Arbeit, unsichtbar
Nimmt man von der Arbeit nur das Offensichtliche, das Messbare, dann entsteht ein ziemlich schiefes Bild. Denn vieles an der Arbeit bleibt unsichtbar: Arbeit, die einfach nur getan, aber nicht bezahlt wird. Arbeit, die bezahlt wird, die aber niemand sieht. Beziehungen, und schließlich Gefühle, die das Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit erst ausmachen. Die Erscheinungsformen unsichtbarer Arbeit sind facettenreich. Eine Spurensuche. Von Mental Load bis Working Out Loud.
Manchmal braucht es neue Begriffe, um den Zusammenhang des Allzuvertrauten zu durchstoßen. Mental Load ist so ein Begriff. Mental Load bezeichnet die mentale Belastung, die entsteht, wenn sich die Verantwortung für die komplette Organisation von Haushalt und Familie auf eine Person konzentriert. In der traditionellen Rollenverteilung ist es meist die Frau, die die Last der Hausarbeit, Kindererziehung und Familienorganisation trägt und damit eine besondere Form von Belastung erfährt. Diese resultiere aus der Kombination zweier Faktoren, sagt die Buchautorin Patricia Cammarata, die das Thema Mental Load in ihrem Buch aufgearbeitet hat. Zum einen ist da die Summe der täglichen Aufgaben, die nie kleiner werdende To-do-Liste, die abgearbeitet werden muss, um das kleine Familienunternehmen am Laufen zu halten. Als belastend erfahren wird zweitens auch die geballte Verantwortung, die sich im tradierten Rollenmodell auf die Frau konzentriert. Beides wirkt zusammen. "Mental Load, das ist diese endlose To-do-Liste, die ständig vor sich hin rattert, auch wenn du abends auf dem Sofa sitzt", so Cammarata.
Ein dritter Faktor kommt hinzu. Das Konzept Mental Load, das durch den gleichnamigen Comic der französischen Zeichnerin Emma bekannt geworden ist, lenkt den Blick von den üblichen, täglich wiederkehrenden Haushaltstätigkeiten auf vorsorgende und fürsorgende Aufgaben. Aufgaben also, die Mitdenken, Vorausschauen, Planen und die intuitive Kenntnis sozialer Zusammenhänge erfordern. Es ist Herbst, passen den Kindern die Gummistiefel noch? Ist frische Wäsche im Turnbeutel? Welche Geburtstage stehen an? Was schenken wir? Und wie kommen die Kinder hin zur Einladung und wieder zurück? Mit solchen Beispielen veranschaulicht Cammarata ihre These, dass es vor allem dieses Planerische ist, das den Mental Load ausmacht.
Eine gewissermaßen unsichtbare Arbeit
Und dieses planende Moment ist es auch, das häufig nicht gesehen wird. "Ganz viele Tätigkeiten werden getan, ohne dass der Handelnde ausspricht, was er gerade tut. Es wird auch vieles koordiniert, ohne dass man die einzelnen Schritte formuliert", erläutert Cammarata. Diese koordinativen Tätigkeiten laufen automatisiert im Hintergrund ab. Eine neue Aufgabe kommt hinzu und muss in die bestehenden Aufgaben eingeordnet werden. "Dieser koordinative Anteil ist es aber, der die unsichtbaren To-dos zusammenhält. Dieser Prozess wird in der Regel nicht verbalisiert." Diese Arbeit bleibt unsichtbar.
Unsichtbar ist diese Arbeit aus unterschiedlichen Gründen. Es kann pure Ignoranz sein, die jemanden nicht sehen lässt, was ein anderer leistet, oftmals verbunden mit einer Überheblichkeit, die der Dominanz der eigenen Rolle entspringt, sei es des "Ernährers" oder des Chefs im beruflichen Kontext. Es kann auch Unkenntnis sein: Nicht zu wissen, was alles bedacht werden muss, damit eine Arbeit erfolgreich getan werden kann. Häufig ist es einfach auch mangelnde Anteilnahme oder mangelnde Aufmerksamkeit. Menschen, die selbst noch nicht mit einer Tätigkeit befasst waren, sehen oft nicht, was alles daran hängt. Hinzu kommt, dass viele Tätigkeiten routiniert und ohne großes Aufheben erledigt werden. Was selbstverständlich getan wird, wird von anderen nur zu gern übersehen. Der Punkt ist: "Es gibt eine gewissermaßen unsichtbare Arbeit, die auch deshalb wenig Wertschätzung genießt, aber doch sehr belastend ist", so Patricia Cammarata in unserem Interview.
