Mit System

Das Lexikon des systemischen Arbeitens, herausgegeben von Jan V. Wirth und Heiko Kleve
Rezension: Winfried Kretschmer

Irgendwie mit Systemtheorie - weiter reicht das Verständnis des systemischen Ansatzes oft nicht. Helfen kann da ein neues Lexikon zum Fachgebiet, das sowohl einen Einblick in das Wesen wie einen umfassenden Überblick über Theorie, Methoden und Praxis des systemischen Arbeitens bietet.

cv_lexikon_syst_arbeitens_140.jpg

Wo System draufsteht, da ist auch System drin. Diese grundlegende Erwartung erfüllt das Lexikon des systemischen Arbeitens gleich in mehrfacher Hinsicht. Denn das Werk bietet einen weit gefassten Überblick wie auch eine zusammenfassende Einführung in das Wesen systemischen Arbeitens. Es ist zweitens systematisch angelegt. Und es enthält nicht zuletzt auch einen sehr grundlegenden Artikel zum Thema System, den Dirk Baecker verfasst hat. Der Begriff des Systems fasziniere zum einen, schrecke zum anderen aber auch ab, so Baecker, weil unklar sei, "ob sich der Zusammenhang der beschriebenen Elemente der Geschicklichkeit des Autors oder der Ordnung des Sachverhalts verdankt".  

Diese Skepsis scheint indessen auch die Autoren des Werks umzutreiben. Denn sei zunächst ein Kompendium der "101 Grundbegriffe" geplant gewesen, boten sich, wie die Herausgeber Jan V. Wirth und Heiko Kleve im Vorwort schreiben, im Verlauf der mehrjährigen Arbeitszeit dann mehr und mehr Begriffe an, deren erreichten Endstand von 141 die beiden Herausgeber nun, wie sie eingestehen, als "mehr als unzureichend" empfinden.  

Theoretisch gewendet: Wenn Edwin Czerwick unter dem Stichwort "Komplexität" in Anlehnung an Niklas Luhmann schreibt, diese sei "sowohl für eine begriffliche Wiedergabe als auch für eine forschungsmäßige Verwendung zu komplex", so gilt Gleiches offenbar auch für den Gegenstand dieser mit gut 500 Seiten doch recht stattlich geratenen Lexikonpublikation, das systemische Arbeiten. Allerdings sollte man diese Unzufriedenheit mit der Ordnung der Sachverhalte nicht zu tragisch nehmen, denn das Lexikon bietet einen hervorragenden Überblick und theoretischen Tiefgang gleichermaßen.


Abhängigkeit bis Zirkuläres Fragen


Der Umfang des Werks kommt dadurch zustande, dass es die Autoren nicht bei einem kurzen lexikalischen Stichwort belassen, sondern den - selbst wiederum komplexen - Sachverhalten eine Würdigung angedeihen lassen, die einen soliden Einstieg in die Thematik eröffnet. So beginnt jeder Beitrag mit einer Kurzdefinition und Hinweisen auf anderssprachige Begriffsverwendungen, bietet eine reflektierte Beschreibung von Theorie, Methodik und/oder Praxis und endet mit meist recht umfassenden Literaturhinweisen. Die Texte selbst enthalten eine Fülle von Querverweisen auf andere Lexikonartikel und verschränken so die Themen systematisch.  

Das Lexikon vereint Begriffe aus unterschiedlichen Dimensionen systemischen Arbeitens: Unter dem Oberbegriff "Methodik" sind Methoden behandelt, die in der alltäglichen systemischen Praxis Verwendung finden - von der Familien-Map bis zur VIP-Karte oder der Wunderfrage. "Praxis" steht für Phänomene wie Abhängigkeit, Individuation bis Trauma. Unter "Theorie" schließlich finden sich Grundbegriffe wie Gruppe und Zeit ebenso wie die theoretischen Schwergewichte Kontingenz, Ambivalenz und Komplexität.  

Diese Untergliederung der Beiträge ist jedoch bloß systematischer Natur, keine Gliederung des Buches. Hat man die Stichwörter in der lexikalischen alphabetischen Abfolge vor sich, ist die Zuordnung zum einen oder anderen Bereich oftmals keineswegs klar - eine Uneindeutigkeit, die theoretisch wiederum im Stichwort "Ambivalenz" aufgearbeitet ist: als das Mindeste nämlich, womit man bei den gegenwärtigen Weltverhältnissen rechnen müsse. So lassen sich Stichworte wie Ambivalenz, Kontingenz und Komplexität durchaus als - theoretisch anspruchsvoll abgehandelte - Bausteine eines modernen Weltverständnisses nach dem Ende der Gewissheiten lesen.


