Werden jetzt Unternehmen demokratisch?
Unternehmensdemokratie ist plötzlich zum Thema geworden. Eine Konferenz, zwei Buchpublikationen, viele Unternehmen, die mit neuen Formen der Beteiligung experimentieren - die Debatte kommt in Gang. Unser Schwerpunkt beleuchtet diesen neuen Fokus zum Thema organisationaler Wandel. In einem zweiten, kommenden Teil rücken dann Kritik und Diskussion in den Mittelpunkt.
Im Februar 2015 fand im Audimax der TU München die Konferenz "Das demokratische Unternehmen" statt. Zwei Buchpublikationen folgten. Plötzlich ist Unternehmensdemokratie zum Thema geworden. Ganz überraschend kommt das freilich nicht. Seit Jahren schon zeichnet sich eine neue Welle der Beteiligung der Mitarbeiter an Unternehmensentscheidungen ab. Und zahlreiche Unternehmen experimentieren mit solchen Formen der Beteiligung und Selbstbestimmung. Neu ist der Fokus: Was bislang unter den Stichworten "vernetzte Organisation" und "Agilität" thematisiert wurde, wird heute zunehmend unter dem Label "Unternehmensdemokratie" beleuchtet. Ein Perspektivwechsel, der nicht unumstritten ist. Unser Schwerpunkt widmet sich zunächst dieser Perspektive. Das geschieht im hier zusammengefassten Teil. In einem zweiten Teil lassen wir dann kritische Stimmen zu Wort kommen und suchen die Diskussion.
Die Beiträge im Überblick. Links zu den Artikeln siehe rechte Spalte.
Mehr Demokratie wagen
Demokratie wird zur Leitlinie der Unternehmensführung im 21. Jahrhundert
Konzerne sind, neben Nordkorea, das letzte Bollwerk der Planwirtschaft. Doch die zentrale Steuerung ökonomischer Prozesse, die auf volkswirtschaftlicher Ebene gescheitert ist, geht nun auch auf betriebswirtschaftlicher Ebene ihrem Ende entgegen. An die Stelle der Pyramiden tritt die Agora als Tummel- und Marktplatz. Und an die Stelle von Weisung und Kontrolle ein Führungsmodell, in dem jeder Mitarbeiter sich selbst führt.
Essay: Detlef Gürtler
Von der Hierarchie über die Herrschaft des Marktes hin zum Experimentieren mit Formen von Demokratie: Die Organisationsform von Unternehmen hat sich in den letzten zwei Jahrhunderten ebenso gewandelt wie die Verfasstheit von Staaten. Und sie muss sich weiter verändern, sagt Detlef Gürtler in seinem Essay "Mehr Demokratie wagen". Demokratie in Unternehmen, das heißt nicht Wahlen für Repräsentativorgane. Unternehmensdemokratie hat vielmehr zu tun mit der ursprünglichen Demokratie der griechischen Polis, in der alle unmittelbar betroffen waren und sich direkt einbrachten. Unternehmensdemokratie bedeutet vernetzte, komplexe Kommunikation innerhalb des Unternehmens und über seine Grenzen hinweg. Es bedeutet, dass jeder Mitarbeiter sich selbst steuert. Ipsokratie nennt das Gürtler, Selbstherrschaft. Und er sagt: In gewissen Situationen sind durchaus noch Elemente von Hierarchie und Steuerung durch den Markt angebracht - wenn sie gezielt und begrenzt eingesetzt werden. Auch in den Unternehmen werden unterschiedliche Organisationsformen kombiniert werden. Man muss nicht gleich das ganze Unternehmen umkrempeln, einfach Schritt für Schritt immer ein wenig mehr Demokratie wagen.
Im Informationsraum
In der digitalisierten Welt hat das fordistische Großunternehmen als Leitbild ausgedient - ein Gespräch mit Andreas Boes
Längst sind nicht mehr alle Autos schwarz, wie Henry Ford dies einst für sein T-Modell postuliert hatte. Die Erwartungen der Kunden haben sich ebenso verändert wie die Marktbedingungen und die technischen Möglichkeiten. Dieser ökonomische Wandel zwingt die Unternehmen dazu, ihr Organisationsmodell zu überdenken. Das fordistische Großunternehmen hat ausgedient. Ein neues Modell zeichnet sich ab. In seinem Kern steht nicht mehr die Produktion, sondern die Information.
