Befähigung zur Selbsthilfe
In Konfliktsituationen haben Menschen für das eigene Problem meist eine eingeengte Sichtweise, aber eine hohe Sensibilität für ähnliche Probleme anderer. Diese Einsicht macht sich die Multifamilientherapie zunutze. Sie will Familien nicht entmündigen, sondern in die Lage versetzen, anderen und sich selbst zu helfen. Das geht einher mit einem Paradigmenwechsel in der Therapeutenrolle: weg von der Helferrolle, hin zur Befähigung zur Selbsthilfe.
"Es ist eine allgemeine Erkenntnis, dass Menschen in Konfliktsituationen für das eigene Problem meist eine eingeengte Sichtweise haben, aber eine hohe Sensibilität für ähnliche Probleme anderer." Diese Einsicht bildete vor einigen Jahrzehnten den Anfang einer gänzlich neuen Therapie- und Beratungsform für Familien. Aus ihr entwickelte sich die Multifamilientherapie (MFT), die zunächst in Großbritannien und den USA, seit einigen Jahren aber auch vermehrt im deutschsprachigen Raum eingesetzt wird.
Als ihre Pioniere hierzulande gelten Eia Asen und Michael Scholz, die mit ihrem Handbuch der Multifamilientherapie nun die Ergänzung zu ihrem Erstlingswerk Praxis der Multifamilientherapie herausgeben. Auf 443 Seiten kommen darin die renommiertesten Vertreter der Multifamilientherapie zu Wort und bieten multidimensionale Therapieansätze, Kombinationsmöglichkeiten und moderne Methoden für die Schul-, Jugend- und Sozialarbeit.
Paradigmenwechsel in der Therapeutenrolle
Die Familientherapie verzeichnete in den vergangenen Jahren einen kontinuierlichen Zuwachs, ist längst auch in deutschen Arbeitskontexten und Anwendungsbereichen angekommen. Vor allem in den Bereichen der Jugendhilfe, der Schule sowie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist sie längst ein probates Mittel. Asen und Scholz verstehen ihren neuen Sammelband als "Handbuch", das als Ergänzung und Fortführung ihres ersten Buches gesehen werden soll. So finden sich in den Kapiteln auch einige neue Konzepte und Techniken der modernen Multifamilientherapie, aber auch Basisinformationen zur Entwicklung der MFT sowie zu grundlegenden Ansätzen und Modellen. Letzterem widmet sich vor allem der erste, allgemeine Teil des Werkes, für das die Herausgeber anerkannte Vertreter der MFT als Autoren gewinnen konnten.
Dort geht es auch um den Paradigmenwechsel der Therapeutenrolle, der mit der Entwicklung der Multifamilientherapie einhergeht. Dadurch, dass die Mehrzahl der MFT-Projekte in Jugendämtern, Schulen oder Kliniken entsteht, also in Settings, in denen Therapeuten für gewöhnlich dazu neigen, die Rolle eines fürsorglichen Elternteils einzunehmen, sind Therapien hier oftmals kindzentriert. Genau dieser Fokus wird in der Multifamilientherapie korrigiert. Vielmehr kommt es zu einem "massiven Paradigmenwechsel weg von der traditionellen therapeutischen Helferposition und hin zu der Haltung, Familien nicht zu entmündigen, sondern dazu zu befähigen, anderen und sich selbst zu helfen". So bleibt die Verantwortung von Anfang an bei den Eltern selbst, die von den Therapeuten gestützt und ermutigt werden. Aber auch die anderen anwesenden Familien sollen in die Therapeutenrolle schlüpfen. Diese gegenseitige Hilfe zu begleiten, ist dem neuen Handbuch zufolge die Aufgabe des Therapeuten, der als "Kontextmacher" und Vermittler agiert. Tipps für einen gesunden Austausch zwischen den Therapierenden liefert das Handbuch gleich mit.
Fünf Schritte zur guten Kommunikation
Eine systemische Basistechnik, die im Handbuch der Multifamilientherapie vorgestellt wird, ist das Fünfschrittemodell, das immer dann zum Einsatz kommt, wenn die Eltern ein auffälliges Verhalten ihrer Kinder nicht wahrnehmen oder aber tolerieren. Die fünf Schritte, die die Eltern auf dieses Verhalten aufmerksam machen und reagieren lassen sollen, gliedern sich demnach in: Beobachtung, Beobachtungsvergleich, Bewertungsvergleich, Wunsch nach Veränderung und Aktion. Dabei werden sowohl die Eltern als auch die Kinder miteinbezogen. Das Buch liefert zudem Handlungsbeispiele und Anregungen für den Fall, dass es zwischen den Schritten zu einer Stagnation kommt. Das Modell dient insbesondere der Behandlung von akuten intrafamiliären Dynamiken, die während der Gruppeninteraktion meist erst deutlich werden.
