Ausgedampft - der Anfang vom Ende der Dampfschiffe
Vor 100 Jahren tuckerte das erste Schiff mit Dieselmotor auf der Wolga.
Technische Revolutionen vollziehen sich oft im Verborgenen. Vor genau 100 Jahren, im Frühling des Jahres 1903, absolvierte das erste, von einem Dieselmotor angetriebene Schiff seine Jungfernfahrt - weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Deren Augenmerk galt nach wie vor dem Wettrennen der Schnelldampfer um das "Blaue Band" für die schnellste Altantiküberquerung. Aber die Ära der Dampfschiffe neigte sich dem Ende zu.
Die
Petit Pierre (oben) und die
|
Schwarzes Gold - taugt die Fracht auch als Brennstoff?
In Stalingrad lagen über den Winter
1902/03 zwei Schiffsrümpfe auf dem Trockendock und warteten auf
den Einbau der Antriebsaggregate. Die beiden gut 70 Meter langen
Tankschiffe
Vandal und
Ssarmat gehörten der russischen Maschinenfabrik Ludwig
Nobel, deren Naphtha-Produktionsgesellschaft mit eigenen
Transportschiffen Erdölprodukte - Naphtha ist ein veralteter
Begriff für Erdöl - zwischen dem Kaspischen Meer und St.
Petersburg beförderte. Da lag es nahe, das "schwarze Gold" auch
als Brennstoff für den Schiffsantrieb einzusetzen. Deshalb hatte
die Maschinenfabrik eine eigene Lizenz zum Bau der 1897 bei einer
Vorläuferfirma der heutigen MAN von Rudolf Diesel vorgestellten
neuen Dieselmotoren erworben. Deren Einsatz als Schiffsantrieb
war jedoch technisches Neuland; bislang liefen die klobigen
Dieselaggregate ausschließlich im stationären Betrieb.
Jeweils drei Motoren waren für jedes der beiden Tankschiffe
vorgesehen. Gebaut wurden die Aggregate von der schwedischen
Aktiebolag Diesel Motorer in Stockholm, die seinerzeit die
leichtesten und wirtschaftlichsten Dieselmotoren fertigte. Doch
die Lieferung verzögerte sich; und als die Motoren endlich
eintrafen, waren zahlreiche technische Hürden zu überwinden.
Deren größte: Man konnte die Laufrichtung des Motors nicht
ändern, das jedoch ist Voraussetzung, um ein Schiff zu
manövrieren. Die Ingenieure lösten dieses Problem nach einer Idee
des italienischen Erfinders Del Proposto. Hinter jedem Motor
wurden ein Stromgenerator, eine Kupplung und ein Elektromotor
montiert. Bei Vorwärtsfahrt trieb das Dieselaggregat direkt die
Schraube, beim Manövrieren hingegen löste man die Kupplung und
schaltete auf elektrischen Betrieb um. So gesehen war es eine
Doppel-Premiere, als die
Vandal im Frühjahr 1903 zur Jungfernfahrt auf der Wolga
auslief: Der Tanker war nicht nur das erste Schiff mit
Dieselmotor, sondern zugleich das erste mit elektrischem Antrieb.
Die neue Technik funktionierte - doch schon bei ihrer ersten
Ausfahrt hatte die
Vandal einen schweren Unfall, bei dem der Rumpf und einer
der Motoren so stark beschädigt wurden, dass das Schiff zur
Reparatur zurück in die Werft gebracht werden musste.
"Beginn einer neuen Epoche in der Schifffahrt."
Zwar war die
Vandal das erste Schiff, das eine Fahrt mit Dieselantrieb
unternahm, beim regelmäßigen Betrieb hatten jedoch andere die
Nase vorn. Zur gleichen Zeit wie ihre russischen Kollegen
arbeiteten auch in Frankreich Ingenieure an dem Einsatz von
Dieselmotoren als Schiffsantrieb. Unter Leitung von Frédéric
Dyckhoff, einem langjährigen Freund und Geschäftspartner Rudolf
Diesels, wurde ein vorhandenes Lastschiff auf den neuen Antrieb
umgerüstet. In das 38 Meter lange Kanalschiff namens
Petit Pierre, das im Rhein-Marne-Kanal im Einsatz war,
wurde ein Dieselmotor aus französischer Herstellung eingebaut.
