Die Digitalität der Gesellschaft
Klar scheint: Digitalisierung bedeutet Transformation, Disruption, Veränderung. Doch stimmt das wirklich? Der Soziologieprofessor Armin Nassehi dreht die Perspektive und fragt: Welches Problem löst eigentlich Digitalisierung? Seine These: Die Digitalität ist in die Struktur der Gesellschaft selbst eingebaut. Und zwar nicht erst seit der Durchcomputerisierung, sondern von Beginn ihrer Ausdifferenzierung an. Und was wäre dann das Problem, für das Digitalisierung die Lösung ist? Die Komplexität der Gesellschaft in eine handhabbare Form zu bringen.
"Die Digitalität ist in die Struktur der Gesellschaft selber eingebaut." Sagt Armin Nassehi. In seinem aktuellen Buch Muster unternimmt er den Versuch, eine Theorie der digitalen Gesellschaft zu begründen.
Prof. Dr. Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Mitherausgeber des Kursbuchs und Autor zahlreicher Publikationen zu Soziologie und Gesellschaft.
Herr Nassehi, die Masterfrage: Was muss man wissen, um Digitalisierung zu verstehen?
Dazu muss man sich zuerst einmal Gedanken machen, was man unter Digitalisierung versteht. Versteht man darunter den Einsatz von Geräten, die Digitaltechnik verwenden? Oder eine Denkungsart? Oder eine Form der Selbstbeobachtung der Gesellschaft? Das wäre meine Antwort. Allerdings lässt sich nicht sagen, welches die beste Antwort ist. Aber allein schon, dass einem im ersten Moment drei ganz unterschiedliche Antworten einfallen, ist ein Hinweis darauf, dass der Begriff oftmals eine Leerstelle bezeichnet. Das macht es besonders interessant, sich damit zu beschäftigen.
Wenn ich gefragt hätte, was man wissen muss, um die digitale Transformation zu verstehen, wäre die Antwort dann eine andere gewesen?
Es ist vielleicht eine blöde Antwort: Aber es hängt davon ab, bei welchem der beiden Elemente der Informationswert liegt: bei digital oder bei Transformation? Setzt man das Digitale voraus, stellt sich die Frage, was eigentlich eine Transformation ist. Ist jede Veränderung eine Transformation oder ist Transformation eine geplante Veränderung? Setzt man die Transformation voraus, stellt sich dieselbe Frage wie oben: Wovon reden wir eigentlich? Reden wir von einer technischen Transformation, reden wir von einer Transformation unserer Denkungsart oder reden wir von einer bestimmten Selbstbeobachtung der Gesellschaft? Interessant ist aber noch etwas anderes: dass man automatisch auf Transformation, auf Disruption, auf Veränderung kommt, wenn man über Digitalisierung nachdenkt. Das ist vielleicht auch eine sozialwissenschaftliche Verzerrung: Auf der einen Seite ist es die Geschäftsgrundlage der Soziologie, Kontinuitäten zu beschreiben, aus denen die Menschen nicht so leicht herauskommen: Männer- und Frauenrollen, Milieuzugehörigkeiten, kulturelle Constraints sind alle stabiler, als man denkt. Auf der anderen Seite sind wir unglaublich verliebt in Diagnosen, alles werde gerade anders: der Kapitalismus, die Familie, der Nationalstaat und auch das Digitale. Diese Spannung ist in der Frage nach der digitalen Transformation bereits angelegt. Um eine Antwort zu geben, die die Sache nicht einfacher, sondern komplizierter macht.
Komplizierter wird es schon, wenn man genauer hinschaut und fragt, wann es denn eigentlich angefangen hat mit der Digitalisierung. Was ist Ihre Antwort?
Bücher sind immer inszenierte Formen. Sie geben nicht einfach eine Wahrheit wieder, sondern sie inszenieren ein Argument. Mein Argument ist, zunächst einmal abzusehen von der Selbstverständlichkeit, dass da eine disruptive Veränderung stattgefunden hat - also: vorher keine Digitalität, jetzt Digitalität, und das nennen wir dann Digitalisierung. Sondern andersherum zu denken: Wir wissen, dass Gesellschaften immer träger sind als ihre Beschreibungen. Deshalb gehe ich davon aus, dass Dinge, die sich in Gesellschaften verändern, irgendwie schon vorbereitet sein müssen. Etwas Neues kann sich nur stabilisieren, wenn es sich in die Kontinuität der Gesellschaft einfügt. Wenn man so denkt, ist die Disruption schnell weg. Damit ist noch nicht bewiesen, dass es keine Disruption gibt. Sondern die Denkrichtung ist eine andere: Jetzt suche ich nach der Kontinuität, die dazu führt, dass die Digitaltechnik kontinuieren kann.
Das heißt natürlich nicht, alle anderen hätten unrecht, wenn sie von Disruption reden. Entscheidend ist, dass man etwas anderes sieht, wenn man dieser Denkrichtung folgt, als wenn man sich nur für die disruptiven, starken Veränderungen interessiert. Die gibt es natürlich. Man muss nur auf Arbeitsmärkte, auf Informationsmärkte, auf unsere Alltagstechniken schauen - da findet unglaublich viel Disruption statt.
Sie drehen die Perspektive. Ihr Ansatzpunkt ist, wenn ich es recht verstehe, ein funktionalistischer: Sie fragen nach der Funktion von Dingen. Also: Welche Funktion hat Digitalisierung für die Gesellschaft?
