Sinn steuert

Wie Organisationen wirken - ein Essay von Frank Boos und Gerald Mitterer

Organisationen sind - ja, was eigentlich? Auf jeden Fall bestehen sie aus ihren Mitgliedern - falsch! Wie meist ist alles ein bisschen komplexer. Was Organisationen sind und wie sie wirken, erläutern unsere Autoren in ihrem Grundlagenessay. Frank Boos und Gerald Mitterer sind Autoren der im Carl-Auer Verlag erschienenen Einführung in das systemische Management.

Im Fährhafen von Calais im Norden Frankreichs, Ende der 1970er-Jahre: Fährschiffe unterschiedlichster Reedereien stehen zum Einsteigen bereit. Passagiere, manche in ihren Autos, manche zu Fuß, suchen nach dem Schiff, das sie gebucht haben. Hinweisschilder scheinen eher zu Dekorationszwecken angebracht, kreatives Chaos beherrscht das Bild. Ruhig nach dem richtigen Weg zu suchen, um sich dann in die passende Schlange einzureihen, ist offenbar ein fremdes Konzept für die Menschen im Hafen von Calais. Und doch findet im teils fröhlichen, teils hektischen Gewirr jeder seinen Platz.  

Knapp zwei Stunden später gehen dieselben Passagiere in Dover am Südostzipfel Englands wieder von Bord. Ruhig und geordnet betreten sie englischen Boden und orientieren sich an den Leitsystemen, um zu weiteren Transportmitteln zu gelangen. An den Ticketschaltern bilden sie ordentliche Reihen, und auch die Autofahrer können plötzlich in geordneten Reihen von der Fähre und hin zur Straße fahren. In wundersamer Weise scheinen in England einige wenige Hinweisschilder und Schranken Ordnung in die gleiche Menschenmasse bringen zu können, die ähnliche Regeln in Frankreich hartnäckig ignoriert hat. 


Das Wunder von Dover


Wie ist das möglich? Wenn man nicht an ein Wunder glauben will, könnte man verschiedene Modelle für den Versuch einer Erklärung heranziehen. Je nachdem, welche "Theoriebrille" der jeweilige Betrachter trägt, kommt er dabei zu unterschiedlichen Auslegungen. Ein Vertreter der klassischen Managementtheorie würde möglicherweise einen Mangel an Hinweisschildern und Schranken in Frankreich diagnostizieren. Mit einer sozialpsychologischen Erklärung und dem Hinweis auf die unterschiedlichen Sozialisationen in England und Frankreich würde man nicht weiterkommen, da das Verhalten unabhängig von der Nationalität der Passagiere zu beobachten ist und nur davon abhängt, ob diese sich auf englischem oder französischem Boden aufhalten.  

An dieser Stelle sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass das Phänomen auch bei umgekehrtem Weg - von Dover nach Calais - beobachtbar ist. Systemtheoretisch erklären sich die Unterschiede im Verhalten der Passagiere so: Im Kontext Frankreich erscheinen andere Handlungen für die Akteure angemessen als im Kontext England. Die inneren Annahmen über den jeweiligen Kontext bestimmen und verändern das beobachtbare Verhalten: In Frankreich ist für die Reisenden offenbar chaotisches Durcheinander angebracht, wohingegen man sich in England auf ein regeltreues Benehmen einstellt. 


"Es könnte so, aber auch ganz anders sein"


