Der U-Turn
Theorie U, das heißt die Blickrichtung ändern, einen U-Turn in der Wahrnehmung vollziehen: nicht vom Bestehenden her, sondern von der entstehenden Zukunft her denken. Nun gibt es das Praxisbuch dazu. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, die eigenen Denkmuster zu öffnen und ein neues, stärker gemeinwohlorientiertes Wirtschaftssystem aufzubauen.
Die Führungs- und Kontrollmechanismen, die im 20. Jahrhundert noch funktioniert haben, scheitern angesichts der erhöhten Komplexität von Wirtschaft und Gesellschaft zusehends. Dass eine neue Form von Unternehmensführung nötig ist, darüber sind sich viele Unternehmer, Wirtschaftswissenschaftler und Organisationsentwickler einig. Auch politische Führungskräfte können angesichts einer immer stärker Partizipation fordernden Bürgergesellschaft nicht mehr weitermachen wie bisher.
Aber wie soll die neue Gesellschaft und Wirtschaft aussehen, und auf welchen Wegen kann sie erreicht werden? Mit diesen Fragen beschäftigen sich Otto Scharmer, Gründer des Presencing Institute am MIT in Cambridge, Massachusetts, und Katrin Käufer, Gründungsmitglied an diesem Institut, seit 18 Jahren. Ergebnis ihrer Erfahrungen mit Veränderungsworkshops für Führungskräfte, zahlreicher Gespräche und Forschungen ist die "Theorie U", die Scharmer in seiner gleichnamigen Publikation vorgestellt hat. Nun gibt es den Praxis-Band dazu. Von der Zukunft her führen. Theorie U in der Praxis heißt das Buch, das nun im Carl-Auer Verlag in deutscher Sprache erschienen ist.
Von der Egosystem- zur Ökosystem-Wirtschaft
Und natürlich findet sich auch dort die Theorie U kurz zusammengefasst: Dauerhafte positive Veränderungen sind nur möglich, wenn nicht Bestehendes umgebaut wird, sondern entstehende Keime der bestmöglichen Zukunft wahrgenommen und gefördert werden. Dazu muss jeder Beteiligte erst einmal sein Umfeld und sich selbst beobachten, muss Bestehendes hinterfragen, muss neu denken und fühlen. Ein durchaus spiritueller Prozess, der dem Bedürfnis vieler Führungskräfte nach Selbstfindung und sinnerfüllter Tätigkeit entgegenkommt. Erklärtes Ziel ist eine Gesellschaft und Wirtschaft, deren Strukturen das Gesamtwohl der Menschheit und des Ökosystems Erde nachhaltig fördern: eine Ökosystem-Wirtschaft.
Scharmer und Käufer unterscheiden nämlich vier Stufen in der Entwicklung von Wirtschaftssystemen: 1.0 ist die merkantilistische, vom Staat gelenkte Wirtschaft, 2.0 der reine von Eigeninteressen bestimmte Kapitalismus (Egosystem-Wirtschaft), 3.0 die soziale Marktwirtschaft, in der verschiedene Interessengruppen wie Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und Staaten miteinander um ihre jeweiligen Partikularinteressen ringen, und 4.0 ist die angestrebte Ökosystem-Wirtschaft. Hier bestehen private und kollektive Besitz- und Unternehmensformen gleichberechtigt nebeneinander und sind allesamt auf die Förderung des Menschheitsglücks und die Erhaltung der natürlichen Ressourcen ausgerichtet. Das ordnet sich ein in die Bewegung vom Ich zum Wir, von der Konkurrenz zu Kooperation und Empathie.
Von der Theorie zur Praxis
Das vorliegende Buch ist ein praktischer Ratgeber, wie die Theorie U von Führungskräften und anderen Verantwortungsträgern umgesetzt werden kann - wobei letztlich jeder Mensch Verantwortungsträger ist. In acht Kapiteln schildern die Autoren zunächst die bestehenden Probleme von Wirtschaft und Weltgemeinschaft, spüren ihren strukturellen Ursachen und den diesen zugrunde liegenden Wirtschaftsmodellen nach und suchen nach positiven Zukunftsmöglichkeiten. Grafiken und Tabellen illustrieren dabei die jeweiligen Aussagen klar.
