Gar nicht trivial

Komplexität gestalten - das neue Buch von Heiko Kleve
Rezension: Katharina Lehmann

Auch in komplexen Situationen den Überblick behalten und die Reaktionen des Systems und seiner Akteure beeinflussen oder zumindest vorausahnen - ein Sozialwissenschaftler erklärt anhand einfacher Beispiele aus der sozialen Arbeit, wie das geht.

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Komplexität ist zu einem sozialwissenschaftlichen Schlüsselbegriff geworden, ohne den heutige gesellschaftliche Verhältnisse nicht mehr zu verstehen sind. Doch ohne das nötige Rüstzeug - in Theorie und Methodik - lässt sich dieser Schlüssel nicht zielsicher verwenden. Der Sozialwissenschaftler Heiko Kleve zeigt in seinem neuen Buch, wie sich die Komplexität in nichttrivialen Systemen handeln lässt.  

"Wie kann Komplexität in einer modernen, nach funktionalen Kriterien differenzierten Gesellschaft vereinfacht werden? Und wie ist die Vernetzung unterschiedlicher, selbst wieder komplexer Systeme in dieser Gesellschaft möglich?" Diese und weitere Fragen beantwortet Kleve in seinem Sammelband Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen. Sammelband deshalb, weil alle Kapitel des Buches ursprünglich als Einzelbeiträge entstanden sind. Dadurch ist es möglich, die in sich geschlossenen Beiträge nicht linear entsprechend den eigenen thematischen Interessen, mithin in eigener Wahl der Kapitelreihenfolge zu lesen. Wiederholungen und Überschneidungen, etwa bezüglich der systemischen Grundannahmen und Metaprinzipien, der systemischen Gesellschaftstheorie, der Unterscheidung von trivialen und nichttrivialen Systemen oder der lösungsorientierten Gesprächsführung, sind diesem Zusammenschluss aus Einzelbeiträgen geschuldet.


Strategien zur Komplexitätsüberbrückung


In diesen Beiträgen, die zudem als Studien zu den unterschiedlichen Facetten der komplexen Gesellschaft gelesen werden können, nimmt Heiko Kleve das grundsätzliche Komplexitätsproblem der Gesellschaft in Form der sogenannten funktionalen Differenzierung in den Blick. Wie wir mit den Effekten der funktionalen Ausdifferenzierung von Gesellschaft umgehen und ob wir hier planvoll gestalten oder gar steuern können, beschäftigt ihn ebenso wie praxisorientierte Strategien, die dabei helfen können, auf problematische Effekte funktionaler Differenzierung zu reagieren. "Denn genau dadurch lassen sich Ideen gewinnen, wie wir das nachhaltiger herstellen können, was wir heute mehr denn je benötigen: Vernetzung, Überbrückung, Verbindung des Unterschiedlichen, des Differenten innerhalb der sozialen Komplexität", erklärt Kleve.  

So geht der Autor vor allem auf die theoretischen und methodischen Perspektiven bezüglich der gesellschaftlichen Komplexität im sozialen Wandel im Privaten wie in den Organisationen ein. "Ausgehend von den skizzierten Herausforderungen, die mit komplexen Verhältnissen und nichttrivialen Systemen einhergehen, werden in diesem Buch Theorien, Haltungen und Methoden vertieft, die als Antworten auf die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Komplexität verstanden werden können", erklärt Kleve.


Mit Kopf, Herz und Hand


Die dreidimensionale Herangehensweise, die in der Gliederung seines Buches angelegt ist, entspricht der These, dass im Kontext menschlicher Phänomene eine ausgewogene Balance von drei Polen wichtig ist, um zu angemessenen Entwicklungen zu gelangen. Es geht um Kopf, Herz und Hand, sprich um Theorie, Haltung und Methodik: "Erstens geht es um den Pol, den wir mit dem menschlichen Kopf assoziieren könnten, der für Rationalität, Wissen oder Erkenntnis steht und hier mit Theorie benannt wird. Zweitens fokussieren wir den Pol, den wir mit dem menschlichen Herzen umschreiben könnten, der für die emotionale Ebene der inneren Einstellung und der äußeren kommunikativen Kompetenz steht und hier als Haltung definiert wird. Und drittens haben wir es mit dem Pol zu tun, der symbolisch mit der menschlichen Hand in Verbindung gebracht werden könnte, der mithin für zielgerichtetes, ergebnisorientiertes und systematisches Tun steht und hier als Methodik bezeichnet wird." 

