist er von Größe XL auf Größe S geschrumpft. Mitgewirkt haben daran Eisenbahnverbindungen, Fluglinien, Telefondrähte, Satellitenfernsehen, Internet, E-Mail, Börsennetze und finanzielle Transaktionen in Echtzeit. Mittlerweile ist jeder von uns irgendwie in dieses globale Netz der Netze verstrickt. Und immer mehr Menschen üben einen heimlichen Zweitjob aus - als Netzwerker. Sozialarbeiter, die Nachbarschaftsinitiativen betreuen, genauso wie freiberufliche Architekten, die Bauprojekte in wechselnden Partnerschaften abwickeln, Wissenschaftler, die im globalen Verbund forschen, oder Globalisierungskritiker, die Netze als effiziente Organisationsform ebenfalls schätzen.
Mit Netzwerken umgehen lernen.
Das Dumme ist: Niemand von uns
wurde zum Netzwerker ausgebildet. Wir stehen oft ratlos vor
komplexen (= miteinander verflochtenen) Systemen und ihren
überraschenden Resultaten. Denn die "Gesetze der Netze"
unterscheiden sich fundamental von denen in starren Hierarchien.
Netze verbinden vielfältigste Knoten zu einem einheitlichen
Ganzen, balancieren Chaos und Ordnung aus, organisieren
Win-Win-Beziehungen, und vor allem halten sie Attacken von außen
stand: Sie reißen nicht, sondern federn Störungen elegant ab -
vorausgesetzt, sie sind richtig verknüpft. In dieser Hinsicht
können wir eine Menge von der Evolution lernen. Sie organisiert
alles Leben in Netzen: Räuber-Beute-Beziehungen und
Nahrungsnetze, Symbiosen und Parasitismus, Schwärme, Herden und
Familienverbände. Etwa im Ozean: Putzerfische reinigen
Teufelsrochen von Parasiten (der eine bekommt Nahrung, der andere
Sauberkeit), Korallen bestehen aus planktonfressenden Polypen,
die mit winzigen Algen zusammenleben und sie ernähren;
Phytoplankton wird von Zooplankton gefressen, das Fische und
Pfeilwürmer verzehren, die wiederum Raubfischen als Nahrung
dienen. Leben existiert nur in Beziehung zu anderem Leben.
Der Erfolg gibt dem cleversten Netzwerker auf Erden Recht:
Seit 3,5 Milliarden Jahren haben seine Knoten und Stränge
gewaltige Belastungen und katastrophale Einschnitte abgefedert,
ohne dass die Entwicklung als Ganzes je unterbrochen worden wäre.
Hier sind zwölf Vorschläge, wie das "Web of Life" unser tägliches
Networking inspirieren kann.
I. Best before - ein freiwilliges Ablaufdatum. In der Natur sind Netze - wie alles Lebendige - vergänglich. Homo sapiens dagegen hofft verzweifelt auf Ewigkeit. Organisationen, die er gründet, sollen am liebsten noch die nächste Eiszeit überdauern. Hier eine interessante Alternative: Netze gründen und von vornherein mit einem Ablaufdatum versehen. Das funktioniert wie ein Ultimatum an sich selbst: "Wir arbeiten eine Zeit lang zusammen, was bis dahin nicht geschafft ist, bleibt unerledigt, weil wir dann etwas Neues anpacken!" Das freiwillige "Best before"-Datum bündelt die Aktivitäten auf klar formulierte Ziele hin und verhindert, dass ein Netz nur deshalb weiter gepäppelt wird, weil Pfründe und Posten zu vergeben sind. Institutionen, die sich eigentlich überlebt haben, gibt es eh zu viele.
II. Banker, Kicker, Mönch: Wie man ungewöhnliche Allianzen schmiedet. Ein beliebter Fehler besteht darin, nur ähnliche Elemente zu vernetzen. Gleich und Gleich gesellt sich gern - allerdings mit dem Nachteil, dass deren Liaison auch immer das Gleiche entspringt. Wenn Sie elf Kicker zusammenbringen, haben Sie eine Fußballmannschaft, deren Welt ein Fußball ist, die an Fußbälle denkt und, im besten Fall, Fußball spielen kann. Eine Gruppe Broker ist fixiert auf Hausse und Baisse, eine Klosterbruderschaft festgelegt auf ora et labora. Spannend wird die Sache, wenn man das Prinzip der Artenvielfalt auch beim Networking berücksichtigt. Gelänge es, Banker, Kicker und Mönche in ein Team einzubinden, sagen wir mal, für ein Brainstorming "Was ist Glück?" - auf deren Thesen dürfte man gespannt sein!