Hier nun lässt sich die Perspektive erweitern. Denn das Konzept des Mental Load eignet sich nicht nur zur Beschreibung von Belastungsphänomenen in Haushalt und Familie. Cammarata überträgt Erkenntnisse aus der Projektarbeit auf den häuslichen Kontext. Dahinter steht die Einsicht, dass eine Familie im Grunde ein kleines Familienunternehmen ist. Diese Annahme lässt sich wiederum wenden: Das Konzept des Mental Load kann sich als hilfreich erweisen, um Belastungsphänomene in anderen kleineren Organisationseinheiten zu beschreiben. Dies betrifft Soloselbständige, Inhaber eines Ladengeschäfts, eines Gastronomiebetriebs oder andere Kleinunternehmer ebenso wie Macher und Kümmerer in Vereinen, Initiativen und anderen Organisationen.
Ihnen gemeinsam ist, dass sie allein zuständig sind für eine Fülle unterschiedlicher Tätigkeiten. Auch ihnen wird die erwähnte "ratternde To-do-Liste" nicht unbekannt sein. Vermutlich kennen viele, die allein für eine organisatorische Einheit zuständig sind und einen Großteil der anfallenden Arbeiten allein erledigen, das Phänomen des Mental Load: dass eine Vielzahl von Tätigkeiten mitsamt des damit verbundenen Koordinationsaufwands verantwortlich an einer Person hängt. Und sie erfahren auch, dass diese Arbeit oft nicht gesehen wird.
Eine Ökonomie der Fürsorge
Hier endet aber auch die Gemeinsamkeit. Diese erstreckt sich weitgehend auf den Mental Load als psychisches Problem der Überforderung. Das darf aber einen grundlegenden Unterschied nicht verwischen: Soloselbständige und Kleinunternehmer gehen einer auf Wertschöpfung angelegten wirtschaftlichen Tätigkeit nach. Für Hausarbeit, Kindererziehung und Familienorganisation gilt das nicht. Diese Arbeit ist unbezahlt.
Es sind eben nicht nur Ignoranz, Unkenntnis, Nachlässigkeit oder mangelnde Aufmerksamkeit, die dazu führen, dass Arbeit nicht gesehen wird. Es handelt sich vielmehr um eine systemische Schieflage, einen blinden Fleck in der gesellschaftlichen und ökonomischen Wahrnehmung. Es liegt an der besonderen Art der Arbeit in Haushalt und Familie. Hierbei geht es eben nicht um wirtschaftliche Wertschöpfung, nicht um die Erzielung eines Einkommens, sondern um Fürsorge und Care. Tätigkeiten des Pflegens und Sich-Kümmerns. Um Reproduktionsarbeit, die unbezahlt bleibt. Deswegen findet der Vergleich mit einem Familienunternehmen hier seine Grenzen.
Die neue Frauenbewegung hat unbezahlte Hausarbeit als gesellschaftlich notwendige und vor allem von Frauen geleistete Arbeit sichtbar gemacht. In ihrem grundlegenden Buch Die verkannten Grundlagen der Ökonomie, das bereits 2007 im englischen Original und soeben auf Deutsch erschienen ist, wendet sich die Sozial- und Systemwissenschaftlerin Riane Eisler gegen "das Ausblenden von Fürsorge und Care-Arbeit in der etablierten Wirtschaftstheorie und -praxis". Sie notiert: "Ohne Fürsorge und Care-Arbeit gäbe es keinen von uns. Es gäbe keine Privathaushalte, keine Arbeitskräfte, keine Wirtschaft - nichts davon. Und dennoch wird Fürsorge und Care-Arbeit in kaum einer der aktuellen Wirtschaftsdebatten auch nur erwähnt."