Genau. Die Frage ist: Welches Problem löst die Digitalisierung? Es gilt, das Problem zu finden. Diese funktionalistische Perspektive ist vor allem in der Ethnologie entstanden. Wenn man es mit Kulturtechniken zu tun hat, die man sich nicht erklären kann und von denen man nicht weiß, welche Bedeutung sie haben, weil man den gesamten kulturellen Kontext nicht kennt, dann fragt man am besten: Welches Problem lösen diese Techniken eigentlich? Ich habe versucht, an der Digitalisierung diese Frage zu beantworten.
Und Ihre Antwort bezieht sich auf das große Thema Ihrer letzten beiden Bücher, auf Komplexität.
Genau. Es ist natürlich auch ein Taschenspielertrick. Denn jede persistierende Lösung löst ein Komplexitätsproblem. Nämlich indem sie versucht, mit der Komplexität, mit der Uneindeutigkeit der Gesellschaft umzugehen und eine Vereinfachung oder Handhabbarmachung hinzubekommen. Welches Problem löst Kultur? Damit wir wissen, was die ganzen Dinge bedeuten. Welches Problem löst Digitalisierung? Meine Antwort: Die Komplexität der Gesellschaft in eine handhabbare Form zu bringen.
Inwiefern tut sie das?
Ich beginne nicht mit der Digitaltechnik, sondern mit der Denkungsart im 19. Jahrhundert - wobei das historisch sehr unpräzise ist, zum Teil hat das viel früher begonnen. Aber im 19. Jahrhundert tauchten überall in der Gesellschaft Denkungsarten auf, die differenzierten zwischen dem, was wir mit unserer natürlichen Wahrnehmung sehen, und dem, was wir in einer artifizielleren Beobachtung der Gesellschaft, zum Beispiel mit statistischen Mitteln, sehen können.
Frühere Gesellschaften konnten nur aus der Tradition heraus abschätzen, wie viel Weizen man braucht, welche Berufe es geben muss, wie die Rollen in der Gesellschaft beschaffen sein sollen, wie man Städte baut. Und auf einmal gab es disruptive gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, die neue Beobachtungen erforderten. Wie viel Fläche braucht eine große Stadt um sich herum, damit ihre Versorgung gewährleistet ist? Welche Verkehrswege braucht es, damit man hinein und auch wieder heraus kommt? Welche Kanalisation ist nötig? Welche Milieus siedeln sich wo an? Das konnte man nicht mit bloßem Auge sehen, dafür musste man zählen, Mittelwerte bilden und erwartbare Durchschnitte berechnen. Und man stellte fest, dass es Muster gibt, die man zuvor gar nicht wahrgenommen hatte. Muster, die man mit bloßem Auge nicht sieht.
Das beobachtet man mit digitalen Mitteln, lautet meine steile These. Ich glaube, dass sie nicht ganz falsch ist, weil im gesamten 19. Jahrhundert in allen europäischen Gesellschaften wie in Nordamerika begonnen wurde, mit diesen Formen von Statistik Dinge zu zählen. Im Militär, in der Verwaltung, in den Bildungsanstalten, in den Universitäten, in der Forschung entstanden nebeneinander Beobachtungsformen, die Korrelationen gebildet haben - keine eindeutigen Kausalitäten, sondern Korrelationen. Zum Beispiel in der Medizin, um herauszubekommen, welche Bevölkerungsgruppe an welcher Krankheit stirbt. Solche Wahrscheinlichkeitsbeziehungen sind das Neue. Es ist eine digitale Denkungsart entstanden. Das ist der Gedankengang, der eigentlich recht simpel ist, wenn man es genau nimmt.
Also fällt der Beginn der Digitalisierung zusammen mit dem Beginn der systematischen Selbstbeobachtung der Gesellschaft?
Nun ja, systematische Selbstbeobachtung hat es immer schon gegeben, in anderer Form. Auch die feudale Gesellschaft hat sich systematisch beobachtet. Sie hat alles danach beurteilt, ob es von oben oder von unten kommt. Bis in die heutige Zeit ist unsere Art des Denkens immer noch sehr deduktiv-hierarchisch: Wir gehen von allgemeinen Begriffen aus und deduzieren nach unten - dieses Denken bildet fast die Struktur einer feudalen Gesellschaft ab. Heute indes versuchen wir, vernetzt zu denken, nicht mehr mit zentralen Begriffen deduktiv, sondern induktiv oder sogar abduktiv. Das ist etwas Neues. Seit dem 19. Jahrhundert nimmt die systematische Selbstbeobachtung der Gesellschaft andere Mittel in Anspruch.
Mithilfe von Daten?
Mithilfe von Daten. Auch da ließe sich sagen: Die ganze Schriftkultur vorher waren auch Daten. Aber jetzt sind es quantifizierbare Daten, und vor allem miteinander vernetzbare Daten. Das Spannende ist, dass die Daten auch für Zwecke verwendet werden, für die sie nicht erhoben wurden. Oftmals liegt ein Informationsüberschuss vor, mit dem sich etwas anfangen lässt. Das ist ein starkes Herrschaftsmittel geworden. Das Herrschaftsmittel vorher war die Position oben. Jetzt hat man Kriterien, um zu entscheiden, was die beste Lösung ist. Das heißt nicht, dass sich auf einmal alles rationalisiert hätte. Aber diese Denkungsart ist entstanden und hat sich ausgebreitet: vom Bildungswesen über die Medizin bis hin zur Ökonomie, Politik und dem Militär, das ohnehin einer der Modernisierungstreiber schlechthin war. Anzeichen sind die Entstehung von Nationalstaaten, die Entstehung des Betriebskapitalismus, von Finanzierungssystemen, von Verwaltungen und natürlich das Aufkommen systematischer Forschung. Vor dem 19. Jahrhundert haben die Universitäten nicht geforscht, sondern sie haben die Wirklichkeit interpretiert. Dann erst haben sie angefangen, zu forschen. Die Wissenschaft wurde auf einmal datengetrieben.