Interview: Winfried Kretschmer
Das Internet ermöglicht eine Form von Kommunikation, die sich ständig selbst restrukturiert und neu konfiguriert: den Informationsraum. Der Sozialwissenschaftler Andreas Boes hat diesen Begriff geprägt und spricht im Interview darüber, was der Informationsraum für die Organisation und die Kultur von Unternehmen bedeutet. So viel sei schon verraten: Boes sagt, dass der Wandel nicht durch die technischen Möglichkeiten ausgelöst wird, sondern durch das, was Menschen aus den technischen Möglichkeiten machen. Indem Gruppen im Informationsraum Informationen frei miteinander teilen und miteinander agieren, indem sich solche Gruppen immer wieder neu bilden, verändern oder auflösen, können demokratischere, flexiblere Unternehmensformen entstehen, wird Unternehmensdemokratie möglich - aber nur, wenn genügend Menschen das entschieden genug einfordern. Andernfalls können sich auf der Grundlage des Informationsraums auch panoptische Unternehmen ausbilden. Unternehmen, in denen die Mitarbeiter ständig digital überwacht und bewertet werden. Unternehmen, in denen die subjektiv empfundene Freiheit eine Illusion bleibt.
Mitbestimmung in erster Person
Das demokratische Unternehmen wird zu einem Leitbild für intelligentes Management - ein Gespräch mit dem Jenaer Soziologen Klaus Dörre
Demokratie ist kein Geschenk und fällt nicht vom Himmel. Um sie muss gerungen werden. Sie kommt auch nicht auf einmal, sondern in Schüben. Und erweitert dabei nach und nach ihren Geltungsbereich in der Gesellschaft. Nun steht die Wirtschaft auf der Demokratisierungsagenda. Das demokratische Unternehmen avanciert gegenwärtig zu einem Leitbild für intelligentes Management und fordert die Managementbürokratien heraus. Es geht um Mitbestimmung in erster Person.
Interview: Winfried Kretschmer
Erst Bürgerrechte, dann politische Partizipationsrechte, dann soziale Rechte, zuletzt individuelle Beteiligungsrechte: Demokratisierung funktioniert in Schüben, sowohl in der Gesellschaft insgesamt als auch in Unternehmen. Davon ist der Soziologe Klaus Dörre überzeugt. Allerdings kommen die Schübe nicht von alleine, sondern müssen eingefordert werden. Der jüngste Schub der Unternehmensdemokratie - deliberative, also diskussionsbasierte Demokratie, die Mitbestimmung aller Mitarbeiter in erster Person - ist seit den 1990er-Jahren nicht wirklich weitergekommen, sogar teilweise zurückgenommen worden. Der Atem war nicht lang genug. Wo Konflikte entstanden und Mitarbeiter Forderungen an ihre Arbeitsbedingungen erhoben haben, bekam das Management Sorge, im globalen Wettbewerb nicht mehr bestehen zu können, und führte teilweise wieder neotayloristische Strukturen ein. Dabei wäre echte Mitarbeiter-Selbstbestimmung eine wertvolle Quelle, um die Produktionsintelligenz aller Mitarbeiter einzubinden und die Effektivität des Unternehmens zu erhöhen. Unternehmensdemokratie wird zu einem Leitbild für intelligentes Management. Durchsetzen wird sie sich aber nur, wenn Gewerkschaften, Verbände, die Politik - und nicht zuletzt die Mitarbeiter - sich dafür einsetzen.
Wissen einbeziehen
Der Trend zur Demokratisierung von Unternehmen verstärkt sich - ein Interview mit Isabell Welpe und Andranik Tumasjan
Unternehmensdemokratie ist plötzlich zum Thema geworden: Ein Trend, der sich verstärken wird. Sagen zwei Münchner Ökonomen. Und: Das demokratische Unternehmen ist kein Selbstzweck. Die Demokratisierung der Unternehmen ist eine Konsequenz der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Digitalisierung, der Wandel von Märkten und Kundenanforderungen und der generelle gesellschaftliche Wertewandel zwingen Unternehmen dazu, mehr Teilhabe zu ermöglichen und neue Wissensquellen zu erschließen. Durch demokratische Beteiligung.
Interview: Winfried Kretschmer
Angesichts von Digitalisierung und Wertewandel müssen Organisationen ihre Arbeitsweise überdenken. Unternehmensdemokratie ist daher in aller Munde - und wird von verschiedenen Unternehmen in verschiedenen Formen ausprobiert. Welche das sind, haben Isabell Welpe und Andranik Tumasjan von der TU München untersucht. Die Spannbreite reicht von rein beratenden und von der Unternehmensspitze bestimmten Mitarbeitergremien über die Wahl der Führungskräfte bis hin zur völligen Selbstbestimmung der Mitarbeiter, von befristeten Mitarbeiterbefragungen bis hin zur kontinuierlichen, institutionalisierten Teilhabe. Nur wenige besonders agile Unternehmen sind bereits über die Experimentierphase hinaus und haben funktionierende Formen der Unternehmensdemokratie etabliert. Insgesamt stellen Welpe und Tumasjan fest, dass Autonomie und Selbstbestimmung die Motivation der Mitarbeiter positiv beeinflussen und tendenziell zu besseren Entscheidungen führen. Über Unternehmensdemokratie wird daher sicher noch viel gesprochen - und daran gearbeitet - werden. Ein Trend, der sich in Zukunft noch verstärken wird.