In ihrem Buch entwirft Eisler eine Caring-Ökonomie als neues Modell einer "realitätstauglichen Wirtschaft". Einer Wirtschaft, die die ganze unsichtbare Arbeit wieder hereinholt in den Zusammenhang des Wirtschaftens. Wirtschaft unter dem Aspekt der Fürsorge und Pflege neu zu denken - auch mit Blick auf die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, wie Eisler dies tut - ist ein zwingender und brennend aktueller Gedanke. Denn die "Entdeckung" der systemrelevanten Berufe war eine der großen Lehren aus der ersten Welle der Pandemie: von Krankenschwestern, Ärzten, Pflegekräften über Kassiererinnen, Verkäuferinnen bis hin zum Personal von Bahnen, Bussen, Straßenbahnen, die alle dafür sorgen, dass die gesellschaftlichen Systeme am Laufen bleiben.
Das Ganze umzudrehen und Wirtschaft nicht länger von der Wertschöpfung her zu denken, sondern von der Sorge für die Gesellschaft (und die Welt) her, ist ein aktuell ungemein wichtiger Impuls.
Mit dem Nicht-Sichtbaren umgehen
Mit der Caring Economy hat das Thema der unsichtbaren Arbeit theoretische Höhen erklommen. Aber auch auf der konkreten, alltagspraktischen Ebene werden bei näherer Betrachtung weitere Spielarten von unsichtbarer Arbeit deutlich.
Zum einen gibt es Tätigkeiten, die erst dann ins Blickfeld rücken, wenn etwas nicht funktioniert und sie nicht erledigt werden. Zum Beispiel, wenn nicht geräumt, gekehrt, gewischt wurde. Reinigungsdienste vor allem, Licht- und Tontechnik bei Veranstaltungen, viele Service-Dienstleistungen überhaupt zählen dazu. Cammarata: "Ganz viele Tätigkeiten sind so alltäglich, dass sie nicht gesehen werden. Wenn alles läuft, nimmt die Arbeit niemand wahr."
Zum anderen sind Menschen grundsätzlich schlecht darin, den tatsächlichen Arbeitsaufwand, der mit einer Aufgabe verbunden ist, vorab abzuschätzen. Auch das ist eine Form von Arbeit, die unsichtbar bleibt. Oft wird der wirkliche Aufwand erst bei der Arbeit selbst deutlich: Wenn man damit begonnen hat. Das gilt für Tätigkeiten, die nicht einem festgelegten Ablauf folgen, besonders aber gilt es dann, wenn es kompliziert oder komplex wird. Vor allem komplexe Aufgabenstellungen zeichnen sich dadurch aus, dass vorab noch nicht feststeht, was zu ihrer Lösung alles erforderlich ist. Für diese Form von Arbeit braucht es keine Anweisungen, sondern Experten. Sie sind Meister darin, mit dem Nicht-Sichtbaren umzugehen.
Und nicht zuletzt bekommen (drittens) Managementmethoden vielfach gar nicht in den Blick, wovon sie eigentlich handeln: von Arbeit und ihrer Organisation. Deduktiv werden Methoden und Best Practices verordnet, ohne zu schauen, um welche konkrete Arbeit es sich eigentlich handelt. Das gilt exemplarisch auch für Zeitmanagement. In der entsprechenden Literatur werden die immer gleichen Prinzipien deduziert, ohne zu thematisieren, wie die Tätigkeiten und die Workflows im Arbeitsalltag der Menschen denn konkret aussehen. Eine deduktiv angewendete Managementlehre bekommt Arbeit nicht in den Blick. Diese bleibt unsichtbar. Sichtbar sind Methoden, Tools, Konzepte.
Das Wesentliche an der Arbeit ist unsichtbar
Arbeit, die unsichtbar ist - dieser Gedanke führt aber noch weiter: zu einem grundlegenden Verständnis von Arbeit schlechthin. Arbeit ist unsichtbar ist der - zugespitzte - Titel einer Ausstellung und des Buchs dazu. Zugespitzt deshalb, weil natürlich Arbeit nicht komplett unsichtbar ist. Sondern, und das ist die These: Unsichtbar bleibt das, was Arbeit ausmacht. Was ihr Wesen bestimmt.
