Lust. Last. Mist.
Dancing - das neue Theaterstück von Natacha de Pontcharra.
Die Firmentoilette als Panoptikum der Arbeitswelt. Fünf Menschen spinnen ein Beziehungsgeflecht aus Macht, Erniedrigung, aus Mobbing und Intrigen, aus großen und kleinen Verletzungen. Die Firmentoilette als Schauplatz kleiner Zurichtungen und großer Beschädigungen. Eine schrille Parabel über das, was Menschen so treiben, während sie arbeiten: Karriere und Selbstverwirklichung fest im Blick, die Kollegen abschätzig im Visier und den täglichen Frondienst tonnenschwer auf den Schultern. Ein sehenswertes Theaterstück über Lust und Last der Arbeit. Jetzt im Theater Ingolstadt.
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Beziehungsgeflecht aus Macht, Erniedrigung, Mobbing und Intrigen.
Dancing erzählt freilich nicht nur die Geschichte dieser
Demütigung. Pontcharra hat die Story um- und ausgebaut. Der
Befehl, weiterzutanzen, bildet nur den Kulminationspunkt, den
makabren Höhepunkt einer szenischen Revue, die sich um eine
Unternehmenskultur dreht, in der die Beziehungen auf Macht
gründen und die Erniedrigung des Anderen als eigener Sieg
gefeiert wird. "Mich hat es interessiert, die Mechanismen und die
spezifischen Machtmissbräuche in der Arbeitswelt zu untersuchen",
beschreibt die Schriftstellerin das Anliegen ihres Stückes. Fünf
Personen (plus die Stimme des obersten Chefs aus dem Off) reichen
ihr, um auf der Bühne den Mikrokosmos eines Unternehmens
entstehen zu lassen. Zwischen diesen fünf entspinnt sich ein
Beziehungsgeflecht aus Macht, Erniedrigung, aus Mobbing und
Intrigen, aus großen und kleinen Verletzungen in einem
Unternehmen, von dem man nur so viel erfährt, dass es auf
internationalen Märkten tätig ist - ein Global Player also.
Das Unternehmen dient aber nicht nur als Kulisse für
menschliche Abgründe, sondern ist selbst der Abgrund, in dem sich
menschliche Tragödien abspielen. Es herrscht die blanke Angst,
die Angst vor dem Versagen, die Angst vor dem Verlust des
Arbeitsplatzes. Mit Ironie und einem guten Schuss Boshaftigkeit
zeichnet Pontcharra die schöne neue Arbeitswelt. Glücklicherweise
lässt sie die Moralkeule im Requisitenlager. Das Stück ist daher
keine moralisierende Abrechnung mit der bösen Wirtschaftswelt,
wie sie derzeit auf dem Literaturmarkt en vogue ist. Es ist kein
Lehrstück, das eine Wahrheit verbreiten will, sondern ein
überzeichnetes Psychogramm eines Betriebes. Und eine Parabel über
das, was die Menschen dort treiben - während sie arbeiten. Mit
Konsequenzen: Für viele Menschen ist der Arbeitsplatz zum
zentralen sozialen Ort in ihrem Leben geworden, wichtiger als
Familie, Freizeit, Urlaub. Und es ist nur konsequent, wenn
Literatur und Theater die Arbeitswelt zu ihrem Spielfeld
machen.
"In den Sanitäranlagen eines Unternehmens."
Schauplatz des Stückes ist indes
kein Großraumbüro oder Chefzimmer, sondern die luxuriös
ausgestattete Firmentoilette. Chrom, Spiegel, senfgelbe Kacheln,
Wascharmaturen, die automatisch aus der Wand fahren - das ist der
Schauplatz der elf Szenen des Stücks. Ein Kunstgriff, der mitten
in dem funktional organisierten und geregelten Raum des
Unternehmens einen Ort der zufälligen Begegnung und der
Privatheit schafft. Auf der Toilette wird geredet, wie sonst
vielleicht nur auf dem Flur, flüsternd über zwei Schreibtische
hinweg oder hinter vorgehaltener Hand. Hier begegnen sich
Mitarbeiter zufällig und ungeplant, reden frei von Termindruck
und Aufgabenplanung. Nicht zuletzt ist der Ort auch Kommentar -
Sätze, die anderswo Eindruck heischen, wirken hier leicht
anrüchig, erhalten den Beigeruch der Latrinenparole. Das
Bühnenbild trägt einen Hauch von Absurdität in das Geschehen.
