Das Problem mit dem Problem
Probleme, so lehrt es die Systemtheorie, existieren nicht objektiv. Nicht an sich. Sondern treten erst in Erscheinung, wenn ein Beobachter einen Sachverhalt negativ bewertet. Probleme werden also aktiv durch Beobachten und Bewerten hergestellt. Zwei Autoren sagen: Das gilt auch für Alkoholprobleme, respektive -konsum.
Systemische Therapieansätze hatten es nicht immer leicht in den letzten Jahrzehnten. Dabei werden das soziale Umfeld und die Interaktion mit Familienmitgliedern bereits seit den 1950er-Jahren in die Behandlung psychischer Störungen einbezogen. In dem von Rudolf Klein und Gunther Schmidt geschriebenen und von Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus herausgegebenen zehnten Band der Reihe Störungen systemisch behandeln geht es um den Einsatz systemischer Therapie bei der Behandlung von Alkoholabhängigkeit. Ganz im Sinne des Konzepts der Reihe, die für einen neuen Umgang mit dem Konzept von Störung und Krankheit steht.
"Die Reihe Störungen systemisch behandeln will zeigen, dass und wie die Systemtheorie mit traditionellen diagnostischen Kategorien bezeichnete Phänomene ebenso gut und oft besser beschreiben, erklären und mit hoher praktischer Effizienz behandeln kann", heißt es im Vorwort der Herausgeber zu Beginn des Ratgebers.
Das Konzept der Beobachtung
In der modernen Systemtheorie rückt vor allem das Konzept der Beobachtung in den Mittelpunkt. "Bei diesem beobachterabhängigen Bewertungsprozess werden vor dem Hintergrund historisch-kulturell gewachsener Bewertungskategorien Probleme von Nichtproblemen oder Störungen von Nichtstörungen unterschieden und diese bewertenden Unterscheidungen mitlaufend beobachtet", schreiben Rudolf Klein und Gunther Schmidt, Dabei wird der Vorgang des Beobachtens aber nicht als passives Aufnehmen objektiv gegebener Außenreize begriffen. Sondern als aktiver und interpretierender Prozess, für den jeder Beobachtende selbst die Verantwortung trägt.
"Konsequent systemtheoretisch formuliert bedeutet dies", resümieren die Autoren: "Ohne bewertende Beobachtung gibt es keine Probleme - auch keine Alkoholprobleme. Probleme sind insofern keine Phänomene, die durch sich selbst existieren. Sie werden aktiv durch Beobachtungen und Bewertungen hergestellt." Das heißt nochmals klarer oder - wer will - provokanter: "Selbst das fortgesetzte Trinken von Alkohol ist so lange kein Problem, solange es nicht negativ bewertet wird." Auf therapeutische Ansätze übertragen bedeutet dies, dass Störungen wie die Alkoholabhängigkeit eines Klienten weder von ihm selbst noch vom Therapeuten oder den Familienangehörigen als "objektiv gegeben" angesehen werden können. Sie sind vielmehr als negativ bewertete Ereignisfolgen aufzufassen. Therapeut und Klient müssen sich im Vorhinein über die Störung an sich und die Ziele der Therapie einig sein und diese entsprechend definieren.
Die Familie als System
Die systemische Therapie konfrontiert alkoholabhängige Menschen also gezielt mit ihrer Sucht und deren Auswirkungen, um - zum Teil auch unkonventionelle - Wege aus der Abhängigkeit zu eröffnen. Als einzig sinnvolles Therapieziel wird dabei in der Regel die Abstinenz formuliert. Nach einem Exkurs zur Diagnostik von Alkoholsucht und einem Überblick über die Anzahl der Alkoholabhängigen in Deutschland behandeln die Autoren die klassischen Konzepte zur Therapie von Alkoholabhängigkeit.
So wird in der Psychoanalyse der chronische Konsum von Rauschmitteln als Symptom einer psychischen Störung angesehen, als Versuch, intrapsychische Konflikte zu bewältigen. Im Mittelpunkt psychoanalytischer Bemühungen steht dann auch vielmehr die Aufarbeitung psychotraumatologischer Störungen und weniger das Erreichen der Abstinenz an sich.
Ähnlich in der Verhaltenstherapie, wo individuelle Erwartungsmuster untersucht und anschließend alternative Bewertungsstrategien erarbeitet werden, um ein erneutes Trinken zu verhindern. Die Therapeuten arbeiten gezielt mit Auslösereizen und gehen konfrontativ mit dem Suchtmittel um. Die Klienten sollen dadurch mit dem Trinken vorwiegend negative Emotionen wie Wut oder Trauer verbinden.
Zudem gibt es einen traditionell-medizinischen Behandlungsansatz, der, obwohl umstritten, nach wie vor als Ausgangspunkt für heutige Breitbandtherapien gilt. Dabei kommen sowohl stationäre als auch ambulante Therapien und Aufenthalte wie Entgiftungsbehandlungen zur Anwendung.