Das hat sich dann professionalisiert. Die klassischen Professionen haben mit diesem digitalen Denken zu tun. Der Wissenschaftler, der Arzt, der Jurist, der Verwaltungsbeamte, der Politiker, der Unternehmer, der in der Lage sein muss, Finanzpläne zu machen. Unternehmerisches Denken und Risikoabschätzung haben sich überall durchgesetzt.
Kann man das als Trend zur Berechenbarkeit der Welt beschreiben?
Ja, das kann man, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ich glaube, dass gleichzeitig auch ein Sensus dafür entsteht, wie wenig berechenbar die Dinge und wie eigendynamisch sie sind. Man stellt im Prinzip um von Kausalitätsmodellen auf stochastische Modelle. Man kann eigentlich nur noch Wahrscheinlichkeitsbeziehungen beschreiben, und das erhöht die Komplexität der Welt. Genauer: Auf der einen Seite reduziert diese Denkungsart die Komplexität, weil man auf einmal einen Zusammenhang sieht, sie erhöht sie aber gleichzeitig noch, weil wir sehen, wie viele Faktoren zugleich auf bestimmte Dinge wirken. Spannend ist daran, dass einerseits die Beobachtung einfacher wird, andererseits wird sie unfassbar komplexer, weil es auf einmal viel mehr Kombinationsmöglichkeiten gibt.
Damit wird nachvollziehbar, dass die Selbstbeobachtung der Gesellschaft einen digitalen Charakter annimmt, indem sie sich der Daten bedient. Aber Sie gehen noch einen Schritt weiter. Sie sprechen ja von einer digitalen Grundstruktur der Gesellschaft.
Das ist natürlich ein riskantes Argument. Ich bin braver Systemtheoretiker und gehe von einer funktional differenzierten Gesellschaft aus. Das ist eine komplizierte Theorie, aber man kann es im Alltag wahrnehmen. Jemand, der Geschäfte macht und am Markt bleiben will, muss ein anderes Problem lösen als ein Politiker, der eine angebbare oder auch nicht angebbare Kollektivität von einer Lösung überzeugen muss. Die Erfolgsbedingung des einen ist es, zahlungsfähig zu bleiben, die des anderen, gewählt zu werden oder zumindest wählbar zu bleiben. In der Wissenschaft wiederum gilt nicht ein Argument als besser, wenn es sich in einer Mehrheitsentscheidung durchsetzt, sondern weil es das bessere Argument unter unterschiedlichen Argumenten ist. In den Medien ist eine gute Meldung nicht eine, die schön aussieht, sondern eine, die Aufmerksamkeit erzeugt. Und in der Medizin geht es nicht um Wahrheitsfragen, sondern um therapeutische Fragen. Und so weiter. Das ist funktionale Differenzierung. Es sind unterschiedliche Orientierungen vorhanden, die zum Teil ineinanderwirken, zum Teil in Konflikt miteinander geraten, zum Teil nebeneinanderstehen, aber spannenderweise auf relativ simple Unterscheidungen zurückzuführen sind. An der Wirtschaft kann man das am besten zeigen. Wie auch immer man wirtschaftet, welches Wirtschaftssystem man hat, welchen wirtschaftspolitischen Modellen man folgt, am Ende ist es ein Zahlungsmechanismus, der sich durchsetzt: Bleibt man zahlungsfähig oder nicht? Am Zahlungsmechanismus kommt in der Wirtschaft niemand vorbei, und in der Politik niemand am Machtmechanismus. In der Wissenschaft wiederum stellt sich die Wahrheitsfrage, sonst ist es keine Wissenschaft. Es ist kein Zufall, dass Niklas Luhmann diese Systeme für binär codiert hält. Streng systemtheoretisch geht es um die Codierung von zahlen - nicht zahlen, Macht - nicht Macht, Recht - nicht Recht, wahr - unwahr. Weil diese Codierungen so simpel sind, gibt es so unglaublich viele unterschiedliche Formen.
Ähnlich funktioniert auch die Digitaltechnik. Sie ist im Prinzip ebenfalls total simpel. Sie basiert auf der Unterscheidung 0 und 1, technisch gesehen höhere Spannung - niedrigere Spannung in einem Apparat, der die Zustände mit einem binären Zahlensystem erfasst, wobei dieses so leistungsfähig ist, dass man basierend auf dieser kleinen, simplen Unterscheidung riesengroße Welten bauen kann. Deswegen bildet die moderne Gesellschaft nicht zufällig solche Funktionssysteme aus, die eine besonders simple Codierung haben. Das ist die Grundcodierung. Deshalb sage ich, die Digitalität ist in die Struktur der Gesellschaft selber eingebaut. Ich gebe zu, das ist eine riskante Theorie. Ich sage auch nicht, das ist die letzte Wahrheit über die Digitalisierung oder Digitalität. Aber es ist ein vielversprechender Gedanke, dass diese Form von einfacher Codierung und komplexem Überbau, die für Digitalität charakteristisch ist, nicht zufällig in der Gesellschaftsstruktur beobachtbar ist. Sondern damit so komplexe Lösungen möglich werden. Es geht um eine Problemlösung, und dieses System ist wahnsinnig leistungsfähig. Das heißt nicht, dass es gut ist. Inzwischen ist es auch zu einem Problem geworden, weil es offenbar schwierig ist, die unterschiedlichen Säulen miteinander zu koordinieren.