Ich bin der Beobachter


Mitunter wird man auch unerwartet fündig. So findet sich in Fritz B. Simons Text zum Thema "Zirkuläres Fragen" Grundlegendes zum Phänomen des Beobachters (das als nicht eigenes Stichwort auftaucht): "Sozialsysteme entstehen, wenn Beobachter sich gegenseitig beobachten und ihr Verhalten koordinieren." Das tun sie, da niemand direkten Zugang zur Psyche eines anderen hat, indem sie ihr Verhalten interpretieren, ihm also Bedeutung zuschreiben, wobei unterschiedliche Beobachter unterschiedliche Erklärungen für das Verhalten eines Menschen konstruieren können. Kein Mitglied eines Sozialsystems kann also direkt auf das Verhalten eines anderen reagieren oder gar auf das, was sich psychisch bei diesem abspielt, "sondern immer nur auf seine eigene Deutung des Verhaltens des anderen beziehungsweise die dafür zugeschriebenen Gründe". Damit ist man dann sehr schnell beim Kern des systemischen Ansatzes angelangt.  

Der findet sich dankenswerterweise in der Einleitung in einem sieben Punkte umfassenden "Minimalkanon" zusammengefasst, der hier - in wahrscheinlich unzulässiger Verkürzung - wiedergegeben sei. An erster Stelle steht gleich die eben von Simon reflektierte Einsicht, dass der täglichen Realität "keine Wirklichkeit an sich, sondern sinnhaft konstruierte, raumzeitlich geordnete und symbolisch verfasste Erfahrungen zugrunde liegen". Zweitens bedeutet systemisches Arbeiten, "sich selbst als Teil und Co-Erzeuger sozialer Kontexte und ihrer Beobachtungen begreifen und reflektieren zu können". Einen gleichsam archimedischen Interventionspunkt außerhalb dieser sinnhaft strukturierten sozialen Welt gibt es nicht. Drittens bedeutet es, Verhaltensweisen und Kommunikationsmuster immer mit Bezugnahme auf diese sozialen Kontexte zu verstehen. Viertens hat systemisches Arbeiten immer im Blick, dass "Veränderungen in einem System Veränderungen in den mit ihm gekoppelten Systemen beziehungsweise in seiner Umwelt zur Folge haben". Fünftens bedeutet es, vom gewohnten simplen Ursache-Wirkungs-Denken abzurücken. Verhaltensweisen verweisen vielmehr wechselseitig aufeinander und können auf vielfältige Weise miteinander verknüpft werden. Sechstens trägt systemisches Arbeiten dem Umstand Rechnung, dass Psychen und Sozialsysteme nicht immer gleich, sondern je nach Zustand, Geschichte und Kontext auf unvorhersehbare Weise unterschiedlich auf Angebote oder Zumutungen reagieren. Siebtens impliziert systemisch arbeiten schließlich die Bereitschaft, wertschätzend auf Personen und ihre Lebensräume zuzugehen, mit dem Ziel, "die Anzahl der Handlungsmöglichkeiten mehren zu helfen, die den Beteiligten/Klienten/Adressaten zur Verfügung steht".  

Fazit: Das Lexikon bietet eine Fülle erkenntnisreicher Information und Einordnung, gleichviel, ob man systematisch nachlesen oder fallweise zugreifen möchte. Ins Regal damit! In Griffweite.  


changeX 09.11.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

Artikeltools

PDF öffnen

cav

Carl-Auer Verlag

Weitere Artikel dieses Partners

Provokation als Musterbruch

E. Noni Höfner und Charlotte Cordes über den Provokativen Ansatz zum Interview

Schritt für Schritt zum Populisten

Fritz B. Simons Anleitung zum Populismus zur Rezension

Form und Formen

Formen - ein kurzes Interview mit Fritz B. Simon zu seinem Werk zum Interview

Ausgewählte Links zum Thema

Zum Buch

: Lexikon des systemischen Arbeitens. Grundbegriffe der systemischen Praxis, Methodik und Theorie. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2012, 507 Seiten, 54 Euro, ISBN 978-3-89670-827-4

Lexikon des systemischen Arbeitens

Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon

Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.

nach oben