Über den Menschen hinaus

Doppelrezension: Anthropozän versus Novozän
Rezensionen: Carmen Bayer, Winfried Kretschmer

Das Holozän ist vorbei. Längst sind wir im Anthropozän, dem vom Menschen geformten Erdzeitalter angekommen. Unter dem Eindruck des Klimawandels wird dies langsam zur Gewissheit. Aber weist diese Entwicklung nicht längst über den Menschen hinaus? In eine ganz neue Epoche? Zwei Bücher zum Thema.

Ist der Mensch Teil des Systems Erde? Oder entwickelt sich dieses längst über ihn hinaus - mit seinem tatkräftigen Zutun? Das ist die Scheidefrage zwischen Anthropozän und Novozän.


Bestandteil des Systems


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Bereits vor knapp 20 Jahren postulierte der Nobelpreisträger Paul Josef Crutzen die Ablösung des Erdzeitalters Holozän durch das Anthropozän, also die vom Menschen geformte Epoche. Was aber bedeutet das Ende des Holozäns für die Geschichte der Menschheit und wie wirkt sich ein breites Verständnis des von Menschenhand geformten Zeitalters auf die Bekämpfung der Klimakrise aus? 

Eva Horn und Hannes Bergthaller setzen sich in ihrem Buch Anthropozän zur Einführung mit den diversen Bedingungen des menschengemachten Klimawandels auseinander, bieten eine fundierte theoretische Basis über die Grundzüge der neuen Epoche und stellen dar, worauf es im Umgang mit der Klimakatastrophe ankommen wird. 

Ein zentraler Punkt liegt in der Forderung nach der Aufhebung der systematischen Trennung von Natur und Kultur. "Wenn die Menschheit selbst zur Naturgewalt geworden ist und das Erdsystem in seiner Gesamtheit verändert, dann verliert die Scheidung von Natur und Kultur ihren Sinn." Dass sich Gesellschaften gegenwärtig nicht als Bestandteil der Natur wahrnehmen, wird am aktuellen Verständnis von Umweltschutz sichtbar: Umweltschutzmaßnahmen, so Bergthaller, bewahren kaum das Ursprüngliche in der Natur. Vielmehr werden Prozesse erarbeitet, welche die natürliche Umgebung an menschliche Bedürfnisse anpassen, was sich etwa im Aufbau von Krötentunneln oder Schadstoffobergrenzen verdeutlicht. 

Die Erkenntnis, Bestandteil des Systems zu sein, nicht aber es zu beherrschen, wird nicht ausreichen, um einen Wandel zu bewirken. Vielmehr müssen wir verstehen lernen, wie unser Verhalten als Menschheit die Erde beeinflusst. Die ökologische Perspektive "bezieht sich nicht mehr nur auf einzelne Ökosysteme, sondern auf das gesamte Erdsystem, und nicht auf menschliche Zeitmaße von ein paar Generationen, sondern auf geologische von vielen Jahrtausenden; nicht auf spezifische Individuen und Gemeinschaften, sondern auf die Menschheit". 

Anthropozän verdeutlicht die Notwendigkeit, Ursachen- und Wirkungszusammenhänge vom Beginn der neuen Epoche über politisches Verhalten bis hin zur Akkumulation individuellen Verhaltens auf "planetarischer" Ebene zu verstehen, um zielführende Lösungen erarbeiten zu können.


Eine andere Form von Beschleunigung


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Die Erde ist ein selbstregulierendes System, sie kann als ein einziger Organismus betrachtet werden - der Planet und das Leben auf ihm sind ein sich gegenseitig beeinflussendes Ganzes. Das ist der Kern der These, die der britische Wissenschaftler, Erfinder und Öko-Visionär James Lovelock vor 40 Jahren vorgelegt hat. Gaia nannte er dieses komplexeste aller Systeme und erntete dafür neben Zustimmung auch vehementen Widerspruch bis hin zum Esoterikvorwurf. In seinem neuen Buch, seinem vielleicht letzten, wartet der kürzlich 101 Jahre alt gewordene Forscher nun mit einer kaum weniger überraschenden These auf: Er proklamiert den Beginn eines neuen Erdzeitalters und nennt es Novozän. Während die Rede vom Anthropozän als dem ersten menschengemachten Erdzeitalter unter dem Eindruck des Klimawandels allmählich zum Gemeingut wird, ist Lovelock schon eins weiter. Er sieht eine neue Ära im Entstehen, die nach dieser vom Menschen dominierten Periode über diesen hinausweist. Sie ist charakterisiert dadurch, dass neue Lebensformen aufkommen, die sich aus Systemen künstlicher Intelligenz selbst entwerfen und erschaffen. Lovelock nennt sie Cyborgs: Wesen, die "bald tausend und schließlich Millionen mal intelligenter sein" werden als wir und die ihre überragende Denkfähigkeit auf die eigene Evolution anwenden. Mit ihnen "steuert unsere Herrschaft als alleinige Versteher des Kosmos rasant ihrem Ende zu", sagt Lovelock. 