Aber nicht nur das Fünfschrittemodell wird in dem Handbuch vorgestellt, auch für andere Ansätze lassen die Autoren Raum. Eine wichtige Rolle spielt der Terminus des Mentalisierens. Darunter verstehen Asen und Scholz das Bewusstwerden der eigenen Gefühlslage sowie der der anderen. Hauptziel dabei ist es, intrafamiliäre Bindungen zu stärken. Dabei soll auch der Gruppenkontext helfen. Kann man sich in andere hineinfühlen und ist sich gleichzeitig seiner Gefühle bewusst, lässt es sich besser interagieren und kommunizieren. Der Therapeut kann auch hier steuern, welche Art der Mentalisierung eingesetzt werden soll, um sowohl die internen als auch externe mentale Prozesse abzudecken. Die Fähigkeit zu diesem Einfühlen in eigene und andere Gefühlswelten ist dabei stark vom Temperament und der Erregung der Beteiligten abhängig. Jemand, der aufgebracht ist, wird es schwer haben, zu mentalisieren.
Epistemische Wachsamkeit und epistemisches Vertrauen
Innere Arbeitsmodelle funktionieren immer dann am besten, wenn wir unseren wichtigen Bindungs- und Bezugspersonen vertrauen können - auch und vor allem, was deren Kommunikation angeht. Das Grundvertrauen, von einer Bezugsperson sicher und ohne Zweifel lernen zu können, nennen Experten - begrifflich angelehnt an die Erkenntnisphilosophie - "epistemisches Vertrauen". Prüfen Kinder die Welt und Kommunikationen zunächst auf ihren Wahrheitsgehalt hin, spricht man von "epistemischer Wachsamkeit". Treffen wir auf neue Lehrer oder Bezugspersonen, greifen wir auf diese Wachsamkeit zurück, um kein falsches Wissen aufzunehmen. Bei vertrauten Personen sind Menschen schon eher bereit, auf deren Wissen zu vertrauen. Hier wirkt das epistemische Vertrauen.
Aber wie lässt sich dieses in der Therapie aufbauen? Das Schaffen von therapeutischer Bindung ist ein wichtiger Punkt in der Psychotherapie. Durch Aufmerksamkeit steigern Therapeuten das epistemische Vertrauen ihrer Klienten enorm. Ein Fakt, der eine gute Zusammenarbeit und letztlich auch den Erfolg einer Therapie erst möglich macht.
Breiter Überblick über Theorie, Praxis und Anwendungsbereiche
Fazit: Die Herausgeber und Autoren sind Experten auf dem Gebiet der Multifamilientherapie und scheuen sich nicht davor, neue Wege einzuschlagen. Das Handbuch der Multifamilientherapie ist denn auch genau das, was der Titel ausdrückt: Ein Lese- und Nachschlagewerk für alle, die sich privat oder beruflich mit dem Thema auseinandersetzen, anschauliche Beispiele und Anleitungen aus Theorie und Praxis suchen und die unterschiedlichen Anwendungsbereiche der Multifamilientherapie kennenlernen wollen. Dabei schreiben die Autoren leicht verständlich und geben immer wieder Tipps für bestimmte Situationen. Ein interessantes Werk, um noch tiefer in die Materie rund um diesen Gruppentherapieansatz einzutauchen.
Zitate
"Multifamilientherapie beinhaltet einen massiven Paradigmenwechsel in der Therapeutenrolle weg von der traditionellen therapeutischen Helferposition und hin zu der Haltung, Familien nicht zu entmündigen, sondern dazu zu befähigen, anderen und sich selbst zu helfen. Bei Familien mit minderjährigen Kindern bedeutet das eine spezifische und oft nicht leichte Übergabe der Verantwortung: Nicht die Helfer haben während der MFT Verantwortung für die Kinder und ihr Wohlbefinden, sondern die Eltern. Rituale können das sichtbar und erlebbar machen." Eia Asen, Michael Scholz: Handbuch der Multifamilientherapie
"Wir mentalisieren, wenn wir versuchen, die innere psychische Verfassung bei uns selbst und bei anderen Menschen sowie ihre Wechselwirkungen differenzierend und angemessen wahrzunehmen. Wir können explizit mentalisieren, indem wir bewusst mentale Zustände - Gefühle, Absichten, Bedürfnisse, Einstellungen, Bewertungen, Motive, Fantasien und Gedanken - in Worte zu fassen versuchen." Eia Asen, Michael Scholz: Handbuch der Multifamilientherapie
"Fehlinterpretationen können zu Missverständnissen führen und diese wiederum zu impulsiven und konfusen Interaktionen, bei denen wir die anderen nicht so sehen, wie sie sind - und sie uns auch nicht!" Eia Asen, Michael Scholz: Handbuch der Multifamilientherapie
changeX 10.11.2017. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Eia Asen, Michael Scholz (Hg.): Handbuch der Multifamilientherapie. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2017, 443 Seiten, 84 Euro (D), ISBN 978-3-8497-0192-5
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Autorin
Katja ReichgardtKatja Reichgardt ist freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt als freie Mitarbeiterin für changeX.