III. Sorge für zunehmende Erträge! Nach dem Prinzip der Selbstorganisation entstehen "Anhäufungen" vor allem dort, wo schon vorher etwas existierte. Wasser läuft einen Hang hinunter: Die ersten Routen der Rinnsale entstehen vielleicht zufällig, dann aber fließt es dort am stärksten, wo schon Wasser geflossen ist. Ähnlich in der Kultur: Ein neuer Schuhladen eröffnet vorzugsweise dort, wo andere bereits gut verkaufen, und mit jedem Neuzugang steigt die Attraktivität des Standorts. Biblisch gesprochen: "Wer hat, dem wird gegeben." Netzwerker können selbst für zunehmende Erträge sorgen, bis ihr Gebilde die kritische Masse erreicht hat und dann von allein wie ein Magnet wirkt. Dann kann man sich den Umstand zunutze machen, dass bei Netzen, die zwecks "Umsatz" zwischen den Teilnehmern geschaffen werden, beispielsweise Handels- oder Telefonnetze, der Nutzen des Verbunds mit jedem Teilnehmer nicht proportional, sondern im Quadrat wächst. Wie bei der Einladung zu einer Promi-Party: Solange noch kein Star zugesagt hat, ziert sich die Szene. Doch wenn der Gastgeber damit locken kann, dass Madonna, Brad Pitt und Julia Roberts garantiert kommen, dann strömen auch die anderen Berühmtheiten herbei. Ein Sog erzeugt einen noch stärkeren Sog.
IV. Füttere das Netz mit Nützlichem ... und es wird dich ernähren! In der Natur würde man von "reziprokem Altruismus" sprechen, wie er beispielsweise in Tierherden praktiziert wird: Wächtertiere schützen die anderen unter Einsatz ihres eigenen Lebens vor Raubtieren - aber irgendwann tut ein anderer etwas für mich oder meinen Nachwuchs! Auch in den Weiten des elektronischen Raumes wird diese Form indirekter Kooperation praktiziert. Zwischen den Infomüllhalden entdeckt man im Internet überwältigend viele nützliche, überraschende, weiterführende Angebote. Goldnuggets im Geröll. Fleißige Menschen haben sie dort deponiert. Sie haben den kategorischen Imperativ der Netze verstanden: Stelle Brauchbares bereit, wenn du selbst etwas abzapfen möchtest! Faustregel dabei: Wertvoll ist jede Information, in deren Erarbeitung jemand viel Zeit investiert hat und die nicht leicht reproduzierbar ist. Da stellen Schüler ihre Referate anderen zur Verfügung, da recherchiert ein Philosophiestudent eine liebevolle Linksammlung zu Paul Virilio, bieten Institute und Professoren ihre Forschungsergebnisse säuberlich geordnet zum Download an. Wenn es stimmt, dass die Netze unsere neue Heimat sind, dann haben wir hier Beispiele vorbildlicher Nachbarschaftshilfe.
V. Lass sie schwärmen! Die Millionen Internetnutzer
verhalten sich wie ein Bienenschwarm, der seinen Stock verlässt
und sich auf die Suche nach Nektar macht. Diesen Schwarm kann
keiner auf Dauer mit knalligen Farben oder Marktschreierei
täuschen! Wenn er an einem Ort (Website) keinen Honig saugen
(Informationen, Unterhaltung oder Kontakte) kann, dann schwirrt
er weiter und kommt nie wieder. Qualität setzt sich auch im Reich
des Virtuellen durch. Meistens jedenfalls.
Keiner von uns ist so schlau wie wir alle zusammen, eine
Faustregel, die wir von guten Brainstormings kennen. Wenn sich
fünf Menschen treffen und gemeinsam grübeln, kommt in der Regel
eine Menge mehr dabei heraus, als wenn sich jeder von ihnen ins
stille Kämmerlein verzieht. Assoziationen fliegen hin und her,
auf den verrückten Vorschlag des einen reagiert ein anderer mit
einem vernünftigen, ein Gag provoziert vielleicht eine tragfähige
These. Dieses Mehr bringt nur der "Schwarm" als Ganzes hervor.