Diese Therapieansätze aber, so die Kritik, schränkten das therapeutische Vorgehen und damit auch die Entwicklungsmöglichkeit von Klienten ein.
Ganz anders die systemische Therapie. Hier wird der Kontext, insbesondere die Familie, systematisch einbezogen.
Familien bilden das Umfeld, in dem die "Störung" des Patienten auftritt. Insofern sind sie Teil der Therapie und bilden eine eigene Behandlungseinheit. Therapeuten versuchen, sogenannte dysfunktionale Muster in der Familienkommunikation in den Fokus zu rücken und an diesen Ursachen der "Störung" gezielt zu arbeiten. Trinken wird nicht mehr als individuelles Problem betrachtet, sondern die Bedeutung der Familie für das Zustandekommen und Aufrechterhalten der Problematik untersucht. Die Familie wird hierbei als ein System gesehen, das sich auf die Sucht und den Abhängigen auswirkt. Änderungen der Kommunikations- und Organisationsmuster innerhalb dieses familiären Systems können sich demnach auch positiv beziehungsweise negativ auf die Störung auswirken.
Infragestellung des herkömmlichen Störungsbegriffs
Die Autoren beschäftigen sich in den weiteren Kapiteln mit den historisch-kulturellen Hintergründen des Alkoholkonsums und Alkoholismus und der Rolle der Familie als sogenannte "Symptomträger". Dabei wird auch der Begriff der Störung aus unterschiedlichen Sichtweisen betrachtet. Die Sichtweisen derer, die Alkoholismus als gegebene Störung und als Problem ansehen, jener, die meinen, Alkoholismus werde erst durch die negative Bewertung eines Beobachters zu einem Problem, prallen nämlich auch in der Therapie aufeinander. Etwa, wenn Familienmitglieder den Alkoholkonsum des Klienten als Störung einschätzen, dieser solche Wahrnehmungen aber weit von sich weist. Daraus resultieren auch für den Therapeuten neue Bedingungen, die in die Behandlung und "Heilung" der Störung einfließen.
Fazit: Das Buch bietet Therapeuten und Interessierten eine Einführung in das umfangreiche Themenfeld der systemischen Therapie. Dabei werden den herkömmlichen und gängigen psychotherapeutischen Methoden moderne systemische Ansätze gegenübergestellt. Ein Überblick über bekannte und neue Methoden sowie Beispiele aus der Praxis helfen dem Leser, schnell einen Zugang zum Thema zu finden. Er erhält einen Gesamtüberblick über moderne Therapieansätze bei der Behandlung von Alkoholismus und bekommt Behandlungskonzepte und praktische Tools zu verschiedenen Störungsbildern auf kompakte und nachvollziehbare Weise vermittelt. Ein Ratgeber für alle bereits systemisch sowie nichtsystemisch arbeitenden Therapeuten.
Zitate
"Die Reihe Störungen systemisch behandeln will zeigen, dass und wie die Systemtheorie mit traditionellen diagnostischen Kategorien bezeichnete Phänomene ebenso gut und oft besser beschreiben, erklären und mit hoher praktischer Effizienz behandeln kann." Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus, Hg. der Reihe Störungen systemisch behandeln
"Zum einen soll systemisch arbeitenden Kollegen das große Spektrum theoretisch fundierter und praktikabler systemischer Lösungen für einzelne Störungen zugänglich gemacht werden - ohne das Risiko, die eigene systemische Identität zu verlieren, im besten Fall sogar mit dem Ergebnis einer gestärkten systemischen Identität. Gleichzeitig soll nicht-systemischen Behandlern und Vertretern anderer Schulen das umfangreiche systemische Material an Erklärungen, Behandlungskonzepten und praktischen Tools zu verschiedenen Störungsbildern auf kompakte und nachvollziehbare Weise vermittelt werden." Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus, Hg. der Reihe Störungen systemisch behandeln
"Dann erscheint das abhängige Trinken plötzlich als sinnstiftendes Verhalten und als (entgleister) Lösungsversuch für ungelöste biologische, psychische und soziale Notlagen: ein Lösungsverhalten, das zu ändern nicht unbedingt zu einer beruhigenden und gar verbesserten Lebenssituation führt." Rudolf Klein, Gunther Schmidt: Alkoholabhängigkeit
changeX 15.12.2017. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Rudolf Klein, Gunther Schmidt: Alkoholabhängigkeit. Band 10 der Reihe Störungen systemisch behandeln, hg. von Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2017, 221 Seiten, 24.95 Euro (D), ISBN 978-3-8497-0208-3
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Autorin
Katja ReichgardtKatja Reichgardt ist freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt als freie Mitarbeiterin für changeX.