Alternativen zur Linie
Vernetzung statt Autorität, miteinander statt top-down, Teams statt Einzelkämpfer - Führung muss konsequent neu gedacht werden. Eine Dissertation zeigt, warum das althergebrachte Führungsverständnis nicht mehr funktioniert, spürt alternativen Führungskonstrukten nach und zeigt, wie Unternehmen flexibler und agiler geführt werden können.
Klare Hierarchieebenen und Autoritätspersonen, die Anweisungen von oben nach unten durchdrücken - das war gestern. In einer Zeit sich rasant verändernder wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Paradigmen müssen Führung und damit der komplette Aufbau einer Organisation ganz neu gedacht werden. Brauchen wir wirklich noch einen Chef? Oder erschweren autoritäre Führungspositionen und starre Hierarchiekonstrukte nicht viel eher die dynamische, agile Entwicklung einer Organisation? Führt zu restriktives Führungsdenken langfristig sogar zum Untergang des Unternehmens? Und wie muss Führung in Zeiten des stetigen Wandels und zunehmender Transparenz gestaltet sein?
Diesen und weiteren Fragen geht Jan Christopher Pries in seiner Dissertation Führung in Netzwerkorganisationen nach, mit der er 2016 den akademischen Grad des Doctor rerum naturalium am Institut für Psychologie und Kognitionsforschung der Universität Bremen erlangt hat. Seine These: "Die zunehmende Popularität der Netzwerkorganisation und der in ihr gelebten Führung in Theorie und Praxis könnte den Beginn einer neuen Epoche der organisierten Zusammenarbeit markieren." Und das Potenzial dieses Moments gelte es für die Gestaltung der Arbeitswelt zu nutzen.
Linienhierarchie versus Netzwerkorganisation
Pries zufolge steht vor allem die Linienhierarchie im Verdacht, den dynamischen Wirtschaftsanforderungen nicht mehr gewachsen zu sein. Sie sei, mit ihrem Ursprung im Militär, zur Blaupause für Organisationen im 19. und 20. Jahrhundert und zum Erfolgsmodell in der industriellen Massenproduktion geworden. Auf den gegenwärtigen Veränderungsdruck könne sie aber nicht die passenden Antworten finden. "Um die Diskrepanz zwischen der Umweltdynamik und der internen Verfasstheit zu kompensieren, sind verschiedene Strategien zu beobachten: Typischerweise wird die Linienhierarchie um eine Projektstruktur ergänzt oder es werden bereichsübergreifende Arbeitsgruppen ins Leben gerufen", erklärt Pries.
Auf diese Weise solle Flexibilität gewonnen und ein intensiverer Austausch zwischen den Unternehmensbereichen angeregt werden. Diese Ansätze kompensieren die niedrige Reaktionsgeschwindigkeit und fehlende Agilität hierarchischer Systeme zu einem gewissen Grad. Die grundlegenden Spannungen zwischen den sich wandelnden Rahmenbedingungen und den auf Stabilität ausgerichteten Linienhierarchien können dadurch allerdings nicht aufgelöst werden, so der Autor. "Vor diesem Hintergrund werden derzeit Alternativen zur Linienhierarchie gesucht." Vor allem größere Firmen beschreiten dabei Wege, die sich durch Konzepte wie Öffnung und Vernetzung charakterisieren lassen.
Vernetzte Formen der Zusammenarbeit statt Führung?
Während klassische Führungstheorien die organisationalen Aktivitäten durch zentralisierte Führungsfunktionen planen und steuern wollen, gilt vor allem das Netzwerk als Alternative mit dem Potenzial, den Herausforderungen der zunehmenden Vernetzung in Gesellschaft und Märkten gewachsen zu sein. "Netzwerkorganisationen gelten als lösungsorientierte Systeme mit hoher Eigendynamik. Mit der zunehmenden Vernetzung und der hierarchieübergreifenden Kommunikation geht eine Dezentralisierung der Führungsmacht einher." So werden Unternehmen agiler, flexibler und innovativer.