Diese Firmentoilette ist der Schauplatz von Begegnungen und
kleinen Geschichten, die von "kleinen Zurichtungen und großen
Beschädigungen" erzählen. Da ist zunächst Monsieur Simon, der
Manager, der sich von Job suchenden Arbeitslosen verfolgt sieht,
vor ihrem Ansturm auf die Toilette flieht, dort aber von einem
Bewerber namens Brunier aufgespürt wird, diesen erst zur Schnecke
und dann zu seinem persönlichen Assistenten macht - und damit
nichtsahnend selbst die Säge am Bein seines
Abteilungsleiterstuhles ansetzt. Simon ist die tragische Figur im
Stück, persönlich und beruflich erledigt. Während seine Position
in der Firma unterminiert wird, ist seine Ehe bereits am Ende;
von der Haushälterin erfährt er via Handy, dass ihn seine Frau
verlassen hat.
"Man verbiegt mir absichtlich den Nagel, und dabei macht man mich kaputt."
Da ist überdies Estelle, die
hochhackige Karrierefrau im bürograuen Business-Kostüm, die den
tragischen Tod ihres Hundes nie verwunden hat, sich nun zwanghaft
um die Sauberkeit der Toilette sorgt und sich dabei von einem
unbekannten Kollegen verfolgt sieht, der immer wieder den Nagel
für das Handtuch aus der Wand reißt: "Man verbiegt mir
absichtlich den Nagel, und dabei macht man mich kaputt."
Dann Hélène, die schüchtern-naive Angestellte, die hofft,
beim ersten internationalen Meeting ihre Fremdsprachenkenntnisse
zur Geltung zu bringen, aber leider erfahren muss, dass sie als
das "flachste Mädchen der Etage" eine lebende Sushi-Platte für
die japanischen Gäste abgeben soll, nackt auf dem Teakholztisch -
"eine echt gute Idee der Kommunikation von Monsieur Simon", wie
dessen persönlicher Assistent Fabrice Brunier Speichel leckend
preist.
Brunier, der Ex-Arbeitslose, im Sanitärraum zum
persönlichen Assistenten geadelt, ist der Aufsteiger, der seine
Chance zu nutzen weiß. Er entpuppt sich als kühl kalkulierender
Karrierist, dem sein Förderer auf dem Weg nach oben nur im Weg
steht. Und es dauert nicht lange, bis er ihn beiseite geräumt
hat. Ein paar Interna über Simon, die er dem obersten Chef im
Aufzug in die oberen Etagen steckt, das reicht. Monsieur Simon
ist erledigt - und Brunier, der seine biedere Business-Kluft
gegen einen weißen Anzug getauscht hat, wechselt zum Abschluss
seiner Metamorphose die Straßenschuhe gegen zum Outfit passende
weiße Sneaker. Und bezieht das Büro über dem von Simon.
"In einem Unternehmen hat jeder die Pflicht, mittelmäßig zu sein."
Brunier ist der Prototyp des
Angestellten im Großunternehmen; er verkörpert das
Handlungsmuster, das Abertausende von Bruniers in den
Großraumbüros Tag für Tag leben. Das Mittelmaß als Maßstab: "In
einem Unternehmen hat jeder die Pflicht, mittelmäßig zu sein,
sein kleines Bündel auf seinem Weg zu tragen, im rechten Rhythmus
mit den anderen." Die Gunst des Augenblicks zu nutzen gilt als
legitim, zu viel zu tun dagegen als unkollegial. "Ein Team muss
zusammenhalten", predigt Brunier, "zusammenhalten in der Form, im
selben Rhythmus, alle im Gleichschritt, gemächlich. Kommt nicht
in Frage, dass jemand schneller läuft als die anderen, um die
Kollegen als Drückeberger hinzustellen." Nicht vorpreschen ist
das Gebot des Karrierismus. Nur im richtigen Augenblick so weit
aus dem Sumpf des Mittelmaßes herausragen, dass man seine Chance
nicht übersieht. Und nicht übersehen wird. Das ist mit böser
Ironie gezeichnet und trifft die Mentalität der Blender und
Karrieristen höchst präzise.