Die langen Wellen der Demokratisierung
Ein Blick in die Geschichte zeigt: Die Bürgerrechte entwickelten sich in Schüben
Sind Demokratie und Freiheitsrechte etwas Feststehendes, eine historische Errungenschaft, die ihre Form nicht mehr entscheidend ändert? Oder entwickeln sie sich weiter, vielleicht sogar in Richtung auf ein Mehr an Freiheit und Demokratie?
Text: Winfried Kretschmer
Thomas Humphrey Marshall (1893-1981), Professor für Soziologie an der London School of Economics, entwickelte in seinem Werk Bürgerrechte und soziale Klassen eine Soziologie des Wohlfahrtsstaates, der auf dem Grundgedanken basierte, dass die Freiheitsrechte sich in Schüben entwickelten: die bürgerlichen Rechte im 18., die politischen Rechte im 19. und die sozialen Rechte im 20. Jahrhundert. Doch wenn sich die Freiheitsrechte über Jahrhunderte hinweg entwickelten, was bedeutet das für uns heute? Stehen wir am Anfang eines ausgedehnten Hochplateaus, wo es nur noch gilt, das Erreichte zu sichern? Oder wird die Entwicklung weitergehen? In Richtung einer direkten Beteiligung der Menschen an den Entscheidungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen - auch und gerade in Unternehmen? Das ist die Frage, die Marshalls Modell unweigerlich aufwirft. Unser Shortcut fasst zusammen.
Ein weites Experimentierfeld
"Unternehmensdemokratie ist eine echte Chance für die Zukunft der Arbeit" - ein Interview mit Andreas Zeuch
Werden Unternehmen jetzt demokratisch? In der Tat gibt es Anzeichen, dass der wachsende Trend zur Beteiligung der Mitarbeiter an Unternehmensentscheidungen mehr ist als ein weiterer Schritt in Richtung Selbstorganisation. Sondern sich einordnet in den Entwicklungsstrom der Demokratisierung, die nun einen der letzten gesellschaftlichen Bereiche erobert, in denen noch Anweisung und Kontrolle regieren: die Wirtschaft. Unternehmen eröffnen ein weites Experimentierfeld mit neuen Formen der Mitentscheidung und Partizipation.
Interview: Winfried Kretschmer
Ein Unternehmen ist dann demokratisch, wenn die Mitarbeiter ernsthaft in Entscheidungsprozesse eingebunden werden und dort mitbestimmen oder sogar selbst bestimmen können. Sagt Andreas Zeuch, Autor des neu erschienenen Buchs Alle Macht für niemand, einem entschiedenen Plädoyer für Unternehmensdemokratie. Für Zeuch die bessere Form der Organisation. Denn demokratisch verfasste Unternehmen haben zufriedenere, engagiertere Mitarbeiter, können oft ihre Ergebnisse verbessern und sind adaptiver. Vor allem aber tragen sie zum allgemeinen Trend der Demokratisierung der Gesellschaft bei. Und zu einem Kulturwandel: vom gegenseitigen Misstrauen hin zu Vertrauen, von rigider Planungsmentalität hin zu Ko-Kreativität, von kurzfristiger Gewinnmaximierung hin zu einer sozial und ökologisch verpflichteten, langfristig orientierten Wirtschaft. Unternehmensdemokratie ist also nicht nur eine Frage der Selbstorganisation, sondern ein politisches Statement.
Wir nennen es Wirtschaftsdemokratie
Es ist eine Frage des Menschenbildes, wie wir Wirtschaft organisieren - ein Interview mit Gernot Pflüger.
Ein anderes Unternehmen ist möglich. Gernot Pflüger leitet seit 19 Jahren eine Firma, die gänzlich anders organisiert ist: ohne Chef und ohne Hierarchie, mit einer demokratischen Beteiligung der Mitarbeiter an den Entscheidungen, totaler Transparenz aller Vorgänge und einem Einheitsgehalt für alle. Kurzum: als Wirtschaftsdemokratie.
Interview: Winfried Kretschmer
"Wenn jemand Chef zu mir sagt, dann ist das auf Deutsch gesagt ein Synonym für ‚Arschloch‘." Sagte Gernot Pflüger im Interview mit changeX im Jahr 2009. Damals war sein Buch Erfolg ohne Chef erschienen, in dem der Firmeninhaber beschreibt, wie es so läuft in seiner Firma, die gänzlich anders organisiert ist als herkömmliche Unternehmen. Damals war der Begriff "Unternehmensdemokratie" noch nicht erfunden, die Entscheidungsstrukturen und Prozeduren in dem Unternehmen gleichen denen, die heute unter dem Begriff diskutiert werden. "Das System, das wir bei uns praktizieren, haben wir Wirtschaftsdemokratie genannt", so Pflüger über sein Vorreiterunternehmen.
changeX 13.10.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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