Exzentrische Frevler
Die changeX-Buchkolumne für das Wirtschaftsmagazin brand eins. | Folge 4 |
Ist der kurze Sommer der Anarchie schon wieder vorbei? Bei einem Blick auf den Buchmarkt scheint es so. Viel Altersstarrsinn, kaum wilde Querdenker. Doch es gibt auch in diesem Frühjahrsprogramm Autoren, die tapfer gegen den Mainstream anschreiben.
Nichts ist unmöglich. Nachdem die
Pioniere der Neuen Ökonomie erst das Laufen und dann das Schweben
gelernt hatten, runzelten die nadelgestreiften Altvorderen in den
Finanztempeln die Stirn und warfen tiefe Falten. Als die so
Gefalteten schließlich getagt hatten, stand der Ratsschluss fest:
Zuviel des Guten! Husch, husch, zurück ins Körbchen! Bevor die
Verrückten noch etwas anstellen und die Gemäuer einstürzen. Der
Rest ist Geschichte. Die Entrückten fanden sich jäh auf dem
Hosenboden wieder. Und dort dürfen sie jetzt unter Aufsicht
ehrwürdiger Professorengestirne wieder alte Businesspläne
schreiben. In Managementkursen werden wieder Masse und Macht
gelehrt. Nach A kommt B, Ordnung vor Wildwuchs, Marketing vor
Idealen. Stellt sich die Frage: War denn wirklich alles nur ein
kurzer Ausrutscher im kurzen Sommer der Anarchie?
Man könnte es fast glauben, wenn man in die Buchprogramme
des Frühjahrs blickt. Wenig zu sehen von wilden Management- und
Businessideen, dafür darf hochwohlgeborener Altersstarrsinn
glänzen. Ganz nach dem Motto: Hinter jeder erfolgreichen Idee
steht ein Grundlagenwerk. Doch keine Sorge: Gequatscht wird
überall. Und unter dem Pflaster keimt noch immer der Strand. So
höret, bald schon werden sie wieder sprießen: die Gedankenreisen
der furchtlosen Abweichler, bedingungslosen Querdenker,
exzentrischen Frevler, spontanen Ekstatiker und stolzen
Erkenntnisapostel. Und die biederen GrauMaliks und DünnHenkels
werden wieder ins dröge Fachbuch oder auf das Rednerpult
verbannt.
Lockes zweiter Streich nach dem Cluetrain-Manifest.
Vertreiben wir uns die Zeit
zwischenzeitlich mit ein paar Spitzbuben. Christopher Locke wurde
hierzulande als einer der Autoren des
Cluetrain-Manifests bekannt. Im Mai 1996 hatte er überdies
im Internet ein kleines Webzine mit E-Mail-Liste gegründet. Der
Titel: Entropy Gradient Reversal, kurz EGR. Das Rezept: Leser,
mögliche Sponsoren und Kunden werden hemmungslos durch den Kakao
gezogen, bis hin zur Verleumdung. Locke nennt sich im Netz
RageBoy. "Er vereinigt alle meine schlechtesten Eigenschaften und
Charaktermängel in so etwas wie einer separaten Persönlichkeit,
die sich frei im Internet bewegen darf und mittlerweile ein
beunruhigendes Maß an Autonomie erlangt hat. Er ist mein
amoklaufendes Science-Fiction-Monster." Mit dieser Masche zieht
Locke mittlerweile über 5.000 regelmäßige Leser in den Bann.
Jetzt hat er sein illustres Treiben mit dem Begriff
"Gonzo-Marketing" auf den Punkt gebracht. Darin fordert er die
Abkehr vom herkömmlichen Massenmarketing und Big Business. Mit
Gonzo entstehen gefühlsechte "Beziehungen zu den neu entstehenden
Online-Gemeinschaften". Man ist mittendrin, engagiert, mit
Leidenschaft dabei, ist nicht nur Beobachter oder Abzocker, mit
Blick auf den eigenen Vorteil und Profit. Oder anders
ausgedrückt: Unternehmen bringen sich voll ein in die neuen
Mikromärkte im Internet. Nehmen dort Bedürfnisse ernst und lassen
den Kunden mitgestalten und mitregieren. Im Internet, so Locke,
ist es erstmalig möglich, was im Industriezeitalter vollkommen
unmöglich war: Menschen beginnen sich über Dinge auszutauschen,
die ihnen wirklich am Herzen liegen. In kleinen Communitys,
kleinen Zirkeln und kleinen Produktliebhabergemeinschaften. Small
is beautiful! As it ever was!