Nach dieser Bewegung von außen nach innen folgt die "Umstülpung" von innen nach außen, bei der zuerst Persönlichkeit, dann Beziehungen, dann Strukturen einem tief greifenden Wandel unterzogen werden: von der Ausrichtung auf das eigene Ich zur Ausrichtung auf das "Wir", vom Gefangensein in den eigenen Denkmustern und Vorstellungen hin zu Empathie für die anderen - und für die tiefste eigene Intuition, die Stimme des zukünftigen bestmöglichen Selbst. In drei Phasen vollzieht sich diese Öffnung: (1) "Beobachte, beobachte, beobachte", (2) "Suche den Ort der Stille und lass das innere Wissen hochkommen" und (3) "Greife den Funken der Zukunft und beginne sie unmittelbar im Tun zu erkunden".
Gelingt dies, können auch die wirtschaftlichen Strukturen von "Ego" auf "Öko" umgekrempelt werden und in "co-kreativen" Gruppen neue Formen von Unternehmen oder gesellschaftlichem Engagement entstehen, sofort in Prototypen verwirklicht und permanent durch Feedback verbessert und erweitert werden.
Lebhafte Schilderungen von persönlichen Erfahrungen der Autoren sowie weiterer engagierter Persönlichkeiten illustrieren, wie ein solcher Prozess konkret aussehen kann. Zuletzt schildern die Autoren ihr Wunschprojekt einer globalen vernetzten "U.School", die Veränderungsprozesse anregt und moderiert. Jedes Kapitel endet mit konkreten Übungen, die ein Umdenken und dann ein Neu-Handeln des Lesers zum Ziel haben.
Leidenschaftliches Plädoyer
In klarer Struktur in gut verständlicher Sprache geschrieben, ist das Buch angenehm und zugleich fesselnd zu lesen. Das große Engagement und die Leidenschaft der Autoren, mit der sie eine bessere Zukunft heraufbeschwören, sind ansteckend und ermutigend.
Dass alternative Interpretationen von Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklungen und alternative Zukunftsvisionen gar nicht erst diskutiert werden, braucht nicht weiter zu stören, denn in diesem Buch geht es nicht um die Theorie, sondern um die Umsetzung. Nicht ums "Was", sondern ums "Wie". Es ist Ratgeber und leidenschaftliches Plädoyer zugleich.
Zitate
"Je radikaler sich unsere Umwelt verändert, desto weniger können wir uns auf existierende Denk- und Handlungsmuster verlassen und desto besser müssen wir lernen, unserem werdenden Selbst von der Zukunft her zu begegnen, ihm von dort entgegenzulaufen." Otto Scharmer und Katrin Käufer: Von der Zukunft her führen
"Ein Großteil des 20. Jahrhunderts wurde für einen falschen Diskurs verschwendet: Märkte versus Regierung, Kapitalismus versus Sozialismus. (…) Die Antwort auf ,entweder/oder‘ ist ,sowohl als auch‘." Otto Scharmer und Katrin Käufer: Von der Zukunft her führen
"Der U-Prozess des Lernens von der entstehenden Zukunft vollzieht diese Öffnung mit den drei Phasen: ‚Beobachte, beobachte, beobachte‘, ‚Suche den Ort der Stille und lass das innere Wissen hochkommen‘ und ‚Greife den Funken der Zukunft und beginne sie unmittelbar im Tun zu erkunden‘." Otto Scharmer und Katrin Käufer, Von der Zukunft her führen
changeX 23.10.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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C. Otto Scharmer, Katrin Käufer: Von der Zukunft her führen. Von der Egosystem- zur Ökosystem-Wirtschaft - Theorie U in der Praxis. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2014, 332 Seiten, 44 Euro, ISBN 978-3-8497-0042-3
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Autorin
Ute WielandtUte Wielandt ist freie Texterin in Ingolstadt. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.