Diesem Unsichtbaren an der Arbeit widmet sich die Ausstellung Arbeit ist unsichtbar im Museum Arbeitswelt im österreichischen Steyr. Kuratiert von Harald Welzer (wissenschaftliche Leitung) und Robert Misik (redaktionelle Leitung) befasst sie sich mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unserer Arbeitswelt. Zur Ausstellung ist ein Buch gleichen Titels erschienen, das mehr ist als ein bloßer Katalog. Es ist eine Fundgrube an Dokumenten und Einsichten zur Arbeit. Es eröffnet eine neue Perspektive auf den Gegenstand und will "eine neue Geschichte" erzählen: die Geschichte der unsichtbaren Arbeit. Unsichtbare Arbeit umfasst, so die Autoren, "all das, was auch mit Arbeit verbunden ist: Motivation, Angst, Statusgewinn, Eigensinn, der Stolz auf Fertigkeiten oder auch das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Kollegenschaft, der Stress und die Überforderung". Das alles aber, so die These, sei das Wesentliche an der Arbeit: das, was sie entscheidend ausmacht. Das bedeutet zugespitzt: "Das Wesentliche an der Arbeit ist unsichtbar."
Die Kernaussage: "Wenn wir einen Blick auf eine Fabrik werfen, sehen wir: Maschinen, Produktionsabläufe. Menschen, die Tätigkeiten verrichten. Produkte und Konsumgüter, die ausgeliefert werden. Und vieles mehr. Aber das, was Arbeit ausmacht, sehen wir meist nicht. Menschen arbeiten, um ihr Einkommen zu verdienen. Aber sie wollen auch Anerkennung: Für ihre Fähigkeiten. Sie sind stolz auf ihr Können. Ihr Beruf trägt bei zu ihrer Identität. Sie kooperieren und entwickeln einen Geist der Kollegialität. Im Betrieb gibt es offene Hierarchien und versteckte Konkurrenz untereinander. Es gibt sichtbare Regeln, aber immer auch die unsichtbare Bereitschaft, Regelverletzungen zu akzeptieren. Es gibt Zwänge, aber zugleich auch die Autonomie jedes Beschäftigten", so die Autoren und Ausstellungsmacher.
Arbeit, die ein Mensch wirklich will
Diese unsichtbare Geschichte handelt auch davon, wie Menschen ihre Arbeit mitgestalten, sie handelt auch von den Handlungsspielräumen, die sich ihnen trotz Anweisung und Kontrolle bei der Arbeit eröffnen. Denn die Geschichte der industriellen Arbeit werde durch eigensinnige Aneignungsprozesse mitgestaltet. Arbeitende "erfüllen nicht einfach abstrakte Anforderungen, sondern eignen sich diese an und antworten mit eigensinnigen Ausgestaltungen darauf" und realisieren so zugleich Handlungsspielräume für sich. "Die Struktur der Fabrik, des Büros ist nicht einfach nur vorgegeben, sie wird von denen, die an diesen Orten arbeiten, immer auch verändert und mitgeprägt."
Das ist zweifellos richtig. Die Organisationssoziologie und die Forschungen zur Ausbildung von Jobprofilen (Job Crafting) bestätigen das. Etwas vermessen erscheint aber die Idee der Ausstellungsmacher und Autoren, die Geschichte der Arbeit gleich neu schreiben zu wollen. Dabei hängen sie stark an einem industriellen Modell von Arbeit, verkörpert vom "Mann an der Maschine" oder der "Frau in der Fertigungsstraße" und dem "Produkt, das aus deren Arbeit entsteht". Das mag auch durch den Ausstellungsort, das Museum zur industriellen Arbeit in Steyr, geprägt sein. Aber durch diese Industriebrille betrachtet geraten neuere Entwicklungen in der Arbeitsforschung und Organisationssoziologie nicht in den Blick.
