Auf das Unerwartete einstellen
Die Krise hat viele Ursachen. Deren wichtigste: die Verschiebung der weltwirtschaftlichen Gewichte zwischen China und den USA. Ihre gravierendste Folge ist wachsende Ungewissheit. Die Welt sollte sich auf das Unerwartete einstellen.
Februar 2007, Vorwahlkampf in den USA. Frage eines New Yorkers an die Präsidentschaftsanwärterin Hillary Clinton: „Wir verlieren so viele Jobs an die chinesische Konkurrenz, warum können wir China nicht härter angehen?“ Die heutige Außenministerin antwortete mit einer Gegenfrage: „Wie wollen Sie Ihren Banker hart angehen?“
700 Milliarden Dollar hat die Volksrepublik in amerikanischen Staatspapieren angelegt; insgesamt dürften sich die Investitionen des Landes in den USA auf mehr als eine Billion Dollar belaufen, rechnet Nikolaus Piper vor. Und illustriert so eine gravierende Verschiebung der weltwirtschaftlichen Gewichte: Die reichste Nation der Erde war zum größten Kapitalimporteur, das größte Schwellenland zum größten Kapitalexporteur geworden. China und Amerika agierten gleichsam wie ein siamesisches Zwillingspaar, sie verhielten sich „wie eine einzige, die Welt dominierende Volkswirtschaft ...: Die eine Seite produzierte, die andere konsumierte; die eine sparte, die andere verschuldete sich.“ Ausgehend von diesem globalen Ungleichgewicht nahm die große Krise, so Piper, „ausgerechnet den Umweg über den Markt für Eigenheime in den Vereinigten Staaten“ – dort, wo mit Krediten besonders sorglos umgegangen wurde und Geld besonders schnell umgeschlagen wurde.
Staatsversagen und Marktversagen.
Nikolaus Piper, Wirtschaftskorrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York, war am Ort des Geschehens, als die Krise begann. Einen Finanzmakler fragte er auf einer Party, worüber denn an der Wall Street so gesprochen werde, und erhielt als Antwort jenes Wort genannt, das bald in aller Munde sein sollte: Subprime. Er hat mit Kreditnehmern gesprochen, die übers Ohr gehauen wurden, mit Politikern, die den Märkten freie Bahn ließen, er war auf Pressekonferenzen mit den führenden Akteuren und hat mit führenden Ökonomen gesprochen. Das ist der Stoff, aus dem sein Buch, für das er den Wirtschaftsbuchpreis 2009 erhalten hat, schöpft: Kleine Geschichten, reportageförmig erzählt wie für die „Seite Drei“ seines Blattes, die dann jäh auf die Ebene der Weltwirtschaft katapultiert werden, wo sie als Beleg für die ökonomischen Verwicklungen dienen, die in ihrem Zusammenwirken letztlich diese Krise, „die große Rezession“ ausgelöst haben. Piper zeichnet diese wirtschaftlichen Wechselwirkungen präzise nach, arbeitet die Ursachen heraus und ordnet ein. Das tut er wohltuend differenziert, ohne überschießende Dramatisierung und schnelle Schuldzuweisungen.
Differenziert auch seine Erklärung der Krisenursachen: „Der Staat hat die Finanzmärkte unzureichend beaufsichtigt und das Geld zu billig gemacht (Staatsversagen), aber diese Marktaufsicht ist ja nur deshalb notwendig, weil die Finanzmärkte inhärent instabil sind (Marktversagen).“ Es ist eine der gravierendsten Folgen dieser Krise, dass sich die Gewichte zwischen Markt und Staat verschoben haben. Der Glaube an die Selbstregulierungskräfte des Marktes ist zusammengebrochen, „der Staat als aktiver Gestalter auf die Weltbühne zurückgekehrt“. In der staatlichen Regulierung der Finanzmärkte liegt für den Autor auch ein Ansatzpunkt, die Krise in den Griff zu bekommen. Finanzmärkte bedürften wegen ihrer Instabilität der Regulierung, nicht nur einmalig, sondern fortwährend – das aber mit Maß! Piper geht es – wohltuend ideologiefern – darum, das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft neu auszutarieren. Jegliches Risiko eliminieren zu wollen ist gefährlich. Denn „eine Wirtschaft, in der niemand mehr Risiken eingeht, erstarrt“.
Nüchtern ist auch Pipers Blick auf die Energiefrage, die in der öffentlichen Debatte allzu sehr unter dem Aspekt des Klimaschutzes thematisiert wird. Der Autor verweist demgegenüber auf die ökonomischen und geopolitischen Dimensionen: Wenn der Energieverbrauch Chinas so weiter wachse wie bisher und derjenige der USA auf dem derzeitigen Stand bleibe, es also nicht gelinge, die beiden Staaten in eine globale Strategie des Energiesparens einzubinden, dann sei „die nächste Wirtschaftskrise programmiert“. Nicht die einzige Gefahr in einer aus den Fugen geratenen Weltwirtschaft.
Ein gefährliches Jahrzehnt.
Die Welt tritt in ein gefährliches Jahrzehnt ein, sagt Piper. Was vor Kurzem noch selbstverständlich schien, ist es nicht mehr. Stabiles, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, die Voraussetzung dafür, dass die Staaten ihre immensen Schulden zurückzahlen können, ist längst nicht in Sicht. „Stattdessen beginnt eine Phase extremer Unsicherheit. Die Wirtschaftspolitik bewegt sich auf völlig neuem, unerforschtem Terrain.“ Alles scheint möglich, eine lange Stagnationsphase ebenso wie eine zweite Rezession, die ausbrechen könnte, bevor die erste zu Ende ist. „Die Welt sollte sich auf das Unerwartete einstellen.“
changeX 11.12.2009. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Nikolaus Piper: Die große Rezession. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft. Carl Hanser Verlag, München 2009, 300 Seiten, ISBN 978-3-446-41952-0
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.