Wann ist diese binäre Codierung in der Gesellschaft entstanden? Mit der funktionalen Ausdifferenzierung?
Ja. Das ist die klassische Differenzierungstheorie Niklas Luhmanns, der in historischen Analysen sehr schön beschrieben hat, wie sich diese unterschiedlichen Funktionen allmählich emanzipiert haben. Zugleich entstanden Schriften, in denen diese Differenzierung auf einmal eine Rolle spielte. Im politischen Bereich Machiavellis Fürst, wo eine ganz einfache Unterscheidung eingeführt wird: Habe ich die Macht oder habe ich sie nicht? Das ist das Einzige, sagt Machiavelli, was für den politischen Prozess relevant ist. Auch das Ökonomische hat Theorien oder zumindest Selbstreflexionen produziert, die fragen: Wie entsteht eigentlich Wertschöpfung? Wie werde ich zahlungsfähig?
Ist die Erfindung dieser binären Codierung eine Antwort auf Komplexität oder ist sie die Voraussetzung für eine Steigerung von Komplexität?
Beides. Sie reduziert und produziert Komplexität. Luhmann formuliert das als Entwicklungshindernis. Ein Entwicklungshindernis bestand zum Beispiel darin, dass die Wissenschaft früher religiösen Weltbildern entsprechen oder dem Herrscher gefallen sollte. Davon musste sich Wissenschaft emanzipieren. Ähnlich die Politik, wo Macht sich verselbständigt. Luhmanns These ist: Diese Verselbständigungsprozesse führen dazu, dass Reflexionstheorien entstehen, die die unterschiedlichen Bereiche als eigenständige Bereiche beschreiben: das Politische, das Ökonomische, das Rechtliche, das Religiöse. Es ist funktional sehr lohnend gewesen, sich mit etwas zu beschäftigen, was außerhalb niemanden interessieren konnte. Dieser Prozess hat dann dazu geführt, dass diese Bereiche sich autonomisiert haben, und das war ein unfassbarer Entwicklungsschub für die Gesellschaft. Das war wirklich eine disruptive Veränderung, die dann den Kapitalismus, die Nationalstaaten, die öffentliche Verwaltung entstehen ließ. Das ist natürlich eine Vereinfachung, aber es ermöglicht auch ein neues Maß an Komplexität. Das geht alles auf diese einfache Codierung zurück.
Und die ist dieselbe in der Gesellschaft wie in der digitalen Technik?
Dieselbe nicht. Der Modus ist derselbe. Es ist eine Analogie. Andere Soziologen sagen, das mit der funktionalen Differenzierung sei vorbei, weil sich gerade an der Digitaltechnik und der digitalen Denkweise ein Vernetzungsdenken etabliert. Zum Beispiel Dirk Baecker. Die Digitalisierung ermöglicht es tatsächlich, Prozesse unglaublich aufeinander zu beziehen und Informationen auszutauschen. Aber meiner Einschätzung nach wird das an dieser einfachen Grundcodierung nichts ändern. Ich würde an einer orthodoxen Differenzierungstheorie festhalten. Extrem spannend ist, dass durch die Digitalisierungsfolgen sich viele institutionelle Lösungen, die wir aus der klassischen Industriegesellschaft kennen, disruptiv auflösen: Wo ist der Ort der Wertschöpfung? Was ist ein Unternehmen? Welche Rolle spielen Orte für Institutionen? Das kann man heutzutage nicht mehr so klar sagen. Das verschwimmt ein bisschen. Trotz, nein wegen solcher Brüche wird funktionale Differenzierung heute erst recht deutlich. Das finde ich total spannend.
Was Sie mit Dirk Baecker eint: Auch er setzt den Beginn der Digitalisierung sehr früh an. Unter technischem Aspekt sagt er, müsse man darüber nachdenken, ob nicht die Elektrifizierung schon den eigentlichen Bruch darstellt. Und noch etwas eint Sie: Sie stimmen in der These des Kontrollüberschusses überein.
Genau. Das ist eine richtig gute Idee von Dirk Baecker gewesen. Das unterschreibe ich vollständig. Der Kritiküberschuss ist eine nicht intendierte Nebenfolge des Buchdrucks. Die Intention des Buchdrucks war, dass die Leute die Heilige Schrift lesen und verbreiten können und so mehr Orientierung erfahren. Doch das Gegenteil trat ein, weil auf einmal Kritik an der Heiligen Schrift möglich war. Und dann Kritik an Kritik an Kritik an Texten an Texten an Texten. Das meint Kritiküberschuss. Kontrollüberschuss bedeutet nun, dass wir es einerseits mit Kontrolltechniken zu tun haben, andererseits aber eben auch mit Beobachtungsformen, die in der Lage sind, mehr über Prozesse zu wissen, als die Prozesse selbst wissen. Diese Daten bieten eine Steuerungsmöglichkeit, wobei Steuerung nicht heißt, dass man unmittelbar steuert. Sondern es gibt einen Überschuss von Möglichkeiten, so die These von Baecker, noch mehr in den Blick nehmen zu können, als man ursprünglich mit den Daten in den Blick nehmen wollte. Mit der Elektrifizierung hingegen bin ich ein bisschen skeptischer.
Warum sind Sie skeptisch bei der Elektrifizierung?