Etwa wenn Harald Welzer reklamiert, "wie und warum und mit welchen Gefühlen die Menschen ihre Arbeit tun, wie sie Eigensinn und Selbstverständnis in ihrer Tätigkeit entwickeln, ja, was überhaupt ihr subjektiver Beitrag zur Arbeit ist", sei kaum jemals Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung gewesen. Was so pauschal natürlich nicht stimmt. Dabei bleibt die lange Forschungstradition zur Arbeitszufriedenheit einfach ausgeblendet, ebenso die Forschungen zu Flow und zum subjektiven Erleben von Arbeit wie auch zum Thema Job Crafting, wo es genau darum geht, wie Arbeitende ihren Job formen und gestalten, statt nur vorgegebene Anforderungen zu erfüllen. Nicht anders die Arbeiten im weiten Feld von New Work.
Richtig ist aber auch, dass die betriebswirtschaftlich geprägte Managementlehre von dieser anderen Seite von Arbeit nur wenig wissen wollte und will. Für sie steht der formale Bereich von Arbeit im Vordergrund, den sie gestaltet, prägt und zu optimieren sucht. Arbeit in dem genannten wertschöpfenden Sinne. Die unsichtbare Arbeit bleibt für sie unsichtbar.
Auch wenn New Work - aus welchem Grund auch immer - im Buch nicht vorkommt, wäre genau hier die Brücke zu schlagen. Als Frithjof Bergmann Ende der 1970er-Jahre den Begriff New Work entwickelte, ging es ihm ja gerade darum, die Verhältnisse umzukehren und Arbeit als sinnstiftende Tätigkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Neue Arbeit, das sollte Arbeit sein, die nicht länger auf Lohnarbeit reduziert ist. Sondern Arbeit, die für den Menschen Mittel ist, sich verwirklichen zu können. Bergmanns Definition bringt das auf den Punkt: New Work ist die Arbeit, die ein Mensch wirklich will.
Arbeit ist nur ein Gefühl
Zwei Beobachtungen Welzers in seinem kurzen Aufsatz zur unsichtbaren Arbeit verdienen indes, festgehalten zu werden. Sie betreffen die Wertschätzung von und die Wertschöpfung durch Arbeit. Zwei Thesen:
Erstens ist durch diese unsichtbaren subjektiven Dimensionen der industriellen Arbeit nicht zuletzt "die Wertschätzung der Arbeit entstanden, die wir heute für ganz normal halten", die es vor der Industrialisierung aber überhaupt nicht gab.
Zweitens wäre Arbeit ohne dieses Unsichtbare nichts weiter als eine wertschöpfende Tätigkeit, die Menschen unter der Maßgabe größtmöglichen Ertrags ausführen. "Dass die Menschen es genau damit aber nicht bewenden lassen, sondern sich diese Aufgaben aneignen, die vorgegebenen Bedingungen mit eigenem Sinn nutzen und anfüllen, macht die Arbeit nicht nur wertschöpfend im wirtschaftlichen Sinn, sondern auch im psychologischen und sozialen Sinn."
Nicht zuletzt handelt das Buch vom Gefühl, das immer mit Arbeit verbunden ist. Wiederum zugespitzt heißt es: "Arbeit ist nur ein Gefühl." Auch hier lässt sich eine Brücke schlagen. Diese Betonung der emotionalen Seite von Arbeit spiegelt sich in aktuellen Debatten um Unternehmenstransformation und organisationalen Wandel. Denn auch wenn es um den Umbau von Organisationen geht, steht häufig ein instrumentelles Verständnis im Vordergrund. Es geht dann um Methoden, Tools, Organisationsmodelle, nicht aber um das emotionale Verhältnis der Menschen zu ihrer Arbeit und nicht um die Gefühle im Team.
Auf dieses Missverhältnis haben die Berliner Organisationsberaterinnen Joana Breidenbach und Bettina Rollow hingewiesen. Sie haben einen maßgeblichen Grund für das Scheitern von Organisationsentwicklungen identifiziert: Diese konzentrieren sich beinahe alle "auf die äußere, sichtbare Dimension des Wandels". Sprich die Veränderung von Rollen, Regeln und Strukturen. Doch jede maßgebliche Veränderung in der Außenwelt brauche eine entsprechende Veränderung im Innenleben der einzelnen Menschen, betonen die Autorinnen. Das bedeutet, die subjektiven Empfindungen und Wahrnehmungen der Mitarbeitenden ins Zentrum der Veränderung zu stellen. Nur wenn beides - "Außen und Innen, objektive Strukturen und subjektive Erfahrungen" - in einen Zusammenhang gebracht wird, kann Veränderung funktionieren, sagen die beiden Autorinnen. Ihr Buch beleuchtet den blinden Fleck in der Organisationsentwicklung, die oftmals zu sehr auf die äußere Dimension, auf Strukturen und Modelle abstellt.