Die Systemtheorie liefert Grundlagen, mit denen sich solche und andere Phänomene in sozialen Systemen begreifbar machen lassen. Je nach Kontext sind bestimmte Interventionen und Kommunikationen mit höherer Wahrscheinlichkeit wirksam als andere. Einen absoluten Wahrheitsanspruch - diese Handlung ist richtig, diese ist falsch - erhebt die Systemtheorie, auch aufgrund ihres konstruktivistischen Unterbaus, jedoch nicht. Patentrezepte gibt es nicht. Oder anders formuliert: In der systemischen Haltung "könnte es so, aber auch ganz anders sein". Das empfinden Manager, die nach einer eindeutigen Lösung suchen, häufig als unbefriedigend. "Es könnte so, aber auch ganz anders sein" wirkt aber auch entlastend und unserer Erfahrung nach äußerst inspirierend und erfolgsanregend. Diese Haltung lädt ein, sich für einen Standpunkt zu entscheiden: Selbst wenn die Handlung (das Anstehen in Dover oder Calais) die gleiche ist, ändert die "Theoriebrille" unsere Beobachtung und Interpretation der Situation. Jede Beobachtung beginnt also - bewusst oder unbewusst - immer auch mit einer Entscheidung über die Kategorien der Beobachtung.  

Das Bild, das man sich von Organisationen macht, beeinflusst dabei das Verständnis von Management und umgekehrt. Jeder Manager handelt vor dem Hintergrund seiner spezifischen Annahmen zu "Organisation": Annahmen darüber, woraus die Organisation besteht, wie sie funktioniert, welche Rolle ein Manager dabei spielt et cetera. Und die Kollegen machen das auch. Allerdings oft mit ganz anderen inneren Bildern. Viele Reibungsverluste in Managementteams beruhen auf unterschiedlichen Annahmen der einzelnen Teammitglieder. Deren unterschiedliche Annahmen bilden zwar die Basis für ihre konkreten Handlungen, werden aber meist nicht diskutiert und bleiben den anderen daher verborgen. Missverständnisse sind die häufige Folge.


Organisationen bestehen nicht aus ihren Mitgliedern


Um das Eigentliche, das Wesen von Organisationen zu verstehen, müssen wir die Menschen zunächst einmal vor die Türe setzen: Organisationen bestehen nicht aus ihren Mitarbeitern. Diesen seinerzeit radikalen Gedanken von Chester Irving Barnard, einem US-amerikanischen Organisationstheoretiker, präzisierte der deutsche Jurist und Soziologe Niklas Luhmann ab den 1960er-Jahren in der neueren Systemtheorie, indem er Menschen zur "Umwelt" von Organisationen zählt. Die Abgrenzung von Organisation und Person ist eine der ganz wesentlichen Annahmen der Systemtheorie: Menschen gehören nicht zur Organisation, sie sind Teil der Umwelt. So bleibt die Organisation unabhängig von individuellen Menschen entscheidungs- und handlungsfähig.  

Der Gedanke, Personen nicht als Teil von Organisation zu sehen, weckt Unbehagen, erscheint unnatürlich und ist (anfangs) schwer zu fassen. Das liegt wohl auch daran, dass wir uns heute stark mit "unseren" Organisationen identifizieren: Wir stellen uns im privaten Kreis als Mitglied "unserer" Organisation vor oder verteidigen "unsere" Organisation gegen Kritik.


Keine Organisation will den "ganzen Menschen"


Die Annahme, dass Menschen Teil der Organisation sind, lässt sich bei genauerem Hinsehen nicht halten: Keine Organisation will den "ganzen Menschen". Keine Organisation will ihre Mitarbeiter mit all ihren Wünschen, Sorgen und gesundheitlichen Problemen, Hobbys und Eigenheiten. Jede Organisation würde unter dieser Last im Chaos versinken und zusammenbrechen. Vielmehr schützen sich Organisationen vor diesen allzu menschlichen Seiten. Manche unterbinden sogar Geburtstagsfeiern in den Büros oder die Zugriffe auf bestimmte Internetseiten. Umgekehrt will der Einzelne auch, dass Privates privat bleibt und nicht alles in die Organisation getragen wird. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps!  