In der radikalsten Ausprägung gehen die Forderungen nach alternativen Führungsformen so weit, Führung als überflüssig zu deklarieren. "Führung sei im Zeitalter digitaler Zusammenarbeit und in Organisation mit gut ausgebildeten Mitarbeitern nicht notwendig und könne durch vernetzte Formen der Zusammenarbeit substituiert werden", erläutert Pries die Position einiger seiner Kollegen. Andere Theoriestränge kritisieren die Autorität einzelner Führungspersonen und den internen Wettbewerb um Macht und Mittel.
Pries selbst will sich in seiner Arbeit aber gar nicht auf eine Seite schlagen. Vielmehr schließt er mit seinem Gesamtüberblick über das noch recht junge Forschungsfeld der Führung in Netzwerkorganisationen eine Forschungslücke. "Die Arbeit fokussiert auf die Forschungsfrage, wie Führung in Netzwerkorganisationen zu konzipieren ist", erklärt Pries. Damit stehe sie vor zwei Herausforderungen: Als Erstes müsse ein theoretisches Konzept von Führung in Netzwerkorganisationen formuliert werden. Danach gelte es, die Wahrnehmung von Praktikern hinsichtlich der Führungskonzepte zu verstehen.
Sehnsucht nach einer humaneren Zusammenarbeit
Dazu gibt Pries einen Überblick über die relevanten Theorien zu adäquaten Führungskonzepten in Netzwerkorganisationen und legt dar, wie Netzwerkorganisationen aus organisationspsychologischer Perspektive theoretisch gefasst werden können. Im dritten Kapitel behandelt Pries die organisationspsychologische Führungsforschung und untersucht, welche Konsequenzen der Organisationstyp der Netzwerkorganisation hinsichtlich Führung mit sich bringt. Anschließend wird die Erhebung organisationsspezifischer Führungskonzepte erläutert und die subjektive Wahrnehmung von Führung in Netzwerkorganisationen behandelt. Im letzten Kapitel gleicht Pries die theoretischen Erkenntnisse mit den empirischen Befunden ab und zeigt künftige Forschungsbedarfe auf.
Sein Fazit greift den emphatischen Gestus vieler Diskussionen über organisationalen Wandel auf: "Die Wahrnehmung von Führung in Netzwerkorganisationen wirkt in einigen Aspekten undifferenziert positiv und utopistisch. Führung in Netzwerkorganisationen wird nicht als zweckgebundene organisationale Ressource konstruiert, sondern vielmehr durch eine Sehnsucht nach einer humaneren Zusammenarbeit bestimmt."
Zitate
"Die Führungstheorie kritisiert das Ideal allwissender und autoritärer Führungskräfte. Die Aufgaben von Führung verschieben sich vom Planen und Steuern hin zur Moderation des Teams und Coachingleistungen." Jan Christopher Pries: Führung in Netzwerkorganisationen
"Die Förderung von Kreativität und Innovationsfähigkeit wird (…) zu einer wichtigen Aufgabe von Führung erklärt. Partizipation und Kooperation lösen in Netzwerkorganisationen den unproduktiven internen Wettbewerb und den ausschließlichen Fokus auf den eigenen Bereich ab. Ziele werden beispielsweise nicht im Konkreten durch die Führung vorgegeben, sondern gemeinsam entwickelt und angepasst." Jan Christopher Pries: Führung in Netzwerkorganisationen
"Eine weitere Frage ist die, wie Führung die Transformation von Linienhierarchien zu vernetzten Organisationen gestalten kann. Ein solcher Übergang greift tief in das Selbstverständnis der Führungskräfte ein. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Tatsache, dass sich die Machthorizonte der Führungskräfte verschieben." Jan Christopher Pries: Führung in Netzwerkorganisationen
"Sicher ist: Die zunehmende Popularität der Netzwerkorganisation und der in ihr gelebten Führung in Theorie und Praxis könnte den Beginn einer neuen Epoche der organisierten Zusammenarbeit markieren. Das Potential dieses Moments gilt es für die Gestaltung der Arbeitswelt zu nutzen." Jan Christopher Pries: Führung in Netzwerkorganisationen
changeX 19.01.2018. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Jan Christopher Pries: Führung in Netzwerkorganisationen. Organisationspsychologische Perspektiven. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2018, 160 Seiten, 19.95 Euro, ISBN 978-3-8497-9008-0
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Autorin
Katharina LehmannKatharina Lehmann ist freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.