Wer bin ich, was kann ich, wohin will ich?
Ein Interview mit Rüdiger Preißer vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung.
2,2 Milliarden Euro werden Jahr für Jahr in die fachliche Weiterbildung gesteckt. Für Rüdiger Preißer oft rausgeschmissenes Geld. Denn Hard-Skill-Trainings können die Arbeitsmarktfähigkeit nur kurzfristig steigern. Ein Gespräch über Selbsterkenntnis und Selbstmanagement.
Durch den schnellen Wandel müssen
die Menschen immer häufiger den Job oder sogar den Beruf
wechseln. Deshalb werden Transferqualifikationen, Fähigkeiten,
die ihnen helfen, solche Übergänge zu meistern und sich beruflich
umzuorientieren, immer wichtiger.
Rüdiger Preißer, Politikwissenschaftler, Pädagoge,
Soziologe und Bildungsforscher am Deutschen Institut für
Erwachsenenbildung (DIE) in Bonn hat diese Qualifikationen
untersucht.
Durchschnittlich bleiben die Menschen heute nur noch vier
Jahre in einem Job. Und immer mehr wechseln im Laufe ihres Lebens
auch den Beruf. Wird sich dieser Trend fortsetzen? In Amerika
bleiben viele Mitarbeiter gerade mal ein Jahr bei ihrem
Arbeitgeber.
Das liegt auch daran, dass die Arbeitsschutzgesetze
schlechter sind als bei uns. Was Vor- und Nachteile hat: Es führt
dazu, dass der Arbeitsmarkt in den USA sehr viel flexibler ist
und man in den Unternehmen häufiger Stellen neu besetzen kann.
Ganz so wie in Amerika wird es bei uns aber hoffentlich
nicht werden, auch wenn bei uns die Menschen in der Zukunft
häufiger den Job oder den Beruf wechseln werden als bisher. Die
Zeiten, da jemand eine Lehre macht und dann bis zur Rente in
demselben Beruf bleibt, sind vorbei. Für den Einzelnen und für
die Gesellschaft ist es weder gut, wenn jemand sein ganzes Leben
lang nur ein und dieselbe Tätigkeit ausübt, noch wenn er die
Tätigkeiten so häufig wechselt wie sein Hemd.
Die "Transferqualifikationen", die Sie untersuchen, sind noch
nicht sehr bekannt. Von Schlüsselkompetenzen im Rahmen der
beruflichen Weiterbildung ist überall die Rede - von der
Fähigkeit, Übergänge zu meistern, kaum. Doch genau sie brauchen
die Menschen, um in der heutigen Arbeitswelt bestehen zu
können.
Ja, das stimmt. Das Schlagwort Schlüsselqualifikationen ist
schon Ende der 60er Jahre in die Diskussion gekommen, heute
heißen sie Soft Skills. Man meint damit in der Regel Flexibilität
und Mobilität. Also eher reaktive Kompetenzen, die es einem
erleichtern, sich an die Verhältnisse, so, wie sie sind,
anzupassen. Aber heute wird mehr von den Individuen verlangt:
eine aktivere Rolle gegenüber der Umwelt. Die Fähigkeit, eigene
Ideen, Ziele und Pläne zu entwickeln, sich selbst und seinen
Lebensverlauf zu entwerfen, zu planen und zu steuern, das alles
geht weit über reine Soft Skills hinaus.
Aber auch das will gelernt und trainiert sein.
Das ist richtig. Beigebracht werden den Menschen in erster
Linie fachliche Dinge. Aber die Kompetenz, die eigene
Berufsbiographie und Karriere zu planen und zu steuern,
vermitteln einem weder die Schule noch berufsvorbereitende
Lehrgänge. Hinzu kommt: Viele Leute rechnen nicht damit, dass sie
sich beruflich umorientieren müssen. Sie möchten Sicherheit und
stellen sich darauf natürlich lieber ein als auf
Diskontinuitität.
Die Menschen müssen sich in eine aktivere Rolle begeben - und
fühlen sich erst einmal orientierungslos, weil niemand sie dabei
unterstützt.