Nicht einmal die Vorstellung, dass Organisationen von den gewünschten beruflichen Anteilen bestimmter Menschen gebildet werden, gibt ein tragfähiges Bild: Wenn Organisationen aus Personen bestehen könnten, müssten konsequenterweise die intelligentesten Organisationen wohl jene mit den klügsten Menschen sein. So müssten die Institutionen wie Universitäten oder Unternehmensbereiche, deren Mitarbeiter den höchsten IQ haben, die intelligentesten Organisationen stellen. In der Praxis ist das nicht immer so, wie man das selber leicht feststellen kann.


Organisationen brauchen Menschen als Teil ihrer Umwelt


All das bedeutet nun nicht, dass Organisationen ohne Menschen existieren könnten. Ganz im Gegenteil: Organisationen brauchen Menschen. Menschen stellen Organisationen ihre Wahrnehmungen, Handlungen und ihr Gedächtnis zur Verfügung. Organisationen können nicht riechen, schmecken, denken, sich selbst beobachten oder sich ohne menschliche Hilfe erinnern.  

Mit diesem gedanklichen Modell mutet es besonders seltsam an, wenn wir im allgemeinen Sprachgebrauch so tun, als ob Organisationen Subjekte wären: "Da musste Siemens reagieren ..." Organisationen sind mit ihren Mitarbeitern eng verbunden, so wie Unternehmen mit wichtigen Kunden eng verbunden sind. Sie bilden als System-Umwelt eine Einheit, die sich gemeinsam entwickelt. 


Organisationen bestehen aus ihren Entscheidungen


Wenn es nicht die Mitarbeiter sind, die eine Organisation ausmachen, woraus besteht dann eine Organisation? Sie besteht aus ihren Kommunikationsmustern, einem unendlichen Fluss von Entscheidungen. Während Personen kommen und gehen, gilt: Solange Organisationen entscheiden, existieren sie. Sobald sie aufhören, zu entscheiden, sind sie tot, so der deutsche Soziologe Niklas Luhmann. Jede lebendige Organisation muss entscheiden. Ab der Gründung einer Firma oder eines Vereins muss über Ein- und Auszahlungen, Umgang mit Mitgliedern, Termine et cetera entschieden werden. Entscheidungen erneuern laufend die Grenze zwischen Organisation und Umwelt, die jedes System braucht.  

Verschwimmt diese Grenze, löst sich die Organisation auf. Dies kann man bei der Übernahme eines Unternehmens durch ein anderes gut beobachten. Wenn nicht mehr eigenständig entschieden wird, fällt die Systemgrenze weg, und das übernommene Unternehmen ist geschluckt - und nur mehr Geschichte. Eine Insolvenz und die Bestellung eines Konkursverwalters kann deshalb mit dem Koma eines Patienten verglichen werden. Daher sind Organisationen so bedacht darauf, zu zeigen, dass sie besonders in Krisensituationen handlungsfähig - also entscheidungsfähig - bleiben. Bei einem plötzlichen Ausscheiden von zentralen Personen oder einer existenziellen Krise muss die Organisation symbolisch zeigen, dass sie handlungsfähig ist. Zwei Beispiele dazu: In der Finanzkrise etabliert eine Bank ein Krisenboard, das sich aus Topführungskräften unterschiedlicher Ebenen zusammensetzt, sich täglich morgens trifft und schnelle Entscheidungen fällen kann. Oder: Unmittelbar nach dem Flugzeugabsturz des Firmengründers tritt der Nachfolger (der sich darauf nicht vorbereiten konnte) an die Öffentlichkeit und thematisiert den Verlust und gleichzeitig den Weg nach vorne. 


Sinn steuert die Entscheidungen


Basiselement von Organisationen ist die einzelne, noch so kleine Entscheidung, dabei müssen Entscheidungen auf Entscheidungen folgen. Organisationen bestehen aus einer endlosen Kette von Entscheidungen, die unmöglich zu dokumentieren oder auch nur wahrzunehmen sind. Da eine Organisation nicht alles verarbeiten kann, was sich in den Umwelten abspielt, muss sie auswählen. Wie sie diese Auswahl trifft, steuert der Sinn. "Sinn kann sowohl in Weltbildern, Werten, Normen, Rollen et cetera ‚eingefroren‘ sein, als auch in laufenden Interaktionen produziert oder ausgehandelt werden", schreibt Helmut Willke, Professor für "Global Governance".  