Eine weitere Form, sich Schwarmdenken zunutze zu machen,
sind die Newsgroups im Internet. Es gibt sie für die
ausgefallensten Computerprogramme, für sämtliche sexuelle
Spielarten, für Nazis genauso wie für libertäre Politik, von
Altägypten bis Zytologie. Solche Themen werden über Monate oder
Jahre diskutiert. Die Foren funktionieren wie ein schwarzes
Brett, auf das man Fragen und technische Probleme, Suche und
Biete pinnen kann. Newsgroups ahmen ein wichtiges Prinzip der
Evolution nach: kollektive Intelligenz, erzeugt durch verteiltes,
paralleles und vernetztes Denken. Unser Gehirn weist uns die
Richtung: Eine einzelne Nervenzelle ist strunzdumm, sie kann
lediglich Impulse feuern oder nicht feuern; aber der Verbund, in
dem jede der 100 Milliarden Zellen durchschnittlich mit 10.000
anderen verschaltet ist, bringt Philosophien, Symphonien und
Relativitätstheorien hervor - Wunderwerke der Emergenz.
VI. Sei Nomade! Offiziell firmiert unsere Kultur als
Projekt Sesshaftigkeit. Doch in Wirklichkeit wankt unsere
Standorttreue jeden Tag ein bisschen mehr. Global Cities sind
nicht mehr die Heimat von Festverwurzelten, sondern riesige
Transiträume für Umtriebige, unstet, aber stets vernetzt. Was
liegt näher, als die erforderlichen Kulturtechniken bei jenen
abzuschauen, deren ganzes Leben eine einzige Abfolge von
Ankünften und Abschieden ist: bei den Nomaden?
Ihre Moral heißt Migration, sie sind alle Grenzen los. Sie
können uns Cybernomaden inspirieren: Erfahrungen mit anderen zu
teilen und erworbenes Wissen zu guten Geschichten zu verdichten;
beim Navigieren in den Netzen nicht dogmatisch an einem
eingeschlagenen Kurs festzuhalten, sondern wach zu sein für die
Chancen links und rechts des Weges; Ballast abzuwerfen ("Brauche
ich das alles wirklich?") und lieb gewonnene Gewissheiten bei
Bedarf zugunsten neuer Horizonte aufzugeben.
VII. Fünf-D-Denken. Um Komplexität (sprich Verflochtenes) zu erfassen und zu bewältigen, brauchen wir eine neue Analysemethode. Zu den drei Dimensionen des Raumes und der der Zeit muss eine fünfte hinzukommen: die Netzdimension. Sie beschreibt, auf welche Weise in einem komplexen System Knoten und Stränge verschaltet sind, sie analysiert die Qualität der Vernetzung und wie sie sich im Laufe eines Prozesses verändert. Fünf-D-Denken zeichnet eine Art Netzkarte, die angibt, wie sich verschiedene Knoten zueinander verhalten. Unsere Situation als "Systementwickler" ist vergleichbar mit der eines Schachspielers, der vor einem besonders vertrackten Spielaufbau sitzt: Alle Figuren hängen mit Gummibändern zusammen, versetzt man eine Figur, bewegen sich alle. Deshalb sollte man mehr als einen Moment lang überlegen, wie die Fäden verlaufen, bevor man zum vermeintlich genialen Zug ansetzt.
VIII. Vernetzt fühlen - dem "Bauch" vertrauen. Notwendigerweise bleibt in komplexen Situationen eine "irgendwie" nicht fassbare Grauzone übrig. Hier hilft eine bei eingefleischten Rationalisten verpönte Instanz weiter: die Intuition. Sie hat nichts mit Esoterik zu tun, sondern mit gespeichertem und zu einem Gesamtgefühl kondensiertem Erfahrungswissen. Intuition ist unser Sinnesorgan für vernetzte Wirkungen.
IX. Ehre deine Fehler, zumindest die kleinen, denn sie bringen dich weiter! Sie sind so etwas wie eine Schutzimpfung für Netze, wie beim Immunsystem des Körpers: Eine kleine Dosis Erreger darf eindringen, Antikörper werden gebildet, und wenn später eine massivere Attacke auftritt, ist das Abwehrsystem vorbereitet und macht sie unschädlich. Der Kampf zwischen Hackern und Firewall-Programmierern im Internet ist ein weiteres Beispiel solch einer Koevolution, die letztlich alle weiterbringt: Auf die Freisetzung von Viren reagieren Softwareentwickler mit neuen, noch raffinierteren Schutzwällen. Insofern sind Fehler keine Katastrophe, sondern das notwendige Stimulans lernender Organisationen. Sonst sterben sie schon am ersten kleinen Schnupfen.
