Genug ist genug
Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Aber es gibt im Falschen eine richtige Richtung, sagt ein Schriftsteller. Das Richtige tun und das Falsche lassen, lautet die Maxime. Das bedeutet: Konzentration auf das Wesentliche. Weglassen, was nicht fehlt. Das rechte Maß finden. Nicht Verzicht ist gefragt, sondern Orientierung an dem, was man wirklich braucht, was wesentlich ist. Eine Umkehrung der Perspektive.
Weniger scheint das Gebot der Stunde in einer Welt, die sich mit dem Streben nach immer mehr in eine Sackgasse manövriert hat. Denn wie sollte es auch gehen ohne weniger, wo aus dem Mehr längst ein Zuviel geworden ist? Zu viel Emissionen, zu viel Abfall, zu viel Ressourcenverbrauch.
Und doch haftet dem Weniger ein Stigma an, eine fatale Konnotation, die die Wahrnehmung bestimmt: Weniger = Verzicht. Beinahe reflexhaft stellt sich diese Assoziation ein, sobald von einer Reduzierung die Rede ist. In der Steigerungslogik des Immer-mehr markiert das Erreichte eine rote Linie, hinter die ein Zurück kaum möglich scheint. Eine Steigerung noch erfährt der drohende Verzicht durch das Verbot, das zu seiner Durchsetzung im Raum steht. Beide sind die Wahrer des Status Quo. Sie sichern den Fortbestand der Steigerungslogik. So prägend ist dieses Muster, dass ein Weniger, ein Abschied vom ständigen Wachstum gar unter dem Verdacht steht, den Menschen etwas wegnehmen zu wollen, was sie sich verdient und worauf sie einen Anspruch haben.
Das zeigt, wie durchdringend die Wachstumslogik unsere Welt prägt. In einer Wachstumswelt aber gibt es immer nur Zuwächse. Wachstum, das Mehr ist das bestimmende Muster.
Konzentration auf das Wesentliche
Das ist der Kontext. Doch davon handelt dieses Buch nicht, nicht direkt. Es handelt von einem selbst, dem Autor, der Leserin, dem Leser. Vom einzelnen Individuum also, der einzigen Person, in deren Macht es steht, die Logik des Immer-mehr zu durchbrechen. Möglich scheint dies nur, wenn es gelingt, das Koordinatensystem zu verschieben, in dem die Bedürfnisse und Gewohnheiten und die damit verbundenen Begriffe und Werte verortet sind.
Eben das tut der Schriftsteller, Dramaturg und passionierte Langstreckenschwimmer John von Düffel in seinem mitreißenden Buch Das Wenige und das Wesentliche. Es geht darin darum, seine Bedürfnisse neu zu bestimmen. Neu zu justieren, was wirklich wesentlich ist. Der Ausgangspunkt ist dabei ein anderer als der hier als Einstieg gewählte Bezug zur Wachstumsdebatte. Der Autor kommt genau aus der anderen Richtung. Nicht dem Immer-mehr gilt sein Augenmerk, auch nicht dem Verzicht. Er kommt von der Askese her. Sie ist sein Einstieg. Askese, das sei in wenigen Worten "die Übung der Konzentration auf das Wesentliche". Die Antwort auf die Frage, worauf es ankommt.
Askese ist Düffels zentrales Thema, aber nicht in dem gewohnten esoterisch-weltabgewandten Verständnis eines Lebens in Keuschheit, Armut und Abgeschiedenheit, in einer kargen Gemeinschaft mit Gelübden, Fasten, Schweigen, Pilgerschaft, wie ein Standardwerk die asketische Lebenspraxis beschreibt. (*) Für John von Düffel ist dies das alte Modell, die "Hungerkunst". Die moderne Askese hingegen ist für ihn "die einzige Antwort auf das Zuviel des Konsums" - und Konsum ist der einzige Punkt, an dem Düffels Entwurf das Thema Wachstumsökonomie und Überflussgesellschaft berührt, und auch dies nur in der subjektiven Perspektive des Konfrontiertseins mit einem Zuviel an Konsumangeboten. Es geht in seinem Buch nicht um Ökonomie und Gesellschaft, sondern um den Einzelnen und seine Orientierung im Leben und dessen Ausrichtung. Natürlich ist das politisch, aber eben nicht im vordergründigen Sinn.
Aber es ist die Antwort. Obwohl es von der anderen Richtung her kommt, bietet das Buch auch eine Antwort in der Verzichtsdebatte: Nicht Verzicht ist gefragt, sondern Orientierung an dem, was man wirklich braucht. Das Buch stellt die Frage, was wirklich wesentlich ist. Im Leben, oder vielleicht auch für einen bestimmten Zweck. "Wegzulassen, was nicht fehlte", ist die Kunst. Ein Weniger an Konsum ist so gesehen keine Einschränkung. Sondern eine Befreiung von Unwichtigem. Askese emanzipiert sich damit vom Verzichtsdenken. Es geht um eine Umkehrung der Perspektive.