Dirk Baecker hat natürlich vollkommen recht damit, dass die Elektrifizierung die Grundbedingung für die technische Entstehung von Digitaltechnik gewesen ist. Aber ich würde den Beginn wie gesagt viel früher ansetzen; Anfang des 19. Jahrhunderts war die Gesellschaft noch nicht durchelektrifiziert. Aber das sind Details, da lohnt sich der wissenschaftliche Streit kaum. Skeptisch heißt nicht, dass das nicht eine interessante und wichtige Diagnose ist. Doch ob das der Beginn der Digitalisierung ist, weiß ich nicht so genau. Ich würde nicht sagen, dass das falsch ist. Ich bin ohnehin sehr vorsichtig mit der Aussage, dass etwas falsch sei. Denn das hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Es geht in der Wissenschaft auch darum, ein konsistentes Modell auszuprobieren und zu gucken, wo das eigentlich hinführt.
Spannend ist, dass die Elektrifizierung eine Form ist, so beschreibt Baecker das, wo das Medium selber fast überall anwendbar ist. Das beobachten wir an verschiedensten Orten der Gesellschaft. Nicht nur bei der Elektrifizierung, sondern auch bei der Schriftlichkeit, bei der Bildung. Da gibt es viele funktionale Äquivalente auf allen Ebenen der Gesellschaft.
Um auf den Buchdruck zurückzukommen. Inwiefern ist der Buchdruck eine Datenkatastrophe gewesen, wie Sie schreiben?
Mich interessiert der Buchdruck zunächst gar nicht als Buchdruck, sondern als Anschauungsmaterial für meine Methode. Nämlich zu fragen: Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung? Das kann man an früheren Techniken gut studieren: Für welches Problem war der Buchdruck eine Lösung? Das ist die Denkbewegung.
Aber warum ist der Buchdruck eine Katastrophe? Weil offensichtlich bestimmte Kontrollmöglichkeiten über das, was sagbar ist, verschwunden sind. Vorher gab es eine Kombination von Kontrolle und Indifferenz, dann gab es Kritiküberschuss und jetzt gibt es Kontrollüberschuss. Kritiküberschuss heißt: Man kann nicht mehr - jedenfalls nicht mehr so leicht - kontrollieren, was die Gläubigen eigentlich glauben sollen. Intentional war, den Leuten Bücher zu geben, wo das drinsteht. Doch dann stellte man fest: Lesen ist eben mehr als Wahrnehmung, als passive Rezeption. Schon die einfachsten Dinge, die ich lesen kann, kann ich unterschiedlich interpretieren. Im Prinzip ist die Katastrophe also eine Hermeneutisierung der Welt. Die Hermeneutik gibt es ja nur deswegen, weil man Texte unterschiedlich lesen kann. Und auf einmal wird aus dieser Spezialdisziplin etwas für ein lesendes Publikum, das sagt: Nee, nee, nee, das Gleichnis ist ganz anders gemeint, das besagt eigentlich das Gegenteil. Und die Heilige Schrift ist nur ein kleiner Teil. Es entsteht auf einmal die Idee des Autors - eine wahnsinnig gefährliche Figur. Es war eine Katastrophe, dass die Leute auf einmal anfangen, selber etwas zu schreiben, Welten zu entwerfen. Literatur entsteht. Es entsteht ein Sinnüberschuss. Und zur Schriftlichkeit gehört noch mehr. Man kann auf einmal protokollieren. Und dann heißt es: "Letzte Woche haben Sie doch … gesagt, hier steht es doch!" Und der Buchdruck distribuiert dies sogar für Personen, die gar nicht daran beteiligt sind. Es entsteht ein Publikum. Das sind alles Dinge, die für uns selbstverständlich sind, die es aber vorher nicht waren. Das ist eine Katastrophe, nicht im Sinn einer sichtbaren Revolution, aber im Hinblick auf die Sinnverarbeitung in einer Gesellschaft. Einerseits müssen Autoritäten erleben, dass ihre Autorität schwindet, andererseits müssen sie mehr Energie darauf verwenden, zu zeigen, dass sie Autoritäten sind. Der Staat erfindet sofort nach dem Buchdruck - was? Die Zensur. Zensur ist im Grunde eine der größten Anerkennungen von Schriftlichkeit, die man sich vorstellen kann.
Kann man in diesem Sinne die Aufklärung als Versuch verstehen, mit dieser Katastrophe umzugehen? Als Antwort auf den Kritiküberschuss, der durch die Erfindung des Buchdrucks entsteht?
Vermutlich ist die Aufklärung selber Teil dieses Kritiküberschusses. Aufklärung will Freiheit und Einschränkungen zusammendenken. Alle liberalen Philosophien haben ein Bezugsproblem: nämlich, dass der Mensch frei ist und trotzdem das Richtige tun soll. Die Aufklärung ist ein Versuch, diese Freiheitseinschränkung normativ aufzuwerten: Man soll wollen, was man soll. Das ist Aufklärung. Und es ist die Idee, Kritik zu kanalisieren, und zwar in Form von Selbstkritik: Wie handle ich richtig? Handle so, dass du wollen kannst, dass die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz werden kann - das heißt ja nicht: Tu, was du willst. Sondern: Tu, was du willst, wenn du das Richtige willst. Schränke dich angemessen ein. Das ist die Universalisierung von Kritik. Das Kriterium ist das Gewissen. Insofern ist die Antwort auf die Frage, ob die Aufklärung eine Verarbeitung von Kritiküberschuss ist: Sie ist es, indem sie selber Kritiküberschuss übt.