Als theoretischen Unterbau nutzt Kleve die systemische Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns, als Methodik des praktischen Abbaus der Komplexität das Case-Management in der sozialen Arbeit: "Seit einigen Jahren empfiehlt sich das Case-Management als Verfahren vor allem dann, wenn es um die Bearbeitung von komplexen Fällen geht", meint Kleve.


Triviale und nichttriviale Systeme


Zwar sind die Aufsätze im Buch explizit auf die Aufgaben und Herausforderungen der Berufsgruppe der sozialen Arbeit ausgelegt, doch lohnt die Lektüre auch für all diejenigen außerhalb der Sozialpädagogik, die in ihrem (beruflichen wie privaten) Alltag besser mit Komplexität umgehen wollen. Denn nicht nur in der sozialen Arbeit, sondern in wohl jedem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zweig treten komplexe Phänomene auf, die aufgrund der Vielzahl von Einzelaspekten - also zahlreiche Variablen, die miteinander in Verbindung stehen und voneinander abhängig sind - nicht mehr vollständig betrachtet werden können. Ohne diesen Gesamtüberblick ist es aber nicht möglich, zielgerichtet und steuernd einzugreifen. "Jede Intervention, jeder Steuerungsversuch hinsichtlich komplexer Phänomene führt zur Gefahr, dass nicht das geplante Ziel erreicht wird, sondern ungewollte Nebenfolgen heraufbeschworen werden", warnt Heiko Kleve.  

Damit offenbart sich aber auch eine Besonderheit dieser komplexen, nichttrivialen Systeme: Denn im Gegensatz zu trivialen Systemen wie zum Beispiel Maschinen, die zielgerichtet gesteuert werden können, reagieren nichttriviale Systeme - etwa Körper, Psychen und Sozialsysteme - auf Steuerungsversuche selbstbestimmt und damit für außenstehende Beobachter schwer beziehungsweise niemals gänzlich vorhersehbar.  


Zitate


"Die funktional differenzierte Gesellschaft produziert am laufenden Band Komplexität, und zwar in unterschiedlichsten Hinsichten, etwa politisch, ökonomisch, juristisch, medial, künstlerisch, medizinisch, pädagogisch oder wissenschaftlich." Heiko Kleve: Komplexität gestalten

"Die heutige Gesellschaft wird gerne als ‚Wissensgesellschaft‘ bezeichnet. Gemeint ist damit, dass heutiges Leben die Verfügung über und die Nutzung von Wissen voraussetzt und die Gesellschaft zudem permanent neues Wissen produziert. Schnell können wir jedoch erkennen, dass damit zugleich das Nichtwissen mit kreiert wird." Heiko Kleve: Komplexität gestalten

"Wir können davon ausgehen, dass es Probleme nicht als objektive Tatsachen gibt, sondern nur als perspektivische Beobachtungen, welche einen gegenwärtigen Zustand (Ist) von einem erwünschten Zustand (Soll) unterscheiden. Daher wissen alle Professionellen des Case-Managements nur allzu gut, dass mit der Anzahl der (…) Beteiligten auch die Vielfalt der Problembeschreibungen zunimmt." Heiko Kleve: Komplexität gestalten

 

changeX 25.05.2016. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2016, 166 Seiten, 24.95 Euro, ISBN 978-3-8497-0092-8

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Autorin

Katharina Lehmann
Lehmann

Katharina Lehmann ist freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.

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