Darüber reden, miteinander sprechen
Und noch einen Bezug zur aktuellen Themenlinien hat das Nachdenken über die unsichtbaren Dimensionen von Arbeit. Was unsichtbar ist, was nicht gesehen wird, darüber wird auch nicht gesprochen. So hat Patricia Cammarata deutlich gemacht, dass Care-Arbeit auch deshalb unsichtbar bleibt, weil Menschen selten verbalisieren, was sie tun, planen und organisieren. Sondern das einfach tun. Über die Arbeit und ihre Aufteilung zu sprechen, ist dann auch der Rat der Autorin an Paare, die die Ungleichverteilung der Arbeitsbelastung angehen und zu einer gerechten Aufteilung der Tätigkeiten finden wollen. "Mental Load reduzieren geht nicht ohne ständiges Verhandeln und Miteinandersprechen."
Darüber sprechen, das gilt auch in Organisationen. Wenn Breidenbach und Rollow sich dafür einsetzen, in Organisationen auch das Innen, das subjektive Erleben in den Blick zu nehmen, so geht das nur, indem darüber gesprochen wird. Es gilt also, bei der Entwicklung einer Organisation geschützte Räume zu schaffen, wo dies möglich ist. Auch im Modell der vier Räume, mit dem die Münchner Innovationsbegleiter von creaffective in ihrem Buch Future Fit Company die Dimensionen einer Organisation erfassen, sind zwei Räume für die Personen und ihre Interaktion reserviert. Um darüber zu reden.
Eine letzte Spur. Das Darüber-Reden führt zu einem Ansatz, der in den letzten Jahren einen gewissen Hype ausgelöst hat, vor allem in Großorganisationen: Working Out Loud. Die Grundidee in unseren Kontext gestellt: Weil Arbeit in unterschiedlichen Dimensionen unsichtbar bleibt, gelte es, "laut" zu arbeiten, also die Mitarbeitenden wissen zu lassen, woran man gerade arbeitet, was einen dabei beschäftigt und welche Probleme auftreten. Letzten Endes geht es dabei auch darum, gesehen zu werden. Gesehen werden bedeutet, Anerkennung zu erfahren. Und wechselseitige Anerkennung ist die Grundlage von Beziehungen.
Laut arbeiten
Aber eins nach dem anderen. Hervorgegangen ist der Begriff Working Out Loud, wie der "Erfinder" John Stepper in seinem soeben erschienenen gleichnamigen Buch berichtet, aus einem Wortspiel. Ausgangspunkt ist das Akronym "LOL", das im Netzjargon für Laughing Out Loud steht und als Reaktion auf etwas Lustiges oder Außergewöhnliches verwendet wird. Im Jahr 2006 erschien ein Post, der LOL paraphrasierte: "Thinking and Working Out Loud", das war für den Blogger Glyn Moody die Begründung fürs Bloggen. Ein weiterer Post (von Bryce Williams) erweiterte dann die Bedeutung mit einer kurzen und einfachen Definition: "Working Out Loud = beobachtbare Arbeit + von der Arbeit berichten".
John Stepper, damals Mitarbeiter einer Bank, griff den Gedanken dann auf und entwickelte ihn weiter, zunächst zu einem Konzept für die Arbeit, später dann zu einer grundlegenderen Arbeits- und Lebenshaltung. Working Out Loud heißt für ihn "Arbeiten in einer offenen, großzügigen, vernetzten Art und Weise, die es Ihnen ermöglicht, ein sinnvolles soziales Netzwerk aufzubauen, effektiver zu werden und Zugang zu mehr Möglichkeiten zu erhalten". Das beginne mit der Sichtbarmachung der Arbeit, führe aber weit darüber hinaus. Letztlich geht es Stepper darum, offener und vernetzter zu arbeiten und damit ein Netzwerk aufzubauen. Anders gesagt geht es um die Beziehungen bei der Arbeit. Also genau um den Bereich, der in Arbeit ist unsichtbar als das Wesentliche von Arbeit beschrieben wird. Um den Bereich, der von der überkommenen ökonomischen Lehre ausgeblendet wird. Es geht also, wenn man so will, um unsichtbare Arbeit. Und darum, das Unsichtbare sichtbar zu machen.