Der wahrscheinlich nächste Schritt sind Steuerungsformen, die mit Kontrollüberschuss zu tun haben: Sie zielen darauf, durch Nudging, durch das Platzieren von Informationen, durch Manipulation von Semantiken, durch Werbung, durch Teilnahme an bestimmten Diskursen, auch durch offene Kontrolle wie in China, das Verhalten der Menschen zu steuern.
Wenn sich die Aufklärung auf den Kritiküberschuss bezieht, welche Antworten finden Gesellschaften auf den Kontrollüberschuss?
Das ist eine offene Frage. Die Antwort haben wir noch nicht. In meinem Buch drehe ich den Spieß um: Natürlich haben wir diesen Kontrollüberschuss: Es gibt Leute, die wissen mehr über uns als vielleicht gut ist, das ist eine Machtposition, wir fühlen uns in unserer Privatheit bedroht. Aber gleichzeitig gilt: Wenn wir uns dagegen wehren, dann versuchen wir, etwas zu retten, was es in dieser Form nie gegeben hat - so als sei Privatheit eine nicht durch Gesellschaft formierte Sphäre gewesen. Sie haben nicht umsonst nach der Aufklärung gefragt. Die Aufklärung ist ein Selbstvervollkommnungs- und Selbstkontrollprogramm. Ich wende mich dagegen, auf einmal so zu tun, als sei erst mit der Digitalisierung dieses Selbstkontrollprogramm in die Gesellschaft gekommen. Es ist jetzt ein anderes Selbstkontrollprogramm. Und das Handy ein Selbstkontrollapparat. Wir machen ein Monitoring von allem, von Körperfunktionen, von geistigen Funktionen, von unseren Tätigkeiten, und im Arbeitsleben kann man genau tracken, wer an seinem Apparat wann was macht. Wir hinterlassen überall Daten. Überall fallen Daten an, die man mitkontrollieren kann. Das ist eine andere Art von Kontrolle, aber auch vorher gab es schon Kontrolle. Vielleicht wird das Gewissen heute durch Smartphones ersetzt.
Shoshana Zuboff sagt, es entstehe eine neue Macht, die darauf basiert, dass es möglich wird, menschliches Verhalten zu überwachen, zu rendern, zu kontrollieren und zu beeinflussen. Sie teilen die These?
Ich teile die These, aber das Buch ist mir mit zu viel Verve geschrieben. Durchaus sympathisch, aber als Analyse würde mir das nicht reichen. Zuboff ist vor allem am Machtaspekt interessiert, ich bin daran interessiert, wie dieser Machtaspekt entsteht: In sozialen Medien werden Daten erhoben, die nicht identisch sind mit den Daten, die wir dorthin schreiben. Facebook ist nicht dazu da, damit wir kommunizieren können, sondern wir kommunizieren, damit Daten anfallen, mit denen Facebook etwas anderes machen kann. Das ist etwas völlig Neues, das hat es vorher so nicht gegeben. Das Geschäftsmodell des digitalen Kapitalismus besteht darin, dass die Daten selbst als Daten eine Machtposition - zumindest eine ökonomische Machtposition - produzieren. Ob sie auch eine politische Machtposition konstruieren, darüber muss man nachdenken. Aber diese ökonomische Machtposition ist da. Warum sonst gibt es Kapitalkonzentrationen ausgerechnet da, wo die Daten sind? Das Kapital geht immer dorthin, wo es sich vermehren kann. Und das ist heute nicht mehr die klassische Realwirtschaft. Sondern dort, wo die Daten sind. Doch der digitale Kapitalismus wird unterschätzt, wenn man ihn nur als ökonomisches Phänomen begreift. Eben deswegen, weil diese Datenkonzentrationen ja auch in allen anderen Funktionssystemen der Gesellschaft eine riesengroße Rolle spielen. Wissenschaft zum Beispiel ist ohne Zugang zu großen Datenmengen überhaupt nicht mehr möglich, und das gilt auch für andere Bereiche.
Zuboff kommt ja bezogen auf den Datenkapitalismus zu dem Appell: Seid Sand im Getriebe! Also: Verweigert euch, macht nicht alles mit. Ihr Buch hingegen endet eher optimistisch. Sie sagen: Wenn es stimmt, dass sich die Digitalisierung auf die Komplexität der Gesellschaft bezieht, dann liegt darin eine Chance.
Wenn ich ehrlich bin, nervt es mich, wie selbstverständlich diese starken Sätze wie "Verweigert euch, seid Sand im Getriebe" erwartet werden. Also eine Antwort, wer eigentlich verantwortlich ist - sprich: "Wen müssen wir aufhängen?" Das wäre ja toll, wenn die Welt besser würde, wenn man wüsste, wen man aufhängt. Aber so ist die Welt nicht. Um Ihre Frage ernsthaft zu beantworten: Der Optimismus ist kein Zweckoptimismus. Sondern zumindest der Versuch, anzuerkennen, dass wir das Digitale nicht wieder loswerden. Die technische Formierung der ganzen Gesellschaft funktioniert dadurch, dass die Technik da ist, dass sie funktioniert und dass sie sich dadurch so festsetzt, dass wir ohne diese Struktur nicht mehr leben können. Konkret gesagt: Man hat die Illusion, sein Leben zu führen, steckt aber viel stärker in diesen technischen Infrastrukturen drin, als man denkt. Insofern ist es kein optimistisches Ende. Sondern eines mit einem Appell: Was machen wir eigentlich damit? Und dann wird man feststellen, dass vieles von dem, was man damit macht, wiederum sehr paradoxe Folgen hat. Wir stellen fest, dass diese Digitaltechnik - und da ist sie dann schon disruptiv im Sinne von sehr stark verändernd - Strukturen hervorbringt, die wir mit den klassischen politischen und rechtlichen Regulierungsformen, die wir kennen, offenbar nicht so leicht in den Griff bekommen.