Schwachsinn, grunzen die Massenmarketing-Statthalter. Das
koloniale Erfolgsrezept hat sich bewährt. Über Massenmedien
ballern wir so lange Schrot ins Massenpublikum, bis eine
höchstmögliche Anzahl von "Kunden" getroffen ist. Locke
umschreibt dies eleganter mit: "Broadcast-Verfahren auf abstrakte
Kundensegmente". Die Macht des Massenmarketings scheint indes
immer noch unbegrenzt zu sein. Über AOL, Time Warner, Walt Disney
in den USA, über Kirch, Middelhoff und Burda hierzulande werden
Kontaminierungsflächen geschaffen, an denen jeder kleben bleibt.
Nein, ballt Locke die Fäuste und krempelt die Revoltionärsstutzen
hoch. "Diese Art, die Welt in eine Form zu pressen, kollidiert
frontal mit dem Internet. Das Internet gibt jedem eine Stimme.
Und vox populi - die Stimme des Volkes - ist weit vitaler als die
sterilen Verlautbarungen der Unternehmen und
Medienkonzerne."
Geheimtipp Saunders.
In der neueren amerikanischen Literatur wird ebenfalls vermehrt die Feder gegen die großen Erzählungen des Mainstreams erhoben. Ein absoluter Geheimtipp diesbezüglich ist der New Yorker George Saunders, dessen Erzählband Pastoralien gerade so wunderbar von Frank Heibert ins Deutsche übertragen wurde. Saunders begibt sich mittelstürmergleich dorthin, wo es weh tut. Gerempelt, gestoßen, getreten, gefoult, gezwickt, bespuckt und angekratzt liegen seine Opfer im Strafraum der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und sehnen sich immergleich nach jenem Augenblick, um wie Phönix aus der Asche zu steigen. Bizarre und groteske Erzählungen führen den Leser an den Rand einer gleichgeschalteten Dinosaurier-Ökonomie. Die Großkopferten versperren den Blick auf die Kleinkopferten, argwöhnt Saunders und zerrt Letztere ans Licht der Aufmerksamkeit. Meisterhaft etwa dargestellt in der Eingangserzählung, wo zwei Laienschauspieler als Steinzeithöhlenmenschen in einem Erlebnispark herumturnen. In seinen kleinen Erzählsträngen verheddern sich Männer, die an den Rockzipfeln ihrer Mütter hängen und von Befreiung tagträumen, ebenso wie einsame Angestellte, die von windigen Seminartrainern auf Veränderungspfade genötigt werden. Thanx, Mr. Saunders, wir haben verstanden. Nehmt endlich die Schwachen ernst. Lasst Träume sprießen. Denn "die Wahrheit ist das, wodurch geschieht, was wir geschehen lassen wollen".
Peter Felixberger ist Publizist und Lektor sowie Geschäftsführer der changeX GmbH.
Christopher Locke:
Gonzo Marketing. Nur die Verrückten überleben,
Financial Times Prentice Hall, München 2002,
288 Seiten, 19,95 Euro,
ISBN 3-8272-7057-X
George Saunders:
Pastoralien,
Berlin Verlag, Berlin 2002,
208 Seiten, 18 Euro,
ISBN 3-8270-0394-6
Zu Folge 1:
Handverlesen
Zu Folge 2:
Von grenzenloser Freiheit und Entjungferung auf Raten
Zu Folge 3:
Und ewig droht der Kapitalist
Zu Folge 5:
Volle Dröhnung
© changeX [28.02.2002] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zu den Büchern
Christopher Locke: Gonzo Marketing. Nur die Verrückten überleben. Financial Times Prentice Hall, München 2002, 208 Seiten, ISBN 3-8272-7057-X
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George Saunders: Pastoralien. Berlin Verlag, Berlin 2002, 208 Seiten, ISBN 3-8270-0394-6
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Autor
Peter FelixbergerPeter Felixberger ist Publizist, Buchautor und Medienentwickler.