Um die Ecke denken
Es ist in, in Systemen zu denken. Zu sehen und zu analysieren, wie alles ineinandergreift. Vergessen wird dabei oft, dass komplexe soziale Systeme paradox organisiert sind. Ein Buch begibt sich auf die Spuren des Widersprüchlichen.
Die Systemtheorie ist bekanntermaßen eine Art Schweizer Taschenmesser - ein Allzweckwerkzeug zur Analyse aller möglichen Dinge. Indem sie so vertraute Phänomene wie Politik, Liebe oder Fußball als Systeme betrachtet und deren Funktionsweise entschlüsselt, ermöglicht sie auch dem systemtheoretischen Laien immer wieder originelle Einsichten in ungeahnte Zusammenhänge.
Diese Universalität und Originalität beweist auch Fritz B. Simons neues Buch Wenn rechts links ist und links rechts. Darin hat der Systemtheoretiker, Psychotherapeut und Professor für Führung und Organisation an der Universität Witten/Herdecke einige seiner Aufsätze und Vorträge aus den letzten Jahren gebündelt. Sie handeln von so Unterschiedlichem wie Familientherapie und Politikberatung, Kunst und Terrorismus, aber auch von der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise.
Leitmotiv all dieser Texte ist der Begriff der Paradoxie. Simon hält die Paradoxie, also die logische Widersprüchlichkeit, im Anschluss an Gregory Bateson und Niklas Luhmann für das grundlegende Organisationsprinzip funktionell differenzierter Systeme. Denn diese resultierten letztlich, so die Idee, aus der Unmöglichkeit des Einzelnen, verschiedene erforderliche oder geforderte Handlungen gleichzeitig auszuführen. Ist ein Einzelner zum Beispiel mit den Aufforderungen "Baue ein Auto" und "Verkaufe ein Auto" konfrontiert, steckt er in der Zwickmühle: Tut er das eine, kann er das andere (zumindest gleichzeitig) nicht tun. Richten sich diese Aufforderungen dagegen an eine Organisation mit den Abteilungen A (Produktion) und B (Vertrieb), gibt es kein logisches Problem. Der Vorteil eines Systems ist, so Simon, "dass die so geformten Untereinheiten logisch konsistent und widerspruchsfrei handeln können ... trotz der paradoxen Handlungsaufforderungen, denen das übergeordnete Gesamtsystem ausgesetzt ist".
Kein System ohne Paradoxie
Das aber bedeutet umgekehrt, dass ein System keine Funktion mehr hat, sobald es nicht mehr mit derartigen Paradoxien konfrontiert ist. Und genau diese Situation sieht Simon mit Blick auf die gegenwärtige Politik gegeben: "Die ... Krise der Politik, der Gesellschaft (und so weiter) lässt sich damit erklären, dass der Staat seine hierarchische Überordnung gegenüber den anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen verloren hat", schreibt er in einem der Aufsätze. Mit ihr sei die Möglichkeit verbunden gewesen, paradoxe Konflikte zwischen den widersprüchlichen Zielen dieser Subsysteme aufrechtzuerhalten: "Denn nur die Paradoxie gewährleistet, dass es logisch unentscheidbar bleibt, zugunsten welcher Seite bei Interessengegensätzen zu entscheiden ist. Und nur deswegen muss (!) entschieden werden."
Soll heißen: Nur wo sich Entscheidungen nicht zwingend ergeben, kann überhaupt von echten Entscheidungen die Rede sein. Wenn Politik nur noch in der Ausführung zwangsläufiger Entscheidungen besteht, ist Politik keine Politik mehr, dann hat sie jeden Handlungs- und Entscheidungsspielraum verloren und ist nur noch Erfüllungsgehilfe. Deshalb besteht die Aufgabe der Politik für Simon nicht nur darin, "kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen, sondern auch die Notwendigkeit des Konflikts über diese Entscheidungen zu erhalten: die logische Unentscheidbarkeit, wie die legitimen, aber gegensätzlichen Interessen aller Beteiligten jeweils aktuell zu gewichten sind". Wenn Politik also zunehmend von "alternativlosen Entscheidungen" redet, schafft sie sich selbst ab. Politik, so Simon, sei also "immer auch und vor allem Paradoxiemanagement".
Gedankliche Flexibilität zur Bewältigung von Komplexität
So wie hier im Bereich der Politik weist Simon auch in vielen anderen Bereichen der Paradoxie und dem Umgang mit ihr eine entscheidende Rolle zu. Dabei wird der Begriff der Paradoxie bisweilen etwas arg strapaziert, und wohl nur eingefleischte Systemtheoretiker und Konstruktivisten werden allen Argumentationen ohne Stolpern folgen können. Doch Simons Buch lässt sich selbst dann mit Gewinn lesen, wenn man seiner Paradoxiethese nicht bedingungslos zustimmt.
Ganz abgesehen von dem gedanklichen Feuerwerk, das dieser systemtheoretische Rundumschlag produziert, ist es ein überzeugendes Plädoyer für gedankliche Flexibilität zur Bewältigung von Komplexität. Simons Ausdruck "um die Ecke denken" trifft es ganz gut: Gefragt sind das Drehen und Wenden von Problemen, das Einmotten der Scheuklappen und die Einsicht, dass die Lösung manchmal in einer Doppelstrategie (x tun und y nicht lassen) oder einer Mischung (ein wenig x und ein wenig y) liegt.
Lob der Langeweile
Wie das aussehen kann, zeigt Simon unter anderem am Beispiel der "Noiologie" - wie er das neue Fachgebiet der Langeweileforschung getauft hat. Allen negativen Konnotationen zum Trotz singt Simon der Langeweile nämlich ein Loblied. Dessen Refrain lautet: "Wer anderen ohne Not die Langeweile nimmt, bestiehlt sie um eine wichtige Ressource." Statt die Langeweile achtlos und möglichst schnell zu vernichten, mahnt Simon zur Ernte der Erkenntnisse, die dieses Phänomen birgt. Letztlich verweise Langeweile nämlich "auf ein Sinndefizit. Und hierin liegt ihr kaum zu überschätzendes Veränderungspotenzial. Denn wer ihr und den mit ihr verbundenen Qualen entgehen will, muss etwas gegen sie tun." Langeweile als Motivation - wenn das mal nicht paradox ist ...
changeX 10.04.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Fritz B. Simon: Wenn rechts links ist und links rechts. Paradoxiemanagement in Familie, Wirtschaft und Politik. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2013, 264 Seiten, 29.95 Euro, ISBN 978-3-89670-884-7
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Autor
Dominik FehrmannDominik Fehrmann ist freier Journalist in Berlin. Er schreibt als freier Mitarbeiter für changeX.