Aus Erfahrung klug?
Erfahrung sei die beste Lehrmeisterin, sagt der Volksmund. Sie sei die Lehrmeisterin derer, die nicht in der Lage sind, aus dem angesammelten Wissen vorhergehender Generationen zu schöpfen, halten andere dagegen. Auch für Organisationen ist das Erfahrungslernen ein zweischneidiges Schwert. Denn nicht immer ist klar, was wirklich zum Erfolg geführt hat und welche Lehren Nachahmer daraus ziehen sollten - die Krux jeder Best Practice.
Unternehmen müssen sich, wollen sie überleben und langfristig erfolgreich sein, ständig neu an die sich verändernde Umwelt anpassen. Doch das ist nicht immer einfach. Es gibt zahlreiche Beispiele für das Anpassungsversagen von Organisationen. So sind die gescheiterten Versuche von Wirtschaftsunternehmen, erfolgreiche Praktiken von anderen Firmen nachzuahmen, ein immer wiederkehrendes Thema in der Organisationsforschung. Doch warum scheitern Unternehmen, wo andere erfolgreich sind? Warum reicht es nicht, Handlungen einfach zu kopieren? Wie lernen Organisationen aus ihren Erfahrungen und aus denen anderer?
Diesen Fragen geht der amerikanische Organisationstheoretiker und Managementforscher James G. March in seinem Werk Zwei Seiten der Erfahrung auf den Grund. Sein Interesse gilt der Frage, "wie Organisationen intelligenter werden können", so der Untertitel. Denn Organisationen streben nach Intelligenz. Und das ist kein banales Ziel, weiß March. "Das vorliegende Buch befasst sich mit einem einzelnen Aspekt des Strebens nach Intelligenz - mit dem Bemühen, Lehren aus den sich entfaltenden Episoden des Lebens zu ziehen. Organisationen und die einzelnen Menschen in ihnen bemühen sich um Verbesserungen, indem sie über ihre Erfahrungen nachdenken und darauf reagieren." Doch es sind eben nicht nur die eigenen Erfahrungen, aus denen Organisationen lernen wollen, sondern sie versuchen auch immer wieder, die Erfahrungen anderer zu adaptieren. Und das geht nicht immer reibungslos vonstatten.
Denn Erfahrungen seien häufig mehrdeutig, oft sei unklar, welche Lehren aus ihnen abzuleiten sind, und Außenstehende könnten nur schwer ermitteln, welchen Beitrag das Erfahrungslernen zu langfristigen Verbesserungen in Organisationen leistet, warnt March.
Das Lernen im Fokus
"Bewundernswerte Organisationen werden als ‚lernende Organisationen‘ bezeichnet; es gibt zahlreiche Berater, die Methoden für ein besseres und differenzierteres Lernen empfehlen; und bei vielen neueren Vorschlägen für die Verbesserung von Organisationen wird das Erfahrungslernen betont." So sind sowohl Individuen als auch Organisationen stets eifrig bemüht, durch Erfahrung an Intelligenz zu gewinnen. Doch die Schlussfolgerungen, die auf diesem Eifer beruhen, sind häufig fehlgeleitet. "Die Probleme hängen zum Teil mit korrigierbaren Fehlern menschlichen Schlussfolgerns zusammen, aber mehr noch mit Eigenschaften der Erfahrung, die das Lernen daraus erschweren", mahnt March.
Denn Lernen aus Erfahrung ist keineswegs der einzige Mechanismus des Lernens. Tatsächlich wird der Großteil des individuellen und organisationalen Wissens nicht durch Lehren erworben, die aus dem normalen Ablauf von Leben und Arbeit gezogen werden. Es wird von Experten durch systematische Beobachtung und Analyse erzeugt, durch Autoritäten vermittelt und von den Empfängern akzeptiert (oder abgelehnt), ohne dass es durch direkte Erfahrungen bestätigt wird. Es spiegelt in einem allgemeinen Sinn eher Theoriewissen als Erfahrungswissen wider. "Trotzdem wird das Erfahrungslernen in der zeitgenössischen Literatur über Organisationen weiterhin als eine der wichtigeren Quellen der Adaption beim menschlichen Handeln betrachtet, als ein Mechanismus, durch den sich die Handlungen von Einzelnen oder von Organisationen besser an die äußeren Bedingungen, denen sie begegnen, anpassen lassen."
Zwei Seiten der Medaille
So rückt auch March die "zwei Seiten der Erfahrung" immer wieder in den Fokus, betrachtet sowohl die Vorzüge als auch die Grenzen und Nachteile des Lernens durch Erfolgswiederholung - im Sinne von Lernen durch Versuch und Irrtum, durch Imitation von Handlungen, die bereits erfolgreich waren, und durch Selektion, bei der Attribute reproduziert werden, die mit Erfolg verknüpft sind -, geht auf die Möglichkeiten des Lernens aus Geschichten und Modellen ein und betont das Spannungsfeld zwischen der Generierung von Neuem und der Anpassung an Bestehendes als Feind alles Neuen.