Sinn ist immer organisationsspezifisch. Er ist notwendig, um zu unterscheiden, welche Kommunikation zu einem System gehört und welche nicht. An einem einfachen Beispiel wird das deutlich. Bei einem Flirt zwischen einer Frau und einem Mann machen Komplimente, schüchternes Lachen, die Einladung zu einem Drink et cetera Sinn. Sinnlos wären zum Beispiel wechselseitige Beschimpfungen, Desinteresse, Zeitung lesen, Mails am Handy checken et cetera. Aus dem Zusammenspiel von relevanten Umwelten, inneren Strukturen und Sinn entsteht die Identität einer Organisation. Auch wenn sich durch bestimmte Gemeinsamkeiten Archetypen von Organisationen ergeben, ist die Identität jeder Organisation einzigartig - McDonald’s ist nicht Burger King, Lufthansa nicht Air Berlin.


Meta-Entscheidungen als Orientierung


Innerhalb der Organisationen fungieren sogenannte Entscheidungsprämissen als Richtschnur für Entscheidungen. Entscheidungsprämissen, die nach Niklas Luhmann "Entscheidungen, die Prämissen für eine noch unbestimmte Vielzahl anderer Entscheidungen festlegen", sind. Prämissen dienen nach dieser Definition als gültige Entscheidungsgrundlagen für spätere Entscheidungen. Man kann die Entscheidungsprämissen auch Meta-Entscheidungen nennen, Entscheidungen, die "über" anderen Entscheidungen liegen und diese beeinflussen. Ihre langfristige Gültigkeit wird als gegeben angesehen: Wenn eine Firma beispielsweise entscheidet, nach Russland zu expandieren, trifft sie damit eine Festlegung, an der sich weitere Entscheidungen orientieren. Wer setzt diese Investition um, wo wird gebaut oder wird gemietet, welche staatlichen Unterstützungen können genutzt werden et cetera? Prämissen können aber auch in kleinerem Rahmen gesetzt werden. Häufig finden wir in Organisationen beispielsweise die Entscheidungsprämisse "Wir müssen bis zum Ende der Sitzung entscheiden". Diese Prämisse beeinflusst die Entscheidungen, die während der Sitzung getroffen werden. Mit einer anderen Prämisse wäre der Sitzungsverlauf sehr wahrscheinlich anders, weil der festgelegte Entscheidungsrahmen ein anderer wäre.  

In Anlehnung an Luhmanns Theorie unterscheiden wir drei Entscheidungsprämissen, an denen Managementhandeln ansetzen kann: 

  • (Entscheidungs-)Programme

  • Strukturen/Prozesse

  • Personen

Beispiele für Entscheidungsprämissen in diesen drei Dimensionen sind unter anderem definierte Budgetierungsprozesse (Struktur-/Prozessebene) und Geschäftsfeld- oder Markenstrategien (Programme), die einmal festgelegt werden, dann häufig eine ganze Weile unhinterfragt gelten und damit leitend für eine Vielzahl nachfolgender Entscheidungen sind. Genauso wäre die Bestellung eines neuen Managers eine Entscheidungsprämisse auf Personenebene. Durch eine Person kommen bestimmte Sichtweisen, Einstellungen, Werte et cetera in die Organisation, die nachfolgende Entscheidungen beeinflussen. Durch die Veränderung einer der drei Prämissen kann man Veränderungen in der Organisation stimulieren. Sie sind damit Ansatz- und Orientierungspunkte für das Management und fungieren wie Stellhebel für Unternehmensentwicklung.  