Das Richtige tun und das Falsche lassen
Von Düffel nennt sein Werk ein Stundenbuch und stellt es damit in eine Reihe sowohl mit Rainer Maria Rilkes Gedichtzyklus gleichen Titels wie den Stundenbuch genannten spätmittelalterlichen Gebets- und Andachtsbüchern. Ein Vergleich mit diesen historischen Vorläufern scheint die Absicht des Autors zu unterstreichen. Wie in diesen geht es um eine Besinnung. Doch waren die als Anleitung fürs Stundengebet dienenden Bücher überbordend illustriert und aufwändigst gestaltet. Im Vergleich dazu verkörpert Düffels Buch geradezu seinen Titel: schmucklos, geradlinig, reduziert auf eine klare, schnörkellose Sprache.
Es ist ein Buch mit je einem Kapitel für die lichten, die wachen Stunden eines Tages, beginnend in aller Frühe mit der fünften und endend nach Einbruch der Dunkelheit mit der achtzehnten Stunde. Eine Wanderung am Neujahrsmorgen im italienischen Torre Superiore bildet den erzählerischen Rahmen für den Gedankengang des Buches. Zwei philosophische Bezüge und zwei große Erzählungen ordnen es ein in die Geschichte des Denkens, des Nachdenkens über den Menschen. Hier ganz kurz skizziert:
Die Geschichte des Ödipus, die erste Erzählung, führt von Düffel zu einer elektrisierenden Interpretation. Nicht von der Unentrinnbarkeit des Schicksals handele diese Geschichte, "sondern von der Frage nach sich selbst". Diese Frage zieht sich auch durch den Mythos des Sisyphos, der zweiten großen Erzählung, die der Autor einflicht. Sie handelt von der Unerreichbarkeit des Gleichgewichts und entwickelt daraus eine Haltung des Handelns, des Dennoch, ganz im Sinne von Camus und der Existenzphilosophie. Diese bildet den ersten philosophischen Bezugspunkt: Nicht Negation, sondern Bejahung steht im Mittelpunkt. So wie Sisyphos für sich mit seinem Stein ins Reine kommen muss, so ist es auch mit der Frage des richtigen Maßes. Und hierin liegt im Grunde auch die Antwort auf die zweite philosophische Grundfrage, die nach dem richtigen Leben, kondensiert in Theodor W. Adornos Sentenz, es gebe kein richtiges Leben im falschen. Der Einwand des Autors: "Aber es gibt im Falschen eine richtige Richtung". Es gelte, "das Richtige zu tun und das Falsche zu lassen".
Aber wie das Richtige finden? Es sind die alten und sich immer wieder von Neuem stellenden Grundfragen des Lebens, um die dieses Buch kreist. Die Antwort liegt für den Autor im Bestimmen des richtigen Maßes, im Maßhalten. Nicht in der Maßlosigkeit des Konsums und nicht in der Anmaßung der Unsterblichkeit wie in Ray Kurzweils Transhumanismus-Phantasien liegt die Zukunft, sondern in der Beschränkung. Nicht als verordnete Maßnahme, die wiederum als Verzicht in Erscheinung treten würde, sondern als eine Frage der eigenen Haltung. Der eigenen Entscheidung. Während der Asket der Vergangenheit sich von allem Irdischen lossagte, findet der Asket der Zukunft im richtigen Maß seinen Maßstab: Darum geht es: "Das Maß zu finden, das mir entspricht".
"Genug ist das Wenige
Wenn es wesentlich ist"
(*) Axel Michaels: Kunst des einfachen Lebens. Eine Kulturgeschichte der Askese, Verlag C.H.Beck, München 2004, 200 Seiten, ISBN 978-3406511073
Zitate
"Der Asket der Zukunft verzichtet nicht / Er löst sich vom Unwichtigen" - John von Düffel: Das Wenige und das Wesentliche
"Weniger ist nicht mehr / Genug ist genug" - John von Düffel: Das Wenige und das Wesentliche
"Genug ist das Wenige / Wenn es wesentlich ist" - John von Düffel: Das Wenige und das Wesentliche
"Genug ist das Maß / Das mir entspricht" - John von Düffel: Das Wenige und das Wesentliche
changeX 05.04.2023. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
John von Düffel: Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch. DuMont Buchverlag, Köln 2022, 160 Seiten, 23 Euro (D), ISBN 978-3832182205
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.