Ja. Dabei stehen Jugendliche beim Berufsstart und
Erwachsene beim Berufswechsel vor einer ähnlichen Situation. Sie
fragen sich: Was kann ich tun, welchen Beruf sollte ich
ergreifen, was ist das Richtige für mich? Viele schauen dann auf
den Arbeitsmarkt, aber zu wenig auf das, was sie selbst können,
auf ihr eigenes Potenzial. In den USA wird man, wenn man sich auf
eine Stelle bewirbt, gefragt: "Was möchtest du zu unserer Firma
beitragen und was ist dein Profil?" Das heißt, es wird die
Gestaltungsfähigkeit und der Gestaltungswunsch abgefragt. Wenn
man die meisten Arbeitskräfte in Deutschland mit dieser Frage
konfrontiert, antworten sie gewöhnlich: "Das weiß ich nicht",
weil sie so etwas nie gefragt worden sind und es sich dadurch
auch nie überlegt haben. Ich glaube, wenn man diese Menschen
dabei unterstützt, herauszufinden, wo ihr Potenzial liegt, und
ihnen hilft, es bei sich selbst zu erschließen, übernehmen sie
bereitwilliger Verantwortung für ihr eigenes Leben und sind auch
motivierter.
Wer kann sie dabei unterstützen? Coaches? Das Arbeitsamt?
Manager bekommen im Rahmen von Outplacement-Maßnahmen
solche Coachings. Manchmal so lange, bis sie eine neue Stelle
gefunden und die Probezeit überstanden haben. Das ist natürlich
sehr teuer, und für Leute wie Sie und ich wird so etwas auch
nicht angeboten. Deshalb haben wir an unserem Institut Kurse
entwickelt, die zum Beispiel das Arbeitsamt finanzieren könnte.
Doch im Moment fixiert man sich dort noch zu sehr auf die
fachliche Weiterbildung. Beispiel: In den Neuen Bundesländern
sind nach der Wende Arbeitslose im Baugewerbe weitergebildet
worden. Heute steckt die Branche in der Krise, die Maßnahmen
waren für die Katz. Statt die Leute fachlich zu schulen, sollte
das Arbeitsamt die Menschen dazu befähigen, selbst zu
entscheiden, wie der Lebensweg - auch der fachliche und
berufliche - für sie weitergeht.
Zeigen denn die Konzepte der Hartz-Kommission diese neue
Haltung?
Nein. In diesen Konzepten und auch schon im
Job-Aqtiv-Gesetz wird der entgegengesetzte Weg beschritten. Er
sieht vor, dass die Arbeitslosen ein Assessment-Verfahren - das
so genannte Profiling - durchlaufen sollen; damit will man die
Wahrscheinlichkeit einschätzen, ob jemand eine gute Chance hat,
wieder Arbeit zu finden. Bei solchen Assessments entdeckt der
Kandidat nicht selbst sein Potenzial, sondern wird von außen
begutachtet und bekommt dann irgendwelche Dienstleistungen
verordnet. So werden die Leute verwaltet statt befähigt.
Letztlich wird damit genau das erzeugt, was man angeblich am
wenigsten will: Konsumhaltung statt Eigenverantwortung. Aber wenn
man mit den Leuten redet, merkt man, was die alles noch in ihrer
Freizeit machen und über wie viel Fähigkeiten und Erfahrungen die
tatsächlich verfügen, die aber gar nicht zur Kenntnis genommen
werden und ihnen auch selbst oft gar nicht bewusst sind.
Also müsste ein grundlegendes Umdenken stattfinden.
Man müsste in der Zukunft stärker darauf hinarbeiten.