Das war ebenfalls im Jahr 1903, und vermutlich im August
absolvierte das Kanalboot seine erste Testfahrt. Bei einer
weiteren Probefahrt am 25. Oktober war der Erfinder Rudolf Diesel
mit an Bord - und schwärmte begeistert vom Beginn einer neuen
Epoche in der Schifffahrt.
Wie lange die
Petit Pierre noch auf Frankreichs Binnengewässern
unterwegs war, ist nicht bekannt. Die russische
Vandal indes tuckerte nach ihrer Reparatur noch zehn Jahre
die Wolga hinauf und hinunter. Das 1904 in Betrieb genommene
Schwesterschiff
Ssarmat war bis 1923 im Einsatz. Die Erfahrungen waren so
positiv, dass Ludwig Nobel sich entschloss, 60 Schiffe seiner
Flotte auf Dieselantrieb umzurüsten. Der Siegeszug des
Schiffsdieselmotors hatte begonnen.
Historikerstreit um das erste maritime Dieselschiff.
Sowohl die
Petit Pierre als auch die
Vandal und die
Ssarmat waren Binnenschiffe. Bei der Frage, wer das erste
seegehende Schiff mit Dieselmotorantrieb auf Jungfernfahrt
geschickt hat, herrscht Uneinigkeit unter den
Schifffahrtshistorikern. Denn wie so oft in der Technikgeschichte
wurden entscheidende Innovationen nicht an einem Ort, von einem
Forscher oder Team, sondern zugleich an verschiedenen Orten
gemacht. So war es auch beim maritimen Einsatz von Dieselmotoren.
In Frankreich, Russland, Belgien, Schweden, Großbritannien und
Deutschland tüftelten Ingenieure zu Beginn des 20. Jahrhunderts
an Schiffen mit Dieselantrieb. Auch das Militär hatte ein Auge
auf die neue Technik geworfen - als Antriebsaggregat für
Unterseeboote. Auch hier war Frankreich führend. Bereits 1904
ging das französische Versuchs-U-Boot
Z mit Dieselaggregat auf Tauchfahrt. Es folgte die
Aigrette, die im Jahr darauf in Betrieb ging. 1911 hatte
die französische Marine dann schon über 60 dieselbetriebene
Unterseeboote im Einsatz.
Das erste große
hochseegängige
|
"Rauch- und schornsteinloses Riesenmotorschiff."
Die dänische
Selandia hingegen war dies zweifellos und war unbestritten
auch auf hoher See unterwegs. Das 117 Meter lange, weiß getünchte
Frachtschiff aus der Werft Burmaister & Wain, heute
aufgegangen in der MAN B&W Diesel AG, verfügte über zwei
Dieselmotoren mit einer Leistung von 1.250 PS und hatte keinen
Schornstein mehr, sondern ein Auspuffrohr nahe dem Mast. Wenige
Tage nach der Erprobung startete das Schiff auf seine
Jungfernreise von Kopenhagen über London, Antwerpen, Genua nach
Singapur und Bangkok - eine Fahrt, die dem Dieselmotor große
öffentliche Aufmerksamkeit bescherte. In London kam gar der
damalige Marineminister Winston Churchill an Bord, um sich über
die Antriebstechnik zu informieren. Zu einem ähnlichen PR-Erfolg
geriet die Jungfernfahrt des Schwesterschiffes
Fionia. Die Fahrt führte im Juni 1912 von Kopenhagen nach
Kiel, wo die Kieler Woche stattfand. Als prominentester Besucher
kam am 25. Juni 1912 der deutsche Kaiser an Bord. Und eine
Zeitung zeigte sich beeindruckt, wie "inmitten der zahlreichen
Segelschiffe und Dampfer, aus deren Schornsteinen dicke
Rauchwolken aufstiegen, das rauch- und schornsteinlose
Riesenmotorschiff erschien".
Das war der Durchbruch für den Schiffsdiesel. Dieselmotoren
wurden zum Standardantrieb für Ozeanriesen und beendeten die Ära
der Dampfschifffahrt. Heute werden rund 96 Prozent der großen
Handelsschiffe mit mehr als 100.000 Bruttoregistertonnen - rund
90.000 sind auf den Weltmeeren unterwegs - von Dieselmotoren
angetrieben. Sein Motor werde einmal die Dampfmaschine ersetzen,
hatte Rudolf Diesel schon prophezeit, als seine Erfindung erst
auf dem Papier existierte. Kaum jemals ist eine Technikvision so
vollständig in Erfüllung gegangen wie diese.
Winfried Kretschmer, Journalist und Autor, arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.