Liegt eine Chance darin, dass Digitalisierung eine sehr viel feinere Steuerung von Gesellschaft ermöglicht, die ja dann eigentlich eine Selbststeuerung ist?
Ja. Steuerung der Gesellschaft ist immer Selbststeuerung, denn sie passiert in der Gesellschaft. Aber sie ist feiner und sie greift in algorithmischer Form sehr differenziert in die Prozesse der Gesellschaft ein. In immer mehr Bereichen sind es algorithmische Entscheidungen, die uns zu etwas veranlassen. Bruno Latour hat gesagt, ein Akteur ist etwas, was uns zu etwas bringt, etwas zu tun, was wir sonst nicht tun würden. Das passiert oftmals in sehr unverdächtigen Bereichen. Beispiel Verkehrsleitsysteme, die algorithmisch je nach Verkehrsaufkommen funktionieren und uns dazu bringen, so zu fahren, wie wir fahren. Wir denken aber, wir selber hätten das mit der grünen Welle so gut hingekriegt. Aber das wird von woanders gesteuert. Ähnlich ist es in vielen anderen Bereichen, in der Medizin, an der Börse und so weiter. Diese Form der Steuerung wirkt direkt hinein in das Leben. Da besteht Forschungsbedarf. Zum Beispiel was sich in den verschiedenen Funktionssystemen durch Algorithmen, durch digitale Zurechnung, durch handelnde und erlebende Technik empirisch verändern. Etwa in der Logistik, wo Algorithmen verschiedenste Prozesse miteinander synchronisieren, was der Mensch überhaupt nicht mehr leisten kann.
Das war jetzt schön gesagt: was der Mensch gar nicht mehr leisten kann. Das meinte ich mit Selbststeuerung: dass keine steuernde Instanz mehr da ist, sondern die Steuerung algorithmisch ins System wandert und zur Systemfunktion wird.
Das ist genau das, wofür ich mich interessiere: Wie das passiert und wie wir damit umgehen. Und das ist schon viel präsenter, als uns bewusst ist. Wir erleben die Demütigung, dass diese Apparate die entscheidenden Muster besser erkennen als wir selbst. Die Sozialwissenschaften sind selbst ein Teil dieser Demütigung: Sie demütigen die Menschen, indem sie ihnen sagen: Ihr seid gar nicht so autonom, wie ihr glaubt. Ihr spult sehr stereotype Muster ab, mit Variationsmöglichkeiten natürlich. Doch das ist demütigend, weil wir feststellen, dass diese Apparate durch Mustererkennung Prozesse steuern können, die so komplex sind, dass wir nicht mehr mitkommen. Da das technisiert ist, fällt es uns zum Teil gar nicht auf. Es fällt nicht auf, wenn es funktioniert. Die spannende Frage ist, ob diese Angst, dass da etwas entsteht, das eine Qualität hat, die besser ist als der Mensch, Rückwirkungen auf unsere Kultur haben wird.
Da komme ich wieder auf das Modell der funktional differenzierten Gesellschaft zurück. Die größten Probleme in dieser Gesellschaft werden dadurch hervorgerufen, dass die Funktionssysteme so gebaut sind, dass sie keine internen Stoppregeln haben. Man kann mit allem Geschäfte machen, man kann alles politisch beherrschen, kann alles rechtlich regeln, kann über alles forschen. Interne Stoppregeln gibt es nicht. Und das scheint für diese Art von Technik auch zu gelten. Ich habe noch nicht zu Ende gedacht, was das bedeutet. Wird das irgendwann dazu führen, dass wir diesen Apparaten Fehler durchgehen lassen? Dann wird es echt ernst. Dann bekommen die Dinger Personenstatus, mit all dem, was wir aus unserer religiösen und philosophischen Tradition der Imperfektion und Unverfügbarkeit des Menschen kennen. Am Ende kommt es darauf an, was wir diesen Apparaten zugestehen.
Lassen Sie uns zum Schluss noch das Thema Verdoppelung der Welt ansprechen. Indem die Geräte miteinander interagieren, nimmt die Datenmenge zu. Immer mehr dieser Welt wird codiert und in Medien niedergelegt. Gewinnt das jetzt eine neue Dimension?
Diese Theorie der Verdoppelung, muss ich gestehen, funktioniert zwar inhaltlich, ist aber in der Rezeption ganz schwierig. Der Begriff führt viele in die Irre. Die Idee der Verdoppelung meint eigentlich nur die klassische Zeichen-Paradoxie, dass das Zeichen für Baum kein Baum ist. Die Paradoxie liegt darin, dass wir nicht den Baum als Zeichen von dem Baum als Baum unterscheiden: Für beides verwenden wir das Zeichen Baum. Da kommen wir auch nicht raus. Diese Verdoppelungen sind aber eigentlich keine Verdoppelungen der Welt, sondern sie sind Repräsentationen, die wie Verdoppelungen aussehen. Die Zeichenwelt sieht aus wie diese Welt. Ich habe dazu die Idee formuliert, dass die funktionale Differenzierung die Welt multipel verdoppelt. Wir verdoppeln die Welt ökonomisch, politisch, rechtlich, wissenschaftlich. Verdoppeln heißt nicht, dass sie noch mal vorkommt, sondern dass unser Bild der Welt in diesem Doppel ein ökonomisches ist.