Beispiel: PISA. Auch dort hat sich herausgestellt, dass es
wichtig ist, bei den fachlichen Lernzielen zu entrümpeln und
stattdessen zu lehren, wie man lernt, wie man mit dem Gelernten
umgeht und es auf andere Bereiche transferiert. Im Moment gibt es
beim Arbeitsamt einen Zielkonflikt: Man will die Arbeitsuchenden
rasch aber auch nachhaltig vermitteln. Die Arbeitsmarktpolitik
ist aber zu sehr auf das kurzfristige Ziel ausgerichtet,
Statistiken zu bereinigen. Dafür werden jährlich 2,2 Milliarden
Euro investiert - wie gesagt: in fachliche Weiterbildung, nicht
in die Förderung vorhandener Potenziale und
Selbstmanagement-Kompetenzen.
Wie wird denn in anderen Ländern die Fähigkeit vermittelt,
Übergänge zu meistern? Gibt es Vorbilder für Deutschland?
Da kann ich nur Vermutungen anstellen, denn wir sind erst
dabei, internationale Kooperationen aufzubauen. Es gibt in
Ländern ohne ein duales Berufsbildungssystem, in denen außerdem
der Arbeitsmarkt nicht durch so viele Bestimmungen reguliert ist
wie in Deutschland, wahrscheinlich mehr Diskontinuität in den
Erwerbsbiographien. Deshalb haben diese Länder mehr Erfahrungen
mit solchen Übergängen, und es gibt mehr unterstützende
Institutionen. In den USA zum Beispiel hat jede Hochschule einen
"Career Service", der den Absolventen hilft, in den Arbeitsmarkt
einzusteigen. In Deutschland kümmern sich die Hochschulen nicht
um ihre Absolventen, weil bei uns Freiheit von Forschung und
Lehre obenan steht, aber nicht die Verpflichtung auf
gesellschaftliche Erfordernisse.
Ist es für den Einzelnen schwer, selbst solche
Transferqualifikationen aufzubauen?
Die besten Chancen haben dabei natürlich diejenigen, die
eine gute Erstausbildung haben. Je besser die Ausbildung, desto
größer ist die Lernbereitschaft und natürlich die Lernfähigkeit.
Lernen schließt ja immer auch eine Irritation ein. Ich lerne,
weil ich etwas nicht weiß. Diese Irritation des zeitweiligen
Nicht-Wissens oder Nicht-Könnens auszuhalten, fällt manchen
Menschen schwer, vor allem jenen, die erniedrigende oder
beschämende Erfahrungen in der Schule gemacht haben. Die geben
dann sofort auf. Wer mit Lernen gute Erfahrung gemacht hat, also
diese notwendigen Grenzen des Nicht-Wissens überwunden hat, ist
nicht irritiert oder schämt sich, weil er etwas nicht weiß,
sondern ist neugierig - und entwickelt eine zukunftsgerichtete
Energie.
Entscheidend ist aber auch der Job. Je interessanter die
Tätigkeit, die ich verrichte und je größer mein Entscheidungs-
und Gestaltungsspielraum, umso eher bleibe ich geistig rege und
desto kontinuierlicher lerne ich, wenn auch oft beiläufig. Durch
Situationen, in denen ich mich bewähren muss, in denen ich an
meine Grenzen stoße und sie überwinden muss.
Hat man diese Herausforderungen nicht, leidet also die
Flexibilität.
Richtig. Menschen, die eine sehr einseitige oder sogar
stupide Tätigkeit verrichten, können ihr vorhandenes Potential
nicht ausnutzen. Im Gegenteil, sie müssen sich in einer gewissen
Weise klein machen, um diese Arbeit überhaupt ausführen zu
können. Wenn solche Leute entlassen werden, haben sie Angst vor
neuen Herausforderungen und sich auf etwas Neues einzulassen,
weil sie nicht wissen, wo ihre Grenzen sind, und sich
dementsprechend nicht viel zutrauen.
Aber viele haben mehr Fähigkeiten, als sie denken - nur eben
nicht in einer offiziellen Ausbildung erworben, sondern
autodidaktisch, im Alltag oder in der Freizeit. Welche Bedeutung
hat in Zukunft dieses "informelle Wissen"?