Doch ist letztlich der Aufsteiger im lächerlichen, weißen
Dandyanzug nicht die zentrale Figur. Es ist Barbour, der braun
gewandete Buchhalter, dessen tölpelhafte Unbeholfenheit in
alltäglichen Dingen in eigentümlichem Gegensatz zu seinem
analytisch scharfen Verstand steht. Er ist der Trottel der Etage,
ein nützlicher Idiot, der Ordner schleppt, sich fürsorglich um
die Topfpflanzen kümmert (die er mit Mineralwasser aus dem
Getränkeautomaten gießt) und versunken vor dem laufenden
Wasserhahn die Wassermoleküle beobachten will. Noch nie hat er
eine Frau berührt, noch nie getanzt. Nur einmal stand er an der
Tanzfläche einer Diskothek, wusste nur nicht, ob er zuerst das
rechte oder das linke Bein heben sollte.
Das gesteht er Hélène, die dem sensiblen jungen Mann ihr
Herz ausgeschüttet hat. Sie ist schwanger, und das in einem
Unternehmen, wo dies verpönt ist. Ihr droht der Verlust des
Arbeitsplatzes. Sie wäre nicht die Erste. Zwischen der
gedemütigten Hélène und dem seltsamen Barbour entspinnt sich ein
Gespräch, entwickelt sich Sympathie, und schließlich bringt
Hélène Barbour die ersten Tanzschritte bei. Das Stück treibt auf
das Ausgangsmotiv zu: Dancing. Als der degradierte Simon
erschöpft die Toilette betritt, trifft er auf Barbour, der sich
wie in Trance im Walzertakt im Kreise dreht. Als der innehält,
befiehlt ihm Simon weiterzumachen.
"Nein, machen Sie weiter, Barbour ..."
Barbour muss tanzen und dreht sich wie ein Tanzbär im Kreise. Das ist mehr als eine Demonstration von Macht. In diesem Bild verbirgt sich auch eine Parabel über die Arbeit. Denn die Arbeit ist für Barbour die Erfüllung, in seiner Freizeit ist nur Langeweile; und als ihn Bekannte in die Diskothek schleppen, steht er sich nur selbst im Weg. Die Arbeit ist der Ort, wo der eigenartige Barbour ganz bei sich ist. Hier hat er seine Topfpflanzen, seine Ordner. Und hier, nicht in der Freizeit, findet er letztlich auch einen Menschen, der ihn versteht, der ihn an die Hand nimmt und ihn zum Tanzen bringt. Doch beinahe im selben Moment, als er sich noch im Takt der Musik wiegt, wird sein Traum zum Zwang. Er muss tanzen. Arbeit als Paradoxon: Sie bietet das Potenzial zur Verwirklichung des Selbst, und doch muss sie getan werden. Sie ist Last und Lust. Man kann nicht mit ihr und nicht ohne sie leben. Sie ist die unsichtbare Kette am Hals nicht nur des Tanzbären Barbour.
"... ich bin fertig."
Der Schluss ist offen, verdammt
offen. Zwischen Rebellion, Verweigerung und Erschöpfung ist
semantisch kaum ein Unterschied. "Ich bin fertig", sagt Barbour,
und hört auf zu tanzen. Simon, dessen Macht gebrochen ist,
bittet, fleht, doch weiterzutanzen - und schließlich ist er es,
der stirbt. Vertauschte Rollen. Doch Brunier hat den nonkonformen
Barbour längst ins Home-Office abgeschoben -
Aufgabenbeschreibung: ein leeres Blatt Papier.
Einen Schlussvorhang gab es nicht, aber auch so gilt: alle
Fragen offen. Darf man in der Arbeit tanzen? Arbeit, was ist
Arbeit? Und kann man Wassermoleküle beobachten? Tanzen
sie? Tanzen
Sie?
DANCING
Stück von Natacha de Pontcharra,
Aufführung am Theater Ingolstadt,
Regie: Silvia Armbruster,
Info unter
www.theater.ingolstadt.de,
Aufführungsrechte: theater verlag desch, München
Termine:
3. 4. 2004 / 19:30 Uhr
4. 4. 2004 / 19:00 Uhr
10. 4. 2004 / 19:30 Uhr
17. 4. 2004 / 19:30 Uhr
18. 4. 2004 / 19:00 Uhr
24. 4. 2004 / 19:30 Uhr
25. 4. 2004 / 19:00 Uhr
26. 4. 2004 / 19:30 Uhr
17. 5. 2004 / 19:30 Uhr
18. 5. 2004 / 19:30 Uhr
25. 5. 2004 / 19:30 Uhr
26. 5. 2004 / 19:30 Uhr
28. 5. 2004 / 19:30 Uhr
Winfried Kretschmer, Journalist und Autor, arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.
© changeX [31.03.2004] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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