Unsere Wahl
Es hat schon etwas von "same procedure": changeX kürt das Buch des Jahres. Auch 2016 mit Blick auf das Neue, Ungewohnte, auf die veränderte Perspektive. Und auch in diesem Jahr gibt es einen klaren Sieger in unserem Juryentscheid. Unsere Wahl fällt auf ein Buch mit dem unmissverständlichen Plädoyer, unsere Welt ins Gleichgewicht zu setzen. Für uns das Thema des Jahres: Ungleichheit, die Quelle der Schieflagen in unserer Welt. Dazu: Ökonomie neu gedacht - als Wachstum von Komplexität. Und ein entschiedenes Nein. Bitte sehr!
Wie im letzten Jahr gibt es eine klare Entscheidung - getroffen nicht von Algorithmen, sondern von einer Jury, die abwägt, wertet und diskutiert. Das Prozedere: Unsere Jurymitglieder wählten aus den changeX-Buchempfehlungen des Jahres eine Shortlist der wichtigsten Titel aus. In einer Jurysitzung via Skype diskutierten wir dann die Titel dieser Nominierungsliste und kürten das Buch des Jahres. Nicht der Titel gewinnt also, der numerisch die meisten Einzelvoten auf sich vereint. Sieger wird, wer in der abschließenden inhaltlichen Jurydiskussion überzeugt.
Unsere Wahl: Ungleichheit ist für uns das Thema des Jahres. Und Branko Milanović derjenige, der es am treffendsten auf den Punkt gebracht hat. Auf Platz zwei der überzeugende Versuch, die Ökonomie mit einem völlig neuen Gedankenmodell anders zu erklären und besser zu verstehen, vorgetragen nicht von einem der Platzhirsche der Lehre (die auch respektable Ansätze zur Erneuerung der ökonomischen Wissenschaft vorgelegt hatten), sondern von einem Querdenker, der die reine Lehre mit einem kühnen, überraschenden Ansatz neu aufrollt - von den Rändern her: César Hidalgo. Und auf Platz drei ein erfrischender Lobgesang auf den Widerspruch: NEIN von Anja Förster und Peter Kreuz.
1: Neu über Ungleichheit nachdenken
Branko Milanović: Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 312 Seiten, 25 Euro, ISBN 978-3-518-42562-6
Milanović bietet einen tiefen Einblick in eines der großen Themen, wenn nicht gar das Thema des Jahres 2016. Denn Ungleichheit, reale wie gefühlte, globale wie regionale, bildet den Boden, aus dem die systemische Krise des Westens erwächst. Zu diesem uralten, scheinbar bekannten Thema bietet Die ungleiche Welt neue Gedanken und vor allem Lösungsansätze. Dieses Buch unterläuft das allzu oft hohle Gerede von der großen weltweiten Ungleichheit mit differenzierenden Daten und ermöglicht so einen Blick auf Nötiges und Unnötiges, Mögliches und Unmögliches. So unaufgeregt, wie es einem großen historischen Ansatz entspricht, und so pragmatisch, wie es einem Ökonomen mit reicher praktischer Erfahrung geziemt. Sachlich, frisch, inspirierend. Wenn Lesebefehle nicht grober Unfug wären, dies wäre einer.
2: Geburt von etwas ganz Neuem
César Hidalgo: Wachstum geht anders. Von kleinsten Teilchen über den Menschen zu Netzwerken. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 288 Seiten, 25 Euro, ISBN 978-3-455-50308-1
Es kommt nicht so oft vor, dass man das Gefühl hat, bei der Geburt von etwas ganz Neuem mit dabei zu sein. Bei Hidalgo kann es einem so gehen: Die Weltgeschichte ist bei ihm keine Abfolge von großen Denkern oder Kriegern, von Klassenkämpfen oder Revolutionen, sondern von wachsender Komplexität. Furios verbindet Hidalgo Kosmologie und Ökonomie zu einer völlig neuen Perspektive auf Wachstum und krempelt damit unsere Sicht auf volkswirtschaftliche Zusammenhänge um. Er verwebt die Entstehung von Leben mit dem Wachstum von Volkswirtschaften und die Entstehung von Komplexität mit den Ursprüngen des Wohlstands. Es wirkt ein wenig so, als habe Hidalgo da einen Zipfel einer großen neuen Theorie erhascht, die noch Jahrzehnte für ihre Formulierung, Prüfung und Verfeinerung braucht. Hoffentlich bleiben ihm, der doch aus einer eigentlich ganz anderen Ecke kommt, die Lust und Zeit, sie auszuarbeiten - aus den traditionellen Gedankengebäuden wird ihm wohl nur wenig Unterstützung zuteilwerden, schließlich sind diese durch Hidalgos Denkansatz vom Einsturz bedroht. Aber: Hidalgos Modell hat das Potenzial, die verstaubte ökonomische Lehre von den Rändern her neu aufzurollen.
3: Lobgesang auf die Renitenz
Anja Förster, Peter Kreuz: NEIN. Was vier mutige Buchstaben im Leben bewirken können. Pantheon Verlag, München 2016, 256 Seiten, 14.99 Euro, ISBN 978-3-570-55342-8
Für frische Ideen waren sie immer gut: Anja Förster und Peter Kreuz, Berater, Coaches, Bühnentänzer mit einem knackig-fröhlichen Veränderungsratschlagskoffer. Immer auf der Suche nach dem, was den Unterschied macht, nach dem, was Spuren hinterlässt im Staub des Einerlei, haben sie nun nach der Wurzel gegraben. Und sind fündig geworden: Einen Unterschied machen heißt, Nein sagen. Das ist die Bedingung von Freiheit. Das neue Buch der beiden Business-Querdenker ist ein Angriff auf Harmonieseligkeit und Gleichdenkerei. Ein Plädoyer für Widerständigkeit und Rebellentum. Nicht nur (aber auch) in Unternehmen. Denn Neues entsteht nur aus dem Bruch mit dem Bestehenden. Damit landen Förster & Kreuz einen Coup mit bemerkenswertem intellektuellem Überbau. Neinsagen als neue Tugend im Zeitalter vermeintlicher Alternativlosigkeit. Ein Aufruf zum Selberdenken in bester aufklärerischer Tradition. Dazu ein entschiedenes JA!
Zitate
"Wir versuchen nicht länger, die Unterschiede zwischen den wirtschaftlichen Akteuren, Unternehmen oder Personen hinter Durchschnittswerten zu verbergen, sondern wir tun genau das Gegenteil: Wir versuchen, Unterschiede zu finden. Haben wir einmal begonnen, die Welt durch diese neue Brille zu betrachten, können wir nicht mehr zur alten Methode zurückkehren." Branko Milanović: Die ungleiche Welt
changeX 20.12.2016. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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César Hidalgo: Wachstum geht anders. Von kleinsten Teilchen über den Menschen zu Netzwerken. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2016, 288 Seiten, 25 Euro, ISBN 978-3-455-50308-1
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Anja Förster, Peter Kreuz: NEIN. Was vier mutige Buchstaben im Leben bewirken können. Pantheon Verlag, München 2016, 256 Seiten, 14.99 Euro, ISBN 978-3-570-55342-8
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Autor
Jury Buch des Jahres 2016Das Buch des Jahres wählten: Detlef Gürtler, Chefredaktor des Schweizer Wissensmagazins GDI Impuls gehörte als externes Mitglied der Jury an. Er ergänzte das Team der changeX-Stammautoren Anja Dilk, Dominik Fehrmann und changeX-Chefredakteur Winfried Kretschmer.