Man verspricht sich zur Zeit viel davon. Denn schließlich
lernt jeder informell. Bei unserem kleinen Kind kann man das sehr
gut beobachten. Es lernt beiläufig ungeheuer schnell und viel. In
etwas gedrosselter Geschwindigkeit geschieht das im Grunde
während des ganzen Lebens. Diese großen Potenziale sind den
meisten Menschen gar nicht bewusst, deshalb werden sie auch
selten erschlossen und schon gar nicht strategisch eingesetzt,
beispielsweise in Bewerbungssituationen. In unserer Untersuchung
haben wir beispielsweise Arbeiter im gewerblichen Bereich nach
ihren Kenntnissen und Kompetenzen gefragt - sie haben sie in der
Regel gar nicht gekannt, oder wenn, höchstens auf berufsfachliche
Bereiche bezogen. Dass sie vielleicht im Sportverein Erfahrungen
gesammelt haben, wie man Jugendliche coacht, oder nebenbei eine
Familienfeier mit 100 Personen organisiert, und damit
organisatorisches Geschick bewiesen haben, oder dass eine Mutter
mit zwei Kindern hohe Kompetenzen im Zeitmanagement braucht -
darauf wären sie nie gekommen. Deshalb geht es bei solchen
Unterstützungsmaßnahmen, wie wir sie in unserem Projekt
entwickelt haben, zunächst darum, dass die Menschen entdecken,
was bereits alles in ihnen steckt. Das stärkt auch das
Selbstbewusstsein, was wiederum eine wichtige Voraussetzung für
Lernbereitschaft und Zukunftsfähigkeit ist.
Hat das etwas mit dem Verschmelzen von Arbeit und Freizeit zu
tun, das Forscher beobachten?
Wenn Sie eine Arbeit mit großen Gestaltungspotenzialen
haben, mag das durchaus sein. Aber ob bei einem Arbeiter, der am
Fließband steht, Arbeit und Freizeit verschmelzen, wage ich zu
bezweifeln. Man muss auch sehr stark zwischen Männern und Frauen
unterscheiden. Das konventionelle männliche Modell ist, dass
beide Bereiche stark getrennt werden. Man kommt von der Arbeit
und redet wenig darüber, weil man nun Freizeit hat. Frauen haben
in der Regel daheim keine Freizeit, sondern erledigen
Familienarbeit wie Kochen und Kinderbetreuen. Deshalb arrangieren
sie das Verhältnis zwischen beruflicher und außerberuflicher
Sphäre ganz anders als Männer - auch wenn bei jüngeren Männern
die Trennung im Auflösen begriffen ist.
Das Problem ist nur - und das betrifft vor allem Frauen -,
dass informell erworbene Kompetenzen von den Unternehmen nicht
oder nur kaum anerkannt werden.
Das Paradoxe ist tatsächlich, dass Frauen aufgrund ihrer
Verantwortlichkeit für Beruf und für Freizeit häufig
vielfältigere Kompetenzen haben als Männer, gewissermaßen breiter
angelegt sind, vielleicht weniger linear denken, aber mehr
Gesichtspunkte in ihre Überlegungen einbeziehen. Das betrifft vor
allem den Bereich der sozialen Kompetenzen, die angeblich in der
Wirtschaft so stark gefragt sind. Aber dennoch werden sie
gegenüber Männern, die darüber weniger verfügen, benachteiligt.
Das wird sich jedoch, glaube ich, in der Zukunft teilweise
ändern. Zumindest in der Erwachsenenbildung gibt es immer mehr
Bemühungen, solche Kompetenzen zu dokumentieren und zu
zertifizieren. Zum Beispiel hat die Bundesregierung vor, einen
Weiterbildungspass einzuführen, bei dem im Alltag und informell
erworbene Fähigkeiten dokumentiert und damit anerkannt werden.
Ein gutes Konzept -auch wenn wir uns die zwei Seiten vor Augen
halten müssen: Einerseits wird all das, was ich mir als
Autodidakt angeeignet habe, endlich anerkannt. Andererseits
besteht die Gefahr der gläsernen Arbeitskraft.
Sylvia Englert, Journalistin und Buchautorin, ist Redakteurin bei changeX.
preisser@die-bonn.de
www.die-frankfurt.de
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