Dabei helfen ihm drei ziemlich unterschiedliche wissenschaftliche Traditionen:
Die wissenschaftliche Organisationsforschung, die sich insbesondere auf die Wirtschaftswissenschaft, Psychologie, Managementforschung, Soziologie und Politikwissenschaft stützt und zum überwiegenden Teil kartesianisch, naturwissenschaftlich und analytisch ausgerichtet ist, legt großes Gewicht auf die formale Analyse von Daten und das Überprüfen von Hypothesen, die Anwendung von Modellen und den "Beweis" von Theoremen.
Die Tradition der wissenschaftlichen Arbeiten zum Storytelling, zu Narrativ und Mythos, die sich vor allem auf die Literatur und Geschichtswissenschaften, die Anthropologie und Linguistik, aber auch die Rechtswissenschaften und die Religion stützt, betont besonders die Nuancen von Sprache, Metaphern und die Ausarbeitung von Bedeutung.
Und die Tradition der wissenschaftlichen Erforschung von Anpassungsprozessen, die stark auf die Evolutionsbiologie und psychologische Ideen über das menschliche Lernen fokussiert, betont vor allem die Merkmale von Anpassungsmechanismen in Organismen, Spezies, Technologien, Organisationen, Wirtschaftsbranchen und Gesellschaften.
Wie können Organisationen auf intelligente Weise lernen?
Die Kapitel dieses Buches, das in der Reihe Management/Organisationsberatung im Carl-Auer Verlag erschienen ist, schöpfen aus allen drei Traditionen, aber sie konzentrieren sich auf ein eng begrenztes Thema: Wann und wie lernen Organisationen auf intelligente Weise aus ihren Erfahrungen? Welche Möglichkeiten und Probleme sind damit verbunden? Dabei unterscheidet March in "low intellect learning" und "high intellect learning", spielt vielfältige Möglichkeiten und Unmöglichkeiten durch, aus Erfahrungen zu lernen, weist auf die notwendige Kombination des Gegensatzpaares "exploitation" und "exploration" hin, spricht sich für eine "utopische Intelligenz" aus und zeigt auf, warum Ideen nicht nur durchdacht, sondern auch nachvollziehbar und schön sein sollten. Lesenswert.
Zitate
"Wie kaum ein Zweiter hat er die Theorie des Entscheidens geprägt und dadurch nicht nur die heutige Organisationstheorie maßgeblich beeinflusst, sondern auch beständig kreative Anstöße für Management- und Beratungsansätze geliefert." Torsten Groth im Vorwort über James G. March
"Was derzeitige Empfindlichkeiten betrifft, sind wenige Ideen so sakrosankt wie die Vorstellung, dass der Mensch sein Leben in den Griff bekommt, indem er aus seinen Erfahrungen lernt. Einzelne und Organisationen versuchen, ihre Chancen zu verbessern, indem sie ihre Erfahrungen beobachten und darauf reagieren, zum Teil durch elementare Bemühungen, erfolgsträchtige Handlungsweisen zu wiederholen, zum Teil durch besser ausgearbeitete Bemühungen, die Ergebnisse ihrer Entwicklungsgeschichte in akzeptable Kausalzusammenhänge zu bringen. Erfahrung wird verehrt; Erfahrung wird gesucht; Erfahrung wird gedeutet." James G. March: Zwei Seiten der Erfahrung
"Praktiken, Formen und Regeln, die mit guten Ergebnissen assoziiert sind, überleben länger und pflanzen sich stärker fort als Praktiken, Formen und Regeln, die mit schlechten Ergebnissen assoziiert sind." James G. March: Zwei Seiten der Erfahrung
"Die menschlichen Fähigkeiten zum Speichern und Abrufen von historischen Ereignissen sind begrenzt. Der Mensch ist anfällig dafür, Erinnerungen so zu konstruieren, dass sie aktuellen Wünschen und Bedürfnissen dienen." James G. March: Zwei Seiten der Erfahrung
"Der Mensch verzerrt Beobachtungen ebenso wie Überzeugungen, damit sie zueinander passen. Er bevorzugt einfache Kausalzusammenhänge." James G. March: Zwei Seiten der Erfahrung
changeX 25.11.2016. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
James G. March: Zwei Seiten der Erfahrung. Wie Organisationen intelligenter werden können. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2016, 125 Seiten, 24.95 Euro, ISBN 978-3-8497-0119-2
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Autorin
Katharina LehmannKatharina Lehmann ist freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.