Daten funktionieren nun ganz ähnlich wie die Schrift und die Sprache. Auch in den Daten gibt es diese Verdoppelung der Welt. Das heißt, die Daten stehen für eine Welt, die sie aber selber sind. Das ist das gesamte Geheimnis der Verdoppelung. Manche Leute aber haben das so rezipiert, als würde die ganze Welt, so wie sie ist, in den Daten abgebildet. Natürlich ist genau das Gegenteil das Argument: Die Welt ist eben nicht so, wie sie ist, in den Daten abgebildet. Sondern die Welt erscheint so, wie sie in den Daten abgebildet wird. Das ist der Unterschied.
Aber das, was in den Daten abgebildet ist, wächst exponentiell. Früher wurde codiert, was von Bedeutung war. Heute werden alltägliche Dinge codiert und gespeichert. Alles wird in der digitalen Welt repräsentiert.
Das ist eine Erfahrung, die man auch mit der Schrift gemacht hat. Anfangs waren Bücher aufwendig herzustellen und wahnsinnig teuer. Und entsprechend wenig wurde aufgeschrieben und distribuiert. Inzwischen distribuiert man alles, und zwar auf Papier. Und nun wird es noch einfacher, weil man alles elektronisch verbreiten kann. Und das Spannende ist, dass es keine Stoppregeln dafür gibt, wenn sich das mal bewährt hat. Daten haben sich total bewährt. Die Folgen sind ambivalent: Immer mehr Daten und immer mehr Daten führen dazu, dass die Dinge sowohl sichtbarer als auch unsichtbarer werden. Das kann man kritisieren, keine Frage.
Aber die viel spannendere Frage ist doch: Was macht das mit einer Gesellschaft und wie muss sie sich darauf einstellen? Kann sich eine moderne digitale Gesellschaft auf ihre Digitalität einstellen? Darauf haben wir noch relativ wenig Antworten. Doch da ereignen sich Disruptionen. Und Routinen ändern sich total. Wir haben gar nicht über Öffentlichkeiten geredet. Natürlich ändern sich Öffentlichkeiten. Geschwindigkeiten ändern sich. Die Frage, wer wen beobachtet. Die Frage, was eine relevante Information ist. Die Gatekeeperfunktion in der öffentlichen Kommunikation verschwindet. Da ereignen sich Umbrüche, und zugleich sieht man, wie träge so eine Gesellschaft ist.
Das Interview haben wir in einem persönlichen Gespräch im Büro von Prof. Dr. Armin Nassehi am Institut für Soziologie in München geführt.
Zitate
"Gesellschaften sind immer träger als ihre Beschreibungen." Interview Armin Nassehi: Die Digitalität der Gesellschaft
"Neues kann sich nur stabilisieren, wenn es sich in die Kontinuität der Gesellschaft einfügt." Interview Armin Nassehi: Die Digitalität der Gesellschaft
"Welches Problem löst Digitalisierung? Meine Antwort: Die Komplexität der Gesellschaft in eine handhabbare Form zu bringen." Interview Armin Nassehi: Die Digitalität der Gesellschaft
"Bis in die heutige Zeit ist unsere Art des Denkens immer noch sehr deduktiv-hierarchisch: Wir gehen von allgemeinen Begriffen aus und deduzieren nach unten - dieses Denken bildet fast die Struktur einer feudalen Gesellschaft ab." Interview Armin Nassehi: Die Digitalität der Gesellschaft
"Man kann eigentlich nur noch Wahrscheinlichkeitsbeziehungen beschreiben, und das erhöht die Komplexität der Welt." Interview Armin Nassehi: Die Digitalität der Gesellschaft
"Die Digitalität ist in die Struktur der Gesellschaft selber eingebaut." Interview Armin Nassehi: Die Digitalität der Gesellschaft
"Natürlich haben wir diesen Kontrollüberschuss: Es gibt Leute, die wissen mehr über uns als vielleicht gut ist, das ist eine Machtposition, wir fühlen uns in unserer Privatheit bedroht. Aber gleichzeitig gilt: Wenn wir uns dagegen wehren, dann versuchen wir, etwas zu retten, was es in dieser Form nie gegeben hat - so als sei Privatheit eine nicht durch Gesellschaft formierte Sphäre gewesen." Interview Armin Nassehi: Die Digitalität der Gesellschaft
"In sozialen Medien werden Daten erhoben, die nicht identisch sind mit den Daten, die wir dorthin schreiben. Facebook ist nicht dazu da, damit wir kommunizieren können, sondern wir kommunizieren, damit Daten anfallen, mit denen Facebook etwas anderes machen kann." Interview Armin Nassehi: Die Digitalität der Gesellschaft
"Immer mehr Daten und immer mehr Daten führen dazu, dass die Dinge sowohl sichtbarer als auch unsichtbarer werden." Interview Armin Nassehi: Die Digitalität der Gesellschaft
"Kann sich eine moderne digitale Gesellschaft auf ihre Digitalität einstellen?" Interview Armin Nassehi: Die Digitalität der Gesellschaft
"Wir erleben die Demütigung, dass diese Apparate durch Mustererkennung Prozesse steuern können, die so komplex sind, dass wir nicht mehr mitkommen." Interview Armin Nassehi: Die Digitalität der Gesellschaft
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Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. C.H.Beck, München 2019, 352 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-406-74024-4
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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