Jede einzelne der Entscheidungsprämissen führt dazu, dass bestimmte Optionen in den Fokus genommen und andere ausgeschlossen werden. Damit fungieren die Entscheidungsprämissen wie ein Leitsystem für Kommunikationen und Entscheidungen. Entscheidungsprämissen helfen, die Komplexität zu reduzieren, die ansonsten überwältigend wäre und das Unternehmen lähmen würde.


Sonderfall Unternehmenskultur


Eine besondere Rolle kommt der Organisationskultur als viertes, nicht direkt steuerbares Element zu; Luhmann spricht von unentscheidbaren Entscheidungsprämissen. Kultur steht in einer Wechselwirkung mit den drei übrigen Entscheidungsprämissen, wirkt also auf sie ein und wird gleichzeitig von ihnen bestimmt. Doch über Kultur kann nicht entschieden werden. So macht es wenig Sinn, die Anweisung zu geben: Ab morgen haben wir eine wertschätzende, unternehmerische Führungskultur. Und Kultur kann - anders als Personen, Entscheidungsprogramme und Strukturen/Prozesse - auch nicht bestimmte Entscheidungen vorbereiten. Kultur wirkt anders und ist anders zu beeinflussen.  

Die luhmannschen Entscheidungsprämissen haben wir in einem Dreieck visualisiert, um deutlich zu machen, dass es Abhängigkeiten zwischen den Prämissen gibt und die Organisationskultur - in der Mitte dargestellt - nicht direkt beeinflusst werden kann.  

Management-Tool: Das "viereckige Dreieck"

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Das "viereckige Dreieck" dient dazu, einen klaren Handlungsfokus zu definieren, und unterstützt Manager, die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Prämissen mitzudenken. Es hat sich als besonders hilfreich herausgestellt, um in komplexen Situationen den Überblick zu bewahren und handlungsfähig zu bleiben. Es eignet sich beispielsweise sehr gut für:

  • Analyse der Ist-Situation: Welche Ursachen für Probleme lassen sich aus verschiedenen Perspektiven beobachten? Welche Stärken und Schwächen gibt es? Wo zeigen sich Inkonsistenzen? Welche Bereiche sind in der Organisation "gut beleuchtet" und welche eher gering ausgeprägt - und wie funktional ist das für die Ziele der Organisation?

  • Integrierte Strategiearbeit: Welche Maßnahmen auf Prozess-, Struktur- oder Personenebene braucht es, um die Umsetzung der Strategie zu fördern?

  • Change/Unternehmensentwicklung: Wo muss angesetzt werden, um die Zukunftsfähigkeit der Organisation zu sichern? In welchen Bereichen wären Steuerungsimpulse sinnvoll, um die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung zu erhöhen?

  • Auftragsklärung mit Beratern: Was steht im Fokus? Wofür sollen Maßnahmen entwickelt werden? Wo soll der Schwerpunkt des Beraters liegen?


Objektive Wirklichkeiten gibt es nicht


Management trifft Entscheidungen auf Basis von Informationen. Doch gehen wir davon aus, dass es keine objektiven Informationen gibt. Die Neurowissenschaften haben gezeigt, dass unser bewusstes Ich kaum Einfluss auf die "Realität" hat, die uns das Gehirn präsentiert. Das gilt selbst für scheinbar objektive Sinneswahrnehmungen wie das Sehen. Selbst wenn unterschiedliche Personen dasselbe Objekt anschauen, erkennen sie darin sehr wahrscheinlich völlig unterschiedliche Bedeutungen. Was wir sehen, ist nicht unbedingt das, was wir darin sehen. Sehen ist ein Konstrukt des Gehirns, das eine für uns nachvollziehbare, nützliche Geschichte erzählt. Die nachfolgende Anekdote verdeutlicht das.  

An einem trüben Samstagnachmittag in Wien war eine Familie mit zwei Kleinkindern auf einem Geburtstagsfest eingeladen. Das Buffet lockte mit allerlei Köstlichkeiten, unter anderem "Zwetschgen in Rum", die vom Vater der Familie ausgiebig verkostet wurden. Da die Kinder im Laufe der Feier aus unerklärlichen Gründen immer lauter und verhaltensauffälliger wurden, entschied die Familie, das Fest früher als eigentlich geplant zu verlassen. Auf dem Nachhauseweg im Auto - der Vater saß am Steuer - gerieten sie in eine Verkehrskontrolle. Der ältere Polizist ersuchte den Vater, für einen Alkoholtest ins Röhrchen zu blasen. Als dieses sich gerade verfärbte, forderte der fünfjährige Sohn lautstark ein, auch ins Röhrchen blasen zu dürfen. Der gutmütige Polizist willigte ein. Völlig unerwartet verfärbte sich das Röhrchen auch, als der Bub hineinblies. Etwas irritiert verglich der Polizist die beiden Röhrchen. Kurz darauf entschuldigte er sich beim Vater mit dem Worten "… diese Dinger funktionieren schon wieder mal nicht" und wünschte eine gute Heimfahrt. Zwei Minuten später fiel der Bub in einen Tiefschlaf, der vermutlich durch Zwetschgen in Rum bedingt war ...  

Für den Polizisten war es offensichtlich undenkbar, dass ein Fünfjähriger alkoholisiert ist. Daher konnten nur die Röhrchen fehlerhaft sein. Unsere Annahmen prägen das, was wir wahrnehmen und für wahr halten - und damit alle unsere Entscheidungen und Handlungen. Wie am Beispiel des Polizisten deutlich wird, sind Entscheidungen, die einer einfachen Wenn-dann-Logik folgen, oft nicht angemessen. Der Großteil der Entscheidungen, die wir unbewusst treffen, basiert jedoch wie bei einem Autopiloten auf solchen Logiken. 


Von der Hypothese zur Intervention


Die Herausforderung, insbesondere für wirksames Management, besteht in der Unterscheidung, was im "Autopilot-Modus" erfolgen kann, und wo es des Nachdenkens über bestehende Aktion-Reaktion-Muster bedarf. Dies braucht ein Innehalten. Was wäre passiert, wenn der Polizist kurz überlegt hätte, was noch zu diesem Ergebnis von zwei verfärbten Röhrchen führen könnte?  

Erst wenn man erkennt, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, kann man sich entscheiden. Dies gilt im Kleinen, also in einem Gespräch - wie reagiere ich auf diesen blöden Witz? -, genauso wie im Großen, wo es um bedeutsame Weichenstellungen geht. Die Entscheidung selbst ist ein Prozess mit vier einzelnen Schritten, die sich in einer Schleife verbinden lassen. In einem einfachen Gespräch zwischen zwei Personen geht dies so: Während der eine erzählt, hört der andere zu (nimmt die Informationen auf). Bei guten, tiefen Gesprächen folgt dann eine Phase des Nachdenkens (Hypothesen bilden). Dann entscheidet der Zuhörer, wie er fortsetzt (Stoßrichtung), bevor er spricht (Intervention). Dadurch unterscheiden die Gesprächspartner bewusst Aktion und Reflexion. In unbefriedigenden Gesprächen verschwimmt diese Trennung. Es wird schlecht zugehört und währenddessen schon die eigene Aussage vorbereitet. Im Großen vollzieht sich der Kommunikationsprozess genauso und ist bei wichtigen Entscheidungen und in Situationen der Veränderung noch bedeutsamer. Es gilt, Informationen sorgfältig aufzunehmen, sie zu interpretieren und in einen Zusammenhang zu stellen, bevor man sich überlegt, welche Optionen es gibt, fortzufahren und dann zu handeln. Diese vier Schritte durchläuft eine Entscheidung nicht nur einmal.  

Für Management bedeutet das Verständnis, Entscheidungen als einen Prozess zu sehen, eine Loslösung von dem Druck, nur die "richtigen" Entscheidungen zu treffen. Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern darum, möglichst rasch die Auswirkungen einer Entscheidung zu beobachten. Damit kann man die eigenen Annahmen überprüfen - und dabei lernen, wie die Organisation tickt -, bevor neue Entscheidungen getroffen werden.  

Management-Tool: Neuwaldegger Schleife
Das Modell der "Neuwaldegger Schleife" ist eine Gedankenbrücke, um aus festgefahrenen Wegen leichter herauszukommen, vorübergehend auf Distanz zu den eigenen Auffassungen zu gehen und auf neue Ideen zu kommen. Sie visualisiert die vier Schritte, bis aus einer Information eine Intervention wird. In die Neuwaldegger Schleife kann man mit einer beliebigen Frage einsteigen, die einen Entscheidungsbedarf aufwirft. Häufig ist die Frage am Anfang noch nicht ganz klar. So kann die Schleife auch dazu dienen, die Frage - oder das, was als Problem gesehen wird - zu schärfen und Klarheit über die eigentliche Problemstellung zu bekommen. 

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Eine wirksame Intervention ist anschlussfähig


Inwiefern ein "Einmischen" des Managers von der Organisation zugelassen wird, die Intervention also wirksam ist, hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Stefan Titscher beschreibt in Weiterentwicklung der Ideen des Sozialpsychologen Kurt Lewin die Wirksamkeit jeder Intervention (IW) als ein Produkt aus inhaltlicher Qualität (Q) und Anschlussfähigkeit (A): IW = Q x A  

Hinsichtlich der inhaltlichen Qualität ist die Frage, inwiefern die Intervention des Managers in ihrer Form und dem Thema nach angemessen ist. So kann ein Manager inhaltlich "falsche" Fragen stellen oder unpassende Vorschläge einbringen. Hier steht die fachliche Kompetenz des Managers im Vordergrund. Anschlussfähigkeit ist dann gegeben, wenn der Impuls eines Managers anregend wirkt - also die Organisation damit etwas anfangen kann, indem beispielsweise Diskussionen entstehen und damit weitergearbeitet wird. Zwar "entscheidet" letztlich das aufnehmende System (die Organisation) selbst über den Erfolg einer Intervention, doch lassen sich Kriterien definieren, die Anschlusskommunikation, also das Aufgreifen eines Impulses, wahrscheinlicher machen. Um wirksam zu werden, muss eine Intervention oder Entscheidung nicht akzeptiert werden. Wirksamkeit setzt keine Akzeptanz voraus. Um wirksam zu werden, muss die Intervention lediglich in der Organisation ankommen, also anschlussfähig sein.  


Quelle: Königswieser, Roswita; Exner, Alexander: Systemische Intervention. Architekturen und Designs für Berater und Veränderungsmanager. Stuttgart 1998 


changeX 13.03.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Einführung in das systemische Management. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2014, 128 Seiten, 13.95 Euro, ISBN 978-3-8497-0041-6

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Autor

Frank Boos
Boos

Dr. Frank Boos ist Geschäftsführer der Beratergruppe Neuwaldegg; Trainer des Neuwaldegger Curriculums für systemische Unternehmens-entwicklung. Berater für Strategie- und Organisationsprozesse; internationales Change-Management; Arbeit mit Managementteams und Familienunternehmen; Beraterfortbildung. Zahlreiche Veröffentlichungen.

Autor

Gerald Mitterer
Mitterer

Dr. Gerald Mitterer ist Berater bei der Beratergruppe Neuwaldegg; Trainer des Neuwaldegger Curriculums für systematische Unternehmens-entwicklung, Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen, Mitglied im Fachbeirat der Donau-Universität Krems; mehrjährige selbständige Trainertätigkeit. Schwerpunkte: Innovation und Strategieprojekte; Gestaltung und Begleitung von Unternehmensentwicklungs- und Change-Prozessen; Organisationsdesign; internationale Leadership-Development-Initiativen.

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