X. Die Geraden und die Schrägen. Wenn Ihr Netz aussieht wie ein münsterländischer Acker nach der Flurbereinigung, dann haben Sie was falsch gemacht. Es sollte vielmehr vielfältig wie ein Zoo angelegt sein und auch komischen Käuzen, Paradiesvögeln und Tausendsassas ein Plätzchen bieten. Oder gleich wie das Modell Regenwald, denn dort sieht man: Je mehr Tier- und Pflanzenarten auf engem Raum zusammenleben, desto stabiler das Ökosystem. In der Evolution wie in der Marktwirtschaft ist die Suche nach neuen Optionen nie zu Ende - ein Plädoyer für hohe Diversität!
XI. Kunst im CHAORD. Netze sind hervorragend geeignet,
CHAos und ORDnung miteinander zu versöhnen. Lebensgemeinschaften
zum Beispiel balancieren in einem Fließgleichgewicht zwischen den
beiden Extremen "totale Anarchie" und "starre Ordnung", sie
bewegen sich am Rande des Chaos, um einerseits noch genug Ordnung
zu haben, um Impulse von außen verarbeiten zu können,
andererseits aber auch genug kreatives Potenzial zu haben, um auf
Umweltveränderungen reagieren zu können. Zum Wesen einer
chaordischen Organisation, etwa in der Wirtschaft, gehört es,
eine klare Vision zu formulieren, aber genügend Spielraum für
spontane Selbstorganisation zu lassen. Sie wacht darüber, dass
die richtigen Wege eingeschlagen werden, lässt aber Fehler zu,
damit das Netz daraus lernen kann.
Oft ist Chaos die bessere Strategie als Kontrolle. Ein
Experiment aus der Biologie: Wenn man jeweils ein Dutzend Fliegen
und Bienen in eine leere Flasche sperrt, die unverschlossen und
mit dem Boden in Richtung Fenster liegt - wer wird als Erstes der
Falle entkommen? Die Bienen, die für effiziente Kommunikation in
einem straff organisierten Staat stehen, oder die Fliegen, mit
denen man wildes Herumsausen verbindet? Die Bienen suchen mit
Fleiß und Akribie jeden Millimeter des Flaschenbodens ab, der dem
Licht zugewandt ist und wo sie den Weg in die Freiheit vermuten,
bis sie irgendwann an Erschöpfung sterben. Diszipliniert bis in
den Untergang. Die Fliegen dagegen schwirren in heller Aufregung
hin und her, suchen, jede für sich, den Ausweg und entkommen
irgendwann, jede für sich, der Falle. Was sagt uns der Geist aus
der Flasche? Gib dem Chaos eine Chance!
XII. Die Gesetze der Netze sind noch lange nicht ausgeforscht. Doch um die sich selbst beschleunigende Dynamik zu verstehen, mit der wir den Blauen Planeten in einen immer dichter gesponnenen Kokon hüllen, brauchen wir ein völlig neues Denken, eine Bionik der Netze, die vom Erfolg evolutionärer, hochkomplexer Systeme profitiert. Die Grundzüge des neuen Paradigmas zeichnen sich bereits ab: Kommunikation statt Kontrolle, Netzlogik statt der herkömmlichen mechanistischen Logik, Netzwerk statt Uhrwerk. Oder frei nach Karl Valentin: Netze sind schön, machen aber viel Arbeit.
Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".
English version: PDF-File.
Michael Gleich ist Wissenschaftspublizist und hat mit seinem Buch Web of Life. Die Kunst, vernetzt zu leben Maßstäbe gesetzt.
Zum changeX-Partnerportrait: Koelnmesse GmbH.
www.orgatec.de
Vom 19. bis 23. Oktober 2004 |
© changeX Partnerforum [30.01.2004] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
changeX 30.01.2004. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Autor
Michael GleichMichael Gleich, Publizist, Stroryteller und Redner, hat 2011 "der kongress tanzt. Netzwerk für gute Veranstaltungen" initiiert. Es berät Veranstalter darin, Konferenzen und Foren als lebendige Lernorte zu gestalten.