Zitate
"Ganz viele Tätigkeiten sind so alltäglich, dass sie nicht gesehen werden. Wenn alles läuft, nimmt die Arbeit niemand wahr." Patricia Cammarata im Interview
"Ohne Fürsorge und Care-Arbeit gäbe es keinen von uns. Es gäbe keine Privathaushalte, keine Arbeitskräfte, keine Wirtschaft - nichts davon. Und dennoch wird Fürsorge und Care-Arbeit in kaum einer der aktuellen Wirtschaftsdebatten auch nur erwähnt." Riane Eisler: Die verkannten Grundlagen der Ökonomie
"Gefühle, Emotionen spielen am Arbeitsplatz eine zentrale Rolle." Robert Misik, Christine Schörkhuber, Harald Welzer: Arbeit ist unsichtbar
"Arbeit sichert nicht nur das Überleben, sondern gibt Selbstbewusstsein, eigenen Sinn, erlaubt soziale Gemeinschaft, liefert Gelegenheiten zum Unterlaufen der gegebenen Strukturen, lässt Solidarität entstehen, gemeinsame politische Ziele und Strategien zu ihrer Erreichung." Harald Welzer, in: Arbeit ist unsichtbar
"Working Out Loud = beobachtbare Arbeit + von der Arbeit berichten" Definition von Bryce Williams, in: John Stepper: Working Out Loud
"Working Out Loud heißt Arbeiten in einer offenen, großzügigen, vernetzten Art und Weise, die es Ihnen ermöglicht, ein sinnvolles soziales Netzwerk aufzubauen, effektiver zu werden und Zugang zu mehr Möglichkeiten zu erhalten." John Stepper: Working Out Loud
changeX 03.11.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Quellenangaben
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© Coverabbildungen: Verlage Beltz, Büchner, Murmann, Picus, Vahlen
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Fundstellen der Zitate: Die Zitate von Patricia Cammarata stammen aus unserem Interview mit ihr. Übrige Zitate: Die verkannten Grundlagen der Ökonomie: 9, 19; Arbeit ist unsichtbar: 10, 11, 12, 43, 69, 198, 200; Working Out Loud: 31, 32
Zu den Büchern
Patricia Cammarata: Raus aus der Mental Load-Falle. Wie gerechte Arbeitsteilung in der Familie gelingt. Mit Illustrationen von Teresa Holtmann. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2020 2020, 224 Seiten, 17.95 Euro (D), ISBN 978-3-407-86632-5
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Riane Eisler: Die verkannten Grundlagen der Ökonomie. Wege zu einer Caring Economy. Büchner-Verlag, Marburg 2020, 234 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-96317-215-1
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Robert Misik, Christine Schörkhuber, Harald Welzer: Arbeit ist unsichtbar. Die bisher nicht erzählte Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Arbeit. Picus Verlag, Wien/New York 2018, 240 Seiten, 24 Euro (A), ISBN 978-3-7117-2068-9
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Joana Breidenbach, Bettina Rollow: New Work needs Inner Work. Ein Handbuch für Unternehmen auf dem Weg zur Selbstorganisation. Verlag Franz Vahlen, München 2019, 152 Seiten, 19.80 Euro (D), ISBN 978-3-8006-6137-4
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Florian Rustler, Nadine Krauss, Jens Springmann, Daniel Barth, Isabela Plambeck: Future Fit Company. Individuelle Trainingspläne für Macher, Entscheider und Veränderer. Murmann | Haufe, Freiburg 2019, 311 Seiten, 29.95 Euro (D), ISBN 978-3-648-12559-5
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John Stepper: Working Out Loud. Wie Sie Ihre Selbstwirksamkeit stärken und Ihre Karriere und Ihr Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten. Franz Vahlen Verlag, München 2020, 259 Seiten, 24.90 Euro (D), ISBN 978-3-8006-6281-4
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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