Patient K
Ein Begriff, den man jahrzehntelang gemieden hat, ist zurück. Kapitalismus. Als Bezeichnung für einen äußerst bedenklichen Zustand, in den wir uns im blinden Glauben an eine rein materielle Welt, planbares Glück und klar definierbare Ziele hineinmanövriert haben. agora42 wählt einen narrativen Zugang. Die aktuelle Ausgabe erzählt vom Kapitalismus als Patienten.
Kapitalismus - was ist das überhaupt? Ein System? Eine Überzeugung? Ein Trugbild? Es ist jedenfalls ein Begriff, den man jahrzehntelang gemieden hat und der nun wieder salonfähig geworden ist. Er kommt zurück auf die Bühne einer Welt, die nicht mehr so funktioniert, wie sie es einmal tat; er kommt zurück in eine Zeit, in der man kopfschüttelnd auf die Vergangenheit zurückblickt, die mittlerweile als Entstehungsgeschichte einer Krise wahrgenommen wird. Wer vom Kapitalismus spricht, meint einen äußerst bedenklichen Zustand, in den wir uns im blinden Glauben an eine rein materielle Welt, planbares Glück und klar definierbare Ziele hineinmanövriert haben. Das Gefühl, dass es so nicht weitergeht, ist es, das Rechte mit Linken, Extremisten mit Depressiven, Aktivisten mit Fatalisten verbindet. Aber was ist mit diesem so gemeint?
Der Kapitalismus ist kein klar umgrenzter Gegenstand, den man einfach betrachten kann, kein Parteiprogramm, keine Finanzformel, kein Geldstück. Er ist abstrakt, ungreifbar, subtil, unterbewusst und doch überall präsent. Man fühlt ihn mehr, als dass man ihn sieht. Und jeder empfindet ihn ein Stück weit anders. Nur: Dass er Probleme bereitet, darin sind sich immer mehr Menschen einig. Die Kraft zur notwendigen Veränderung - und wir sprechen hier von einer tief greifenden Veränderung - kann nur aufgebracht werden, wenn der Großteil der Bevölkerung die Probleme nicht nur definieren kann, sondern auch den Willen zur Veränderung spürt. Aber wo ist der geblieben?
Zwei Herangehensweisen
Es gibt zwei Herangehensweisen, mit denen der Mensch versucht, die Dinge um sich herum zu verstehen: die rational-logische und die einfühlend-emotionale. Heutzutage wird das rational-logische Verstehen überstrapaziert. Es wird immer noch versucht, Kapitalismus als eine Art Mechanik zu begreifen. Subjektivität gilt als unsouverän, die Feststellung objektiver Gegebenheiten und die Formulierung von abstrakten Gesetzmäßigkeiten hingegen als brillant. Zeitungen, Magazine und wissenschaftliche Studien verketten Argumente und führen den Leser entlang roter Fäden zu widerspruchsfrei gültigen Schlüssen. Solcherlei Schlüsse gibt es viele, nur: Leidenschaftslos beziehungsweise sachlich, wie sie sind, helfen sie rein gar nichts. Diskutieren wird zum Selbstzweck, der der Veränderung im Weg steht.
An diesem Punkt wird es Zeit für Gefühle, oder, wem das zu kitschig klingt, für das einfühlend-emotionale Verstehen. Es wird Zeit, endlich wieder den eigenen Antrieb zu aktivieren. Und es wird Zeit für eine vernachlässigte Form der Sprache, mittels derer die Empfindungen ausgedrückt werden können: die Erzählung.
Die aktuelle Ausgabe der agora42 erzählt von einem Patienten, der uns alle bewegt: Herrn K. Er landet - erschöpft und perspektivlos - auf der Couch und spricht über sein Leben. Seine Probleme sind die Probleme der endkapitalistischen Welt, seine Krisen die Krisen der heutigen Zeit. In ihm verkörpert sich die allerorten gestellte Frage nach dem "Was nun?", der Hilferuf der orientierungslosen Gesellschaft. Wir begegnen uns selbst.
Der Patient K auf der Couch
Herrn K gegenüber steht der Therapeut, der tiefe Einblicke in den Zustand des Patienten erhält. Vor ihm liegen unzählige Belege des Scheiterns. Er erkennt den Wahnsinn und spürt den Drang nach Veränderung - und bleibt doch hilflos. Eine Ohnmacht, die wir ebenfalls alltäglich spüren. Der Kapitalismus ist am Ende. Und wir sind mit unserem Latein am Ende.
Der Analyse folgt die Therapie - üblicherweise. Den Kapitalismus zu therapieren, würde aber bedeuten, hier und dort etwas auszubessern, abzustützen und auszugleichen, ohne den Kern des Problems je zu erreichen. Kurzum: Es geht nicht mehr darum, einen besseren, menschlicheren oder gerechteren Kapitalismus zu gestalten. Er wird auch nicht schöner, wenn man ihm Blumen ansteckt. Aus diesem Grund wurde dem Patienten im letzten Teil des Hefts keine Therapie verordnet, sondern seine Metamorphose eingeleitet. Dieser wundersame und doch in der Natur häufig anzutreffende Vorgang zeigt, dass der Übergang einer Gestalt in eine gänzlich andere möglich ist. Der genaue Moment der Wandlung bleibt dabei oft verborgen - und einmal vollzogen, entstehen unerwartete Gebilde, die nicht erkennen lassen, was ihnen einst vorausging. Weckt im Analyse-Teil dieser Ausgabe Patient K möglicherweise Assoziationen an Franz Kafka, so geht es im Metamorphose-Teil auch um die Verwandlung der kapitalistischen Käfer, die wir sind, in so etwas wie … tja … Menschen. Freie Menschen.
Tanja Will ist stellvertretende Chefredakteurin der agora42.
changeX 03.02.2017. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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