Dies ist nicht die Annahme, dass Maschinen die Macht übernehmen. Es ist auch keine Variante der Singularitätsthese, jener vor allem von Ray Kurzweil, dem US-amerikanischen Autor, Erfinder, Zukunftsforscher und Director of Engineering bei Google, vertretenen Auffassung, der Punkt sei nicht mehr fern, ab dem sich selbst modifizierende Computer intelligenter werden als der Mensch und unsere Spezies überflügeln. Das klingt zwar ähnlich wie die Vision Lovelocks, ist aber ein deutlich ärmeres Konzept. Die Singularität definiert lediglich einen technischen Umschlagpunkt und beruht im Grunde auf einer simplen Extrapolation des exponentiellen Wachstums der Rechenleistung technischer Systeme. Lovelock hingegen denkt weiter, denkt über den Horizont hinaus. Für ihn besteht das Neue in einer qualitativen Veränderung. Wir erlebten "eine andere Form von Beschleunigung". Es ist die Fortsetzung der Evolution mit fortgeschrittenen Mitteln. Aus unseren technischen Erfindungen entstehe eine neue Form von Leben, und das "verwandelt die Evolution vom darwinistischen Prozess der natürlichen Selektion in die durch Menschen oder Cyborgs betriebene absichtsvolle Selektion". Und eine solche intelligente Selektion sei millionenfach schneller als die natürliche Auslese, führt Lovelock ins Feld - das ist die Beschleunigung, von der er spricht. Er begreift diesen Prozess als die Evolution eines Systems, das sich anschickt, ohne den Menschen seine Mission zu erfüllen. Die bestehe darin, ein intelligentes Universum zu schaffen. Es ist die Verbindung von Demut und Hoffnung, die Lovelocks so altersweises Buch auszeichnet. Demut sowohl gegenüber der Erde als sich selbst regulierendem System wie gegenüber dem Kosmos, der seiner Bestimmung zustrebt. Und Hoffnung, dass unser Beitrag, Wissen und Erkenntnis weiterzugeben, nicht ganz in Vergessenheit geraten wird. "Wir haben unsere Rolle erfüllt." 


Zitate


"Wenn die Menschheit selbst zur Naturgewalt geworden ist und das Erdsystem in seiner Gesamtheit verändert, dann verliert die Scheidung von Natur und Kultur ihren Sinn." Eva Horn, Hannes Bergthaller: Anthropozän zur Einführung

"Eine neue Welt ist im Bau." James Lovelock: Novozän

"Wir Menschen werden die Erde zum ersten Mal mit anderen Wesen teilen, die intelligenter sind als wir." James Lovelock: Novozän

"Wir bereiten uns nun darauf vor, das Geschenk des Wissens an die neuen Formen intelligenten Lebens zu übergeben." James Lovelock: Novozän

"Jede fortgeschrittenere Zivilisation als die unsere wird vermutlich elektronisch sein." James Lovelock: Novozän

"Wir haben unsere Rolle erfüllt." James Lovelock: Novozän

 

changeX 15.09.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zu den Büchern

: Anthropozän zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2019, 260 Seiten, 15.90 Euro (D), ISBN 978-3-96060-311-5

Anthropozän zur Einführung

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: Novozän. Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz. Verlag C.H.Beck, München 2020, 160 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 978-3406745683

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Autorin

Carmen Bayer
Bayer

Carmen Bayer ist Soziologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg. Sie schreibt als freie Mitarbeiterin für proZukunft. © Foto: